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4 Seiten

Es geschah im 15. Stock

Spannendes · Kurzgeschichten
Mit einem kaum hörbaren Surren glitten die Fahrstuhltüren auf und gaben den Blick in sein verspiegeltes Inneres frei. Ein älteres Ehepaar stand darin und links hinter ihnen ein ziemlich übergewichtiger Mann in dunklem Mantel. Jennifer stieg ein, der Knopf fürs Erdgeschoss war schon gedrückt und so lehnte sie sich an einen der verchromten Haltegriffe. Die Türen schwangen zu und mit einem kurzen Ruck setzte sich die Kabine in Bewegung.
Jennifer hatte es nicht eilig, wollte sich mit einer Freundin zum Shoppen treffen. Ein neues Outfit für die Präsentation musste her, doch wenn sie heute nichts fand, würde sie eben nach dem Wochenende noch einmal losgehen. Der Dicke im Mantel hingegen wirkte ziemlich fahrig. Er verlagerte sein Gewicht immer wieder von einem Bein aufs andere, sein Blick zuckte nervös hin und her und auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Ganz anders die beiden Alten, sie blickten stoisch vor sich auf den Boden und rührten sich kaum.
Die Anzeige über der Tür zeigte die Stockwerke an, eine Zahl, die kontinuierlich kleiner wurde. Dann in der 21. Etage ruckte es plötzlich wieder, der Aufzug hielt an, die Türen schwangen auf. Zwei Jugendliche standen davor, er mit einem Skateboard in der Hand, sie mit einer pinken Basecap auf dem Kopf, beide in inniger Umarmung. Als sie sich auch nach sich in dieser Situation ewig dehnenden Augenblicken nicht rührten, polterte der Dicke plötzlich los: „Wollt ihr jetzt mit oder was?“ Seine Stimme klang gereizt und hatte einen seltsamen Unterton, dachte Jennifer.
Als hätten sie ihn nicht gehört, lösten die beiden Jugendlichen sich nur langsam aus ihrer Umarmung, doch als die Türen sich schon wieder schließen wollten, stellte der Junge seinen Fuß vor die Lichtschranke. Er gab seiner Freundin noch einen Kuss, dann stieg er ein, verfolgt von ihren schmachtenden Blicken. „Chill mal, ey“, raunte er als die Türen sich geschlossen hatten und der Aufzug seinen Weg nach unten fortsetzte.
Die Alten blickten immer noch ungerührt vor sich hin. Nur sah Jennifer jetzt, wie sie langsam und fast unmerklich seine Hand ergriff. Vielleicht erinnerte sich sich daran, wie sie früher mal waren. Die Vorstellung brachte Jennifer zum Lächeln. Allerdings fiel ihr jetzt auch der leicht säuerliche Geruch von Schweiß aus, den der Dicke verströmte. Die Schweißperlen auf seiner Stirn waren mehr geworden, er schien sich absolut unwohl zu fühlen. Möglicherweise Klaustrophobie, dachte sie und hoffte, dass der Fahrstuhl bald unten ankam. Der Junge hatte sich auf sein Skateboard gesetzt und wischte auf seinem Smartphone herum, vermutlich, weil er seiner Freundin texten musste, wie sehr er sie schon jetzt vermisste.
20... 19... 18... Die Zeit schien hier drin äußerst langsam zu vergehen. Dann, im 15. Stockwerk, gab es plötzlich einen Ruck. Heftiger als die vorherigen. Auch öffneten sich die Türen nicht. Stattdessen flackerte das Licht kurz, dann Stille. Da Jennifer der Schalttafel am nächsten stand, drückte sie zunächst den Knopf zum Türöffnen, danach einige andere. Nichts rührte sich. „Boah Scheiße, was ist denn jetzt los?“, kam es von dem Jungen.
„Was...“, kam es nun auch von dem Dicken, „Sind wir etwa steckengeblieben?“ Seine Stimme klang jetzt brüchig mit einem kaum zu unterdrückenden panischen Unterton. „Ach, es geht bestimmt gleich weiter“, meldete sich daraufhin der Alte zu Wort. Der Blick seiner Frau traf zum ersten Mal den Jennifers, beide nickten einander zu, dann bekräftigten sie die beruhigenden Worte des Mannes.
Allerdings hatte das bei dem Dicken wenig Wirkung. Er trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen, drückte nun selbst auf den Knöpfen der Schalttafel herum, zuerst sachte, dann mit immer mehr Nachdruck. Eindeutig fühlte er sich in engen, geschlossenen Räumen unwohl, sagte sich Jennifer und überlegte, wie sie ihn besänftigen konnte. „Es muss doch auch einen Alarmknopf geben, sagte sie. „Ja, hier“, bellte der Dicke zurück und hämmerte auf der Taste mit dem entsprechenden Symbol herum. „Tut sich aber nichts“, rief er, „Da passiert gar nichts!“
Seine Bewegungen wurden immer fahriger und vor allem aggressiver, woraufhin Jennifer unterbewusst einen Schritt zurück machte und ihre Handtasche umklammerte. „Bleiben Sie doch ruhig“, schaltete sich jetzt die Alte ein, wollte ihm wohl eine Hand auf die Schulter legen, verharrte dann aber mitten in der Bewegung. Auch der Junge war jetzt aufgestanden, stopfte sein Smartphone in die Hosentasche und baute sich dann vor dem Dicken auf. „Ey, Alter, bist du irre oder was?“, pöbelte er jetzt, „Komm mal wieder runter und chill dein Leben!“
Natürlich machte das den Mann nur noch aggressiver, seine Augen verengten sich zu Schlitzen und er funkelte den Jugendlichen böse an. „Halt du dich da raus, du kleiner Wichser, sonst...“ Er beendete den Satz nicht, sondern schnappte nach Luft, die ihm offenbar knapp geworden war. „Sonst was?“, provozierte der Junge weiter und baute sich frech vor dem Mann auf, der gut einen Kopf größer und mehr als doppelt so breit war wie er.
Bevor Jennifer eingreifen oder auch nur etwas sagen konnte, bückte sich der Dicke in einer Geschwindigkeit, die sie ihm nicht zugetraut hatte, griff nach dem am Boden liegenden Skateboard und donnerte es voller Wut gegen einen der Spiegel, der sofort zerbarst und in kleinen Spittern durch das Innere der Kabine regnete. Die alte Frau kreischte auf, der Junge zuckte zusammen und stolperte rückwärts und Jennifer hielt sich schützend die Arme vors Gesicht.
„Du bist ja wirklich irre, Fettsack“, schrie nun der Junge, ebenfalls mit unüberhörbarer Panik in der Stimme. Das jedoch machte den Dicken noch rasender und erholte erneut und mit einigem Schwung aus. Dabei traf er den Alten hinter sich, der taumelte, stürzte und dabei hörbar mit dem Kopf auf einen der Haltegriffe knallte. Er sackte kraftlos zu Boden, Blut lief über seine Stirn.
Seine Frau kniete sich neben ihn, rüttelte ihn, doch er rührte sich nicht. Ein langes, qualvolles Stöhnen entrang sich ihrer Kehle und für einen kurzen Augenblick schien die Zeit stillzustehen und ihnen allen die Luft zum atmen zu nehmen. Jennifers Blick traf den des Dicken, dessen Augen sich unnormal weiteten und dessen Pupillen unstet flackerten. Auch er gab ein Röcheln von sich, das sie nicht ganz deuten konnte, das ihr aber Angst machte.
„Du bist ja vollkommen durchgeknallt“, kam es jetzt von dem Jungen. „Halt die Klappe“, zischte Jennifer ihm zu, den Dicken dabei nicht aus den Augen lassend. Der sah sich jetzt hektisch um, schlug mit der Faust gegen einen weiteren Spiegel, auf dem sich sofort ein Sprung zeigte, dann schrie er auf und bückte sich wieder nach dem Skateboard. In wilder Raserei schlug er zunächst auf die Aufzugwände ein, dann gezielt auf die Alte, die neben ihrem leblosen Mann kauerte und mit tränennassen Augen zu ihm aufsah.
Er traf sie mit der metallenen Achse, ihr Kopf blutete, er holte erneut aus, traf sie wieder, diesmal so hart, dass das Board zerbrach und eine Hälfte neben den beiden reglosen Alten auf den Boden fiel. Der Dicke war nicht mehr Herr seiner Sinne, seine Angststörung hatte ihn offenbar völlig aus der Bahn geworfen. „Das wollte ich nicht“, schrie er immer wieder, „ich kann nichts dafür!“
Jennifer sah, wie der Junge eine Hand in seine Hosentasche quetschte und sein Smartphone herausfummelte. Er muss Hilfe rufen, schoss es Jennifer durch den Kopf, jemand muss kommen, bevor es zu spät ist. Doch auch der Dicke bemerkte, was der Junge tat und herrschte ihn an: „Was tust du da? Lass die Finger vom Telefon!“ Seine Stimme war jetzt schrill, überschlug sich. Der Junge drückte sich soweit es ging an die Kabinenwand, tippte aber weiter auf dem Phone herum.
In einem Akt der Verzweiflung griff der Dicke nun das zerborstene Skateboard mit beiden Händen und rammte es mit der Bruchkante gegen den Hals den Jungen. Der gab ein ersticktes Röcheln von sich, dann glitt ihm das Smartphone aus der Hand.
Unterdessen hatte Jennifer eine der Spiegelscherben vom Boden aufgehoben. Ihre Hände zitterten, ihre Knie fühlten sich weich an, doch sie hatte Todesangst und wusste sich nicht anders zu helfen. Mit einer entschlossenen, schnellen Bewegung rammte sie dem Dicken die Scherbe in den Bauch. Der wurde schlagartig ruhig, sah an sich herunter, sah zuerst die Wunde und dann Jennifer an. „Ich wollte das nicht“, stammelte er tonlos, „ich kann nichts dafür.“ Dann sackte er in sich zusammen.
Am ganzen Körper zitternd ließ sich auch Jennifer auf den Boden sinken. Tränen strömten ihr übers Gesicht, ließen sie alles um sich herum nur noch verschwommen wahrnehmen. Mit letzter Kraft tastete sie nach dem Smartphone und wählte den Notruf. Als sich eine Stimme am anderen Ende meldete, hatte sie Mühe, überhaupt einen Ton herauszubringen. „Ich wollte das nicht“, flüsterte sie schließlich kraftlos, „ich kann nichts dafür...“


Diese Geschichte (und etliche mehr) könnt ihr auch auf Youtube hören: https://www.youtube.com/watch?v=cTHgrbL2lSQ
 
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Mal wieder sehr gut und spannend geschrieben!

Daniel Freedom (06.02.2019)

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