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11 Seiten

Mortal Sin Sommer 2005- Big Girls Don´t Lie

Romane/Serien · Spannendes
© JoHo24
Die Wahrheit ist leicht zu verstehen, wenn sie erst entdeckt ist. Das Schwierige ist nur, sie zu finden.
- Galileo


Es war schwül und drückend. Die Sonne war unerbittlich und machte Saint Berkaine zur Hölle auf Erden. Eine Mücke setzte sich auf ihre feucht-klebrige Haut und stach gierig zu. Lillian Anna McDermott, die von allen nur Lilly genannt wurde, nahm das penetrante Jucken, das sich in ihrem linken Unterarm ausbreitete, überhaupt nicht wahr. Sie war zu tief in Gedanken versunken, als dass so etwas nichtiges, wie ein Mückenstich, sie hätte ablenken können.
Hibbelig und Nagel kauend saß sie auf einer schmucken, weiß lackierten Veranda. Es war ihre Veranda. Die Veranda eines Hauses, von dessen Existenz sie bis dato keine Ahnung gehabt hatte. Ungeduld und Anspannung, aber auch unterschwellige Wut waren bereits seit dem Aufstehen ihre hartnäckigen Begleiter. Sie hatte nichts essen können, was ihr am Frühstückstisch besorgte Blicke und bohrende Fragen ihrer Eltern beschert hatte. Sie war ausgewichen und hatte irgendeine Magenverstimmung vorgeschoben. Natürlich hatte ihre Mutter sie gleich zum Arzt schicken wollen, doch sie hatte sich durchgesetzt; sie war stark geblieben und hatte gesagt, dass dies nicht nötig sei.
Lilly belog ihre Eltern zwar nicht zum ersten Mal, aber noch nie hatte sie sich dabei so mies gefühlt. Es lag daran, dass sie selbst nicht wusste, was eigentlich los war; was mit ihr los war.
Die heikle Situation, in die sie brutal und unvorhergesehen gestoßen worden war, überförderte die 16-Jährige Blondine. Ihre Beziehung zu ihrer großen Schwester Emilia hatte sich seit dem Gespräch mit ihrer Kommilitonin bereits verändert, dabei wusste sie bisher noch nicht einmal, was hinter der ganzen Sache steckte.
Lilly hatte in einem Cafè auf Emilia gewartet. Sie hatte sich gefreut ihre ständig beschäftigte und fleißige Schwester nach langer Zeit wiederzusehen, bis völlig überraschend diese Ophelia aufgetaucht war. Eine junge Frau mit einer unvergleichlichen Schönheit und einem beneidenswerten Körper. Sie hatte der Blondine erklärt, dass Emilia sich etwas verspäten würde und sich zu ihr gesetzt. Lilly hatte sie sympathisch gefunden und ohne sich groß Gedanken zu machen fröhlich drauflos geredet. Die beiden hatten sich besonders über Emilia und Lillys Beziehung unterhalten, welche Ophelia schnell in eine negative Richtung gedreht hatte, als sie ihr offenbarte, dass sie eine Kollegin von ihr sei.
Diese Aussage hatte das Vertrauen zu ihrer Schwester in den Grundmauern erschüttern. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass Emilia sie belog. Niemals würde sie sie hintergehen oder ihr etwas vormachen, da war sie sich sicher. Was wusste diese Ophelia denn schon? Sie kannte Emilia kaum und nahm sich heraus, ihr erschütternde Dinge über sie zu erzählen. Sie hatte gesagt, dass sie bereits seit vier Jahren neben dem Studium arbeitete. Das wäre ja nicht schlimm, aber nach ihr investierte ihre Schwester darin mehr Zeit, als in ihre Ausbildung.
Dieses Verhalten sah Emilia nicht ähnlich; es klang nicht nach ihrer klugen, vernünftigen Schwester, die stets alles im Griff hatte.
Sie war eine gewissenhafte, pflichtbewusste junge Frau, die ihre Ziele im Blick hatte und sich von nichts ablenken ließ. Kein Job der Welt, egal, wie besonders und großartig er war (das waren Ophelias Worte gewesen), würde sie dazu bringen ihr Leben zu verändern und alles andere zu vergessen. Niemals würde Emilia das zulassen. Die Brünette lag falsch, mit allem, was sie von sich gegeben hatte. Besonders die Behauptung, dass ihre Schwester verrückt sei, machte Lilly McDermott rasend. Wie unverschämt und heimtückisch musste man sein, um von sich selbst auf andere zu schließen. Sie war es, die nicht ganz dicht war. Das hatte sie im Laufe der Zeit festgestellt. Denn je länger sie sich mit ihr unterhalten hatte, desto mehr hatte sich ihr der Verdacht aufgedrängt, dass sie nicht die war, die sie vorgab zu sein; dass mit ihr etwas nicht stimmte.
Aus diesem Grund weigerte sie sich auf Ophelia zu hören. Sie wollte ihren Worten keinen Glauben schenken, die ihr Herz und Denken vergifteten. Sie würde die Wahrheit von ihrer Schwester einfordern. Sie war entschlossen herauszufinden, was Emilia ihr verschwieg. Sie wollte wissen, wie viele Lügen sie ihren Eltern und ihr die vergangenen Wochen oder auch Monate gewissenlos aufgetischt hatte und vor allem, warum. Für sie war klar, dass etwas passiert sein musste, was ihr Verhalten erklären würde. Dies hoffe sie zumindest, denn sie wollte nicht glauben; nicht wahrhaben, dass sie ihre eigene Schwester nicht kannte. Dass Emilia zu Hinterhältigkeiten und Geheimnissen fähig war. Darum saß sie seit über einer halben Stunde in der Hitze und wartete auf sie, so wie sie es ihr gesagt hatte.
Während ihres Gesprächs mit Ophelia hatte Emilia sie plötzlich angerufen und die beiden somit unterbrochen. Lilly war rangegangen, was der Brünetten nicht gefallen hatte. Ihre verbitterte, kühle Miene hatte Bände gesprochen. Doch sie hatte sich auf das Telefonat konzentriert und nicht auf ihr Gegenüber.
Emilias Stimme hatte von Anfang an vor Hektik und Aufregung gezittert, sodass Lilly sich Sorgen gemacht hatte. Was war los? War etwas passiert? War sie gar nicht in einer Besprechung mit einem Dozenten? Hatte Ophelia sie belogen?
Flüchtig waren ihre blauen Augen zu der Brünetten geschweift, welche stocksteif und frustriert auf ihrem Stuhl gehockt hatte. Lillys Misstrauen und Zweifel waren schlagartig angestiegen und hatten sie in ein Tief gerissen, das sie sich niemals hatte vorstellen können.
Wie hatte es Ophelia, eine ihr bis dahin unbekannte Frau, geschafft solch ein Chaos in ihr auslösen?
Ihr Gedankengang war abgebrochen, als Emilia ihr ohne irgendwelche Erklärungen fast schon panisch diese Adresse durchgegeben und sie gebeten hatte, dort sofort hinzukommen und auf sie zu warten. Das hatte sie auch getan und war zu diesem kleinen Häuschen gegangen, an dessen Briefkasten sie sogleich den Nachnamen McDermott entdeckt hatte. In diesem Augenblick war ein Teil ihrer heilen Welt zusammengebrochen. Ihr Name an diesem Kasten war der Auslöser für den ersten Knacks in ihrer engen Schwesternbeziehung. Es war ein unübersehbares Zeichen für Emilias Lügen, wie eine grelle Reklametafel, die vor ihren Augen nervtötend flackerte.
Sie hatte gegrübelt, ob es die richtige Entscheidung gewesen war die Unterhaltung mit Ophelia nach dem Telefonat abrupt zu beenden und zu verschwinden. Sie war dazu bereit gewesen ihr knallhart die Wahrheit offenzulegen, ohne Umschweife; ohne Zurückhaltung. Was Emilia tun und ihr sagen würde, konnte sie dagegen nicht klar beantworten. Vielleicht würde sie versuchen ihre kleine Schwester mit billigen Ausreden abzuspeisen, um sie zu besänftigen und ihr Verhalten zu erklären. Wer weiß, wie viel Wahrheit in ihren Worten steckt, dachte sie zerknirscht. Natürlich war es für sie ein Schock, dass sich so schnell solch eine Meinung über Emilia in ihr gebildet hatte, aber nach allem, was sie heute erfahren hatte, konnte sie ihr nicht mehr blind vertrauen. Sie würde nicht mehr naiv sein und alles glauben, was über ihre Lippen kam…
„Hallo, Lilly“, drang die sanfte, klare Stimme ihrer Schwester, wie aufs Stichwort, an ihre Ohren. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, was ihr verdeutlichte, wie sehr sie unter Emilias Unehrlichkeit litt. Wie mechanisch wandte sie ihren Kopf nach rechts und sah sie eingerahmt im Licht der Nachmittagssonne.
Ihre Schwester trug ein weißes, Sommerkleid aus einem leichten Stoff, das vorne kurz und hinten lang war und ein florales Muster in verschiedenen Farben zeigte. Ihre Kleidung strahlte Fröhlichkeit und pure Lebensfreude aus, aber ihre Miene zeigte blanke Angst.
Lilly kniff immer wieder die Augen zusammen, wie ein Ritual, das ihr helfen sollte das alte Bild, was sie von ihr hatte, hervorzurufen, doch es tat sich nichts. Sie glaubte eine Fremde vor sich zu sehen und nicht ihre geliebte Schwester.
„Hier wohnst du also“, war ihre karge, abweisende Begrüßung, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Emilia wirkte wie versteinert, als sie ihren Blick erwiderte. Das Blau ihrer Augen war trüb, es hatte jeden Glanz verloren.
„Bitte lass uns reingehen und dort reden, Lilly. Nicht hier draußen.“ Die 16-Jährige würdigte ihren Vorschlag keiner Antwort, stattdessen stieg sie erbost auf die Veranda und wartete, bis sie sich in Bewegung setzte und die Haustür aufschloss. Emilias Körper stand unter ständiger Anspannung, während sie das Haus betrat und eine einladende Geste machte. Lilly hinderte jedoch etwas daran ihr zu folgen, als befände sich vor ihr eine Mauer. Eine meterhohe Mauer gebaut aus ihren Lügen.
„Alles okay, Lilly?“, fragte Emilia besorgt, die im Flur stehen geblieben war.
„Nein, es ist nichts okay“, blaffte sie ungehalten und stampfte an ihr vorbei ins nächstgelegene Zimmer. Es war ein gemütliches, hell eingerichtetes Wohnzimmer mit frischen, duftenden Blumen und vielen eingerahmten Familienfotos an den Wänden. Als sie ihre lächelnden Eltern und sich selbst neben Emilia sah, in Harmonie und völliger Eintracht, wurde ihr schlagartig speiübel. Aus den Augenwinkeln nahm sie ihre große Schwester wahr, die zögerlich ins Zimmer trat.
„Eine schöne Einrichtung, Em.“ Ihr Tonfall war spöttisch, ihr Gesicht zeigte nichts als eisige Kälte.
„Da…danke“, stammelte sie, bevor sie sich vorsichtig näherte und nach ihrer linken Hand griff, doch Lilly verschränkte eisern die Arme vor der Brust und drehte sich weg.
„Lass das.“ Ihre Schwester wich augenblicklich zurück, um sie nicht weiter zu bedrängen. Emilia strich sich die Haare hinter die Ohren und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihr Lillys Verhalten weh tat.
„Möchtest du vielleicht etwas trinken? Ich habe selbstgemachten Eistee da.“ Ihre Fürsorge und Höflichkeit ging ihr gehörig gegen den Strich, denn sie wusste nun, was für ein Mensch Emilia war. Und zwar war es die Art Mensch, die sie nicht sonderlich mochte.
„Hör auf so zu tun, als sei alles in Ordnung, Em. Als ich auf dich gewartet habe, kam Ophelia, deine Kommilitonin, und hat sich mit mir unterhalten. Dabei kam einiges ans Licht, was ich kaum glauben konnte“, kam sie direkt auf den Punkt, denn sie hatte genug vom Herumgerede.
Im ersten Moment blieb sie stumm, aber dann räusperte sie sich verhalten.
„Ehrlich gesagt weiß ich, dass sie mit dir geredet hat. Ich habe euch von Weitem in dem Cafè gesehen.“ Die Augen der 16-Jährigen weiteten sich entsetzt.
„Deswegen wolltest du, dass ich so schnell wie möglich hierher komme. Du hast mich von ihr weggelockt! Von dem Menschen, der bereit war mir die Wahrheit über dich zu erzählen.“
„Ich hatte keine andere Wahl, Lilly. Sie…sie ist…“
„Was? WAS?“
„Sie ist eine Lügnerin.“
„Da habt ihr ja was gemeinsam“, gab sie tonlos zurück.
„Ich weiß zwar nicht, was Ophelia dir erzählt hat, aber kein Wort davon ist wahr. Glaub mir bitte.“
„Aha, du warst also immer ehrlich zu mir, ja?“ Emilia gab wie selbstverständlich ein festes Kopfnicken von sich.
„Das heißt, dass du keinen Job neben deinem Studium hast, in den du mehr Zeit investiert, als du solltest“, schlussfolgerte sie zynisch und behielt dabei genaustens ihre Reaktion im Auge. Ihre Schwester wurde auf einmal leichenblass, ihre Unterlippe zitterte unkontrollierbar. Lilly hatte den Kern ihres Lügengebildes getroffen und nun wusste sie, dass es keinen Ausweg mehr gab.
„Wie kannst du hier stehen und mich weiterhin belügen, obwohl du schon mit dem Rücken zur Wand stehst? Denkst du ich bin zu blöd oder naiv, um zu checken, dass du hier die heuchlerische Lügnerin bist und nicht Ophelia?“, ereiferte sie sich mehr und mehr in Rage. Sie konnte sich überhaupt nicht beruhigen. Je länger sie ihrer Schwester gegenüberstand, desto zorniger und enttäuschter war sie, besonders über den Umstand, dass sie nicht bereit war endlich den Mund aufzumachen und für ihre Unehrlichkeit gerade zu stehen.
„Was hast du mir und unseren Eltern die letzten Monate verschwiegen? Rede jetzt endlich!“, forderte sie ihr Recht als Schwester ein und setzte sie unter gewaltigen Druck. Sie kam aus der Sache nicht mehr raus, daher gab sie nach und gebar ihr mit einer Handbewegung sich zu setzen. Nur widerwillig ließ sich Lilly auf die hellblaue Couch fallen, auf der auch Emilia Platz nahm. Ihre Schwester legte ihre Hände ineinander und knetete diese nervös.
„Nun, es ist viel passiert, was nicht einfach zu erklären ist“, druckste sie kleinlaut herum. Lilly ging das alles zu langsam, doch sie hielt sich zurück und beschloss Emilia weiter reden zu lassen.
„Das Studium ist leider nicht mehr so, wie ich es mir vorgestellt habe, Lilly. Es langweilt mich.“ Sie hoffte bei ihr auf Verständnis zu treffen, stieß jedoch auf Gegenwehr.
„Und nur, weil dir langweilig ist, lässt du das Studium schleifen und suchst dir einen Job?“, fragte sie mit quietschend hoher Stimme. „Kannst du mir mal sagen, was du dir dabei gedacht hast?“ Das Bild, das sich über Jahre über sie geformt hatte, zerbrach vor ihren Augen, als habe es nie existiert. Emilia war nicht mehr die eifrige junge Frau, zu der sie aufgesehen und die sie bewundert hatte. Sie war gezwungen ihre Meinung über sie zu überdenken und musste die Charakterzüge, die sie verachtete und bei ihr entdeckt hatte, zu ihrem neuen Bild hinzufügen. Es war ein Bild, das sie weder sehen, noch akzeptieren wollte.
„Ich habe nicht lange darüber nachgedacht, Em, das gebe ich zu“, sagte sie in ihre Gedanken hinein. „Verzweifelt habe ich nach einem Weg gesucht, der mich aus meinem stupiden Leben herausreißt und irgendwann…irgendwann bin ich auf ein Jobangebot gestoßen, das ich Hals über Kopf angenommen habe.“
„Stupides Leben?“, fiel Lilly aus allen Wolken. „Sprichst du hier nur über dein Studium oder auch über dein Leben mit mir und unseren Eltern? Haben wir dich auch gelangweilt? Hast du dich deshalb nur alle paar Wochen bei uns gemeldet?“ Hysterie übermannte sie und ließ sie mit hochroten Wangen von der Couch hochschnellen.
„Nein, Lilly, so ist das nicht“, versicherte sie ihr hektisch, sodass sich ihre Stimme beinahe überschlug. „Ihr seid meine Familie. Ich liebe und brauche euch. Mein Studium war es, das ich Frage gestellt habe. Aus diesem Grund habe ich mich zurückgezogen und versucht euch aus dem Weg zu gehen. Ich wollte nicht zugeben, dass es womöglich eine falsche Entscheidung gewesen war Geschichte zu studieren. Ich wollte Mom und Dad nicht enttäuschen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machen.“ In ihren Augen bildeten sich erste Tränen. Lilly presste ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schluckte hart.
„Du hättest mit ihnen reden können. Du hättest mit mir reden können, Em“, spürte sie nun auch bei sich die Tränen aufsteigen. Es waren Tränen des Unverständnisses und des Schmerzes.
„Ich dachte du würdest mir vertrauen“, warf sie ihr leise schluchzend vor. „Ich hätte dich nicht verurteilt oder wäre enttäuscht gewesen. Wir hätten gemeinsam eine Lösung finden können, doch du hast dich dazu entschieden zu lügen.“ Sich über die Augen wischend, setzte sie sich wieder neben sie.
„Und das Schlimmste daran ist, dass du weitergemacht hättest und ich dir alles geglaubt hätte, wenn Ophelia nicht gewesen wäre.“ Die Wut nahm erneut Überhand und ließ ihren Körper beben. Das Gespräch mit ihrer Schwester strengte sie emotional unglaublich an, aber sie musste stark bleiben, wenn sie noch mehr erfahren wollte.
„Ophelia hatte nicht das Recht sich einzumischen! Sie hat dich angesprochen und sich dreist in mein Privatleben gedrängt“, brach es auf einmal zornig aus Emilia raus, was Lilly erschreckte. „Dieser Frau kann man nicht vertrauen, das weiß ich jetzt. Ich werde nicht noch einmal denselben Fehler begehen.“ Sie sprach eher zu sich selbst, als zu ihr. „Dieses hinterhältige, verlogene Miststück. Wie konnte ich nur so naiv sein und glauben, dass sie meine Freundin ist.“ Fassungslos schüttelte sie den Kopf und schnaubte.
„Wer ist Ophelia?“, wollte Lilly es jetzt genau wissen, denn durch Emilias Reaktion bestätigte sich ihr Verdacht (den sie bereits während der Unterhaltung mit ihr gewonnen hatte), dass mit der bildschönen Brünetten etwas nicht stimmte und sie nicht die war, für die sie sich ausgegeben hatte. Ihre Schwester brauchte zwei Minuten, bis sie ihr antwortete.
„Sie ist eine Kollegin von mir, Lilly, keine Studentin.“
„Dann stimmt wohl auch nicht, dass du sie geschickt hast, um mir auszurichten, dass du später kommst“, kommentierte sie reserviert.
„Nein, dass hat sie nur als Vorwand benutzt, um dich anzusprechen und mir dir ins Gespräch zu kommen“, zischte sie verärgert über das berechnende Verhalten ihrer Kollegin.
„Was ist das für ein Job, den ihr macht?“ Das war die Frage, die Lilly unter den Nägeln brannte, seit Ophelia dieses Thema zur Sprache gebracht hatte. Es fühlte sich an, als beschäftige sie diese Frage bereits seit einer Ewigkeit, dabei waren bloß eineinhalb Stunden seit ihrem Treffen vergangen. Lilly suchte Emilias Blick, der sorgenvoll und ängstlich war. Sie konnte es regelrecht hinter ihrer Stirn rattern sehen, die sie in tiefe Falten gezogen hatte. Denkt sie sich gerade eine weitere Lüge aus? Sucht sie nach einer Erklärung, die mich zufrieden stellen und meine Nachfragen eindämmen soll?
„Ich kann es dir unmöglich sagen, Lil“, war das ernüchternde und unerwartete Resultat ihres Grübelns.
„Ist das dein scheiß Ernst?“, kreischte sie und verlor zunehmend die Kontrolle über ihr erhitztes Gemüt. Lilly McDermott fühlte sich hingehalten, verraten und für dumm verkauft. Trotz ihres intensiven, pausenlosen Drängens war Emilia nicht dazu bereit ihr alles zu sagen und diese Tatsache verstörte sie.
„Wieso kannst du es nicht? Wieso, wieso, WIESO?!“ Die Röte schoss ihr in die Wangen und brachte diese zum Glühen. „Was ist es, was du mir unbedingt verheimlichen willst, huh? Ist es was Illegales? Bist du kriminell?“, äußerte sie ihre Vermutung, die sie bereits bei dem Gespräch mit Ophelia gehabt hatte. Ihre Kollegin war ihr ebenfalls ausgewichen, charmant und lächelnd, aber am Ende blieb es dasselbe: Lilly wusste nicht, was für ein Job es war, dem Emilia ihre Zeit widmete und für den sie ihr Studium vernachlässigte.
„Wie kommt du denn auf die Idee?“ Es lag eine Spur Panik in ihrem Tonfall. Kam sie der Wahrheit etwa näher? Eine Wahrheit, die womöglich grauenhaft und schockierend war? Für einen Moment war sie sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich wissen wollte, welches Geheimnis Emilia in sich trug.
„Lil?“, brach sie brutal in ihre Gedanken hinein und zwang sie somit zu einer Entscheidung: sich zurücknehmen oder dran bleiben und nicht nachlassen. Lilly entschloss sich für die zweite Variante.
„Wie ich darauf komme? Ich meine abwegig ist der Gedanke ja schließlich nicht, oder?“ Die 16-Jährige stierte ihre große Schwester eindringlich an. „Wenn es nichts Kriminelles wäre, hättest du mir schon längst gesagt, welchen Job du machst. Außerdem verdient man nur in solchen Kreisen sehr schnell sehr viel Geld und kann sich ein Haus kaufen“, guckte sie sich in dem hübschen Wohnzimmer um, das ihr unter die Nase zu reiben schien, dass dessen Einrichtung nicht sauber verdient worden war.
„Mach mir also nichts vor, Em.“ Ihre Beweisführung war entwaffnend und nahm Emilia die Chance sich aus der unangenehmen Situation herauszuwinden und irgendwelche Ausflüchte zu finden. Ihre Schwester verkrampfte sich. Laut hörbar erhöhte sich die Frequenz ihrer Atmung, da sie wusste, dass sie in der Falle saß. Es gab kein Entkommen.
„Du hast recht“, kapitulierte sie daher und sackte förmlich in sich zusammen. Obwohl sie von ihr Ehrlichkeit eingefordert hatte, bereute sie dies nun. Ihre Bestätigung, dass sie tatsächlich kriminell war, zerbrach die jüngere McDermott Schwester. Ein gewaltiger Riss zog durch ihr Herz; alle glücklichen Erinnerungen mit Emilia zersplitterten wie ein morsches Stück Holz. Sie hatten keinen Wert mehr für sie, waren verfälscht und eine einzige Lüge.
„Ich habe eine falsche Entscheidung getroffen, Lil. Jeden Tag denke ich an den Tag zurück, an dem ich den schlimmsten Fehler meines Lebens begangen habe“, war ihre Stimme nur noch ein krächzendes, erbärmliches Geräusch, dessen Klang sie niemals vergessen würde.
„Aber manchmal läuft es ganz anders, als man es sich vorgestellt hat. Man erkennt, dass nicht immer alles nach Plan verläuft und man sich von Träumen verabschieden muss. Man muss aufwachen und sich der Realität stellen. Ist man erstmal an diesem Punkt angekommen, ist man auch bereit andere Wege einzuschlagen. Es sind Wege, die einen überraschen oder auch erschrecken. Und in dieser Zeit stirbt der unerschütterlicher Glaube daran, dass man irgendwann einfach zurückkehren kann, wo man begonnen hat.“ Emilia sprach viel und in Höchstgeschwindigkeit, als sei sie froh das alles endlich loszuwerden. Es war ein Schwall aus Worten, der auf sie niederprasselte wie ein heftiger, gnadenloser Hagelschauer.
„Vor dir nun zugeben zu müssen, dass ich auf Abwege geraten bin, ist mit Abstand das Grausamste, was ich jemals erlebt habe. Es ist unerträglich dein Misstrauen und deinen Zorn zu sehen und vor allem zu spüren.“ Zum Ende hin war sie immer leiser geworden. Lilly sah sich einer gebrochenen Frau gegenüber, die reumütig ihre Fehler eingestand. Ihre Schwester war schwach geworden; hatte ihre Stärke und sich selbst verloren. Doch damit konnte sie Lilly weder beeindrucken, noch beschwichtigen. Ihre wirre Erklärung war bloß ein weiterer Grund für ihre Enttäuschung weiter anzuwachsen.
„Du hast es verdient dich scheiße zu fühlen, Em. Du brauchst mir nicht vorzuheulen, wie sehr du deine Entscheidung bereust. Ich habe dich für klug und vernünftig gehalten. Du warst stets mein Vorbild, für unsere Eltern warst du die Vorzeigetochter und das hast du eingetauscht für was? Ein bisschen Nervenkitzel? Was ist es, das dich in die Illegalität zieht? Kannst du mir das bitte mal sagen?!“
„Ich weiß nicht, warum…“
„Hör auf zu lügen! Sag mir, was in deinem Kopf vorgeht!“
„Gar nichts, okay?“, brach es explosionsartig aus Emilia heraus. „Ich habe einmal in meinem Leben nicht über etwas nachgedacht, Lil. Ich hatte den Drang etwas zu verändern und auszubrechen aus meinen Strukturen, weil ich mir nicht mehr sicher war, ob ich tatsächlich das wollte, was ich tat. Vielleicht war es dieser Wunsch nach Freiheit, der mich dazu gebracht hat einen neuen Weg zu bestreiten.“ Jetzt waren es die Wangen ihrer Schwester, die dunkelrot anliefen. Sie demonstrierten ihre innere Aufgewühltheit, die Lillys Vorwürfe hervorgerufen hatten.
„Heute hasse ich mich für diese Leichtsinnigkeit. Heute würde ich alles anders machen, aber der Weg in mein altes Leben ist abgeschnitten. Ich kann nicht zurück. Das werde ich niemals können“, beendete sie frustriert ihre emotionsgeladene Rede, die der 16-Jährigen erneut Seiten und Gedanken von ihr offenbarte, die für sie völlig unbekannt waren. Sie fragte sich zunehmend, wie glücklich Emilia wirklich in ihrem stabilen, behüteten Leben gewesen war. Hatte sie sich schon immer unwohl und eingesperrt gefühlt? War ihr zuvorkommendes, empathisches Verhalten jahrelang Fassade gewesen? Wie ehrlich war ihre Liebe zu ihr? Lillian Anna McDermott stellte ihre gesamte Beziehung zu ihrer Schwester in Frage. Sie war überfragt. Tausend weitere Fragen schossen durch ihren Kopf, doch sie konnte sie weder fokussieren, noch brachte sie sie über ihre Lippen. Die Blondine war erschöpft und ausgelaugt. Diese Unterhaltung hatte sie Unmengen an Kraft gekostet. Sie spürte, wie Müdigkeit sie zu übermannen drohte.
„Verurteil mich nicht“, flüsterte Emilia heiser, was sie aus ihrem Dämmerzustand herausholte. „Hasse mich nicht.“ Lilly schmunzelte voller Bitterkeit.
„Verlang nicht von mir dich zu verstehen oder dir zu verzeihen.“ Aus ihrer Kehle kam ein monotones, gefühlloses Dröhnen. „Du hast nicht das Recht mich um etwas zu bitten. Ich bin diejenige, die etwas von dir einfordern darf und zwar will ich, dass du unseren Eltern sagst, was los ist. Sie müssen wissen, dass du…“
„Nein, Lil. Lass sie aus der Sache raus“, schnitt sie ihr brutal das Wort ab. „Mom und Dad…sie werden das nicht verstehen.“
„Nicht nur Mom und Dad, Em“, machte sie ihr noch einmal mit Nachdruck deutlich, obwohl sie mittlerweile wohl begriffen haben musste, dass auch ihre kleine Schwester keinerlei Verständnis für ihren Lebenswandel zeigte.
„Du spinnst dein Lügengebilde also weiter, ohne Rücksicht auf Verluste.“ Angewidert von solcher Abgebrühtheit und grenzenlosem Egoismus wandte sie sich von Emilia ab. Keine Sekunde länger konnte sie ihren Anblick ertragen. Keine Sekunde länger konnte sie sich in diesem Haus aufhalten. Wie von der Tarantel gestochen, schoss Lilly McDermott in die Höhe und verließ das Zimmer, ohne ihre Schwester noch eines Blickes zu würdigen.
Auf dem Weg hinaus kam sie im Flur an weiteren zahllosen Familienfotos vorbei. Es war eine Galerie der scheinbaren Perfektion. Doch wenn sie genauer hinsah, dann verspotteten sie die lächelnden Gesichter; sie amüsierten sich köstlich über ihre Naivität und Gutgläubigkeit. Wie elektrisiert preschte sie unter den Augen ihrer Eltern aus dem Haus. Sogleich fühlte sie sich befreit und konnte wieder klar denken, trotz der hohen Temperaturen.
Lilly nahm die Beine in die Hand und war froh, als das Haus ihrer Schwester aus ihrem Blickfeld verschwand. Es war der Augenblick, in dem sie erkannte, dass sie es mit ihrer überstürzten Flucht verhindert hatte Genaueres über Emilias kriminelle Tätigkeiten zu erfahren. Aber ehrlich gesagt hatte sie daran kein Interesse mehr. Sie war beinahe froh, dass sie nicht die ganze Wahrheit kannte, denn was sie heute alles gehört hatte, reichte für ein ganzes Leben.
 
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