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6 Seiten

Plötzlicher Angriff - Die Unerleuchteten (Teil 2)

Romane/Serien · Spannendes
Der dunkle Himmel war wie von einem türkis- und pinkfarbenen Schleier überzogen, ein leichter Wind rauschte in den kahlen Kronen der Bäume und ein einsamer Wolf schlich durchs Unterholz. Tibor und Ruben beobachteten die Umgebung aus dem Schatten eines schon lange zerfallenen Gebäudes. Wenn sie heute keine Beute machten, würde es langsam kritisch werden. Nicht nur für sie, sondern für alle aus ihrem Clan.
Daher waren ihre Muskeln aufs Äußerste gespannt und ihre Augen registrierten jede noch so kleinste Bewegung in ihrem Blickfeld. Schon seit fast einer Stunde hockten sie hier im hohen Gras, doch außer Spinnen, Ratten und jetzt diesem Wolf hatten sie noch kein Tier entdeckt. Ein wenig verzweifelt legte Ruben seinen Bogen an und zielte auf den Wolf. Tibor drückte sanft seine Arme nach unten und schüttelte den Kopf. Abgesehen davon, dass Wolfsfleisch nahezu ungenießbar war, konnte es auch Krankheiten übertragen und das war im Moment wirklich das letzte, was sie im Clan brauchen konnten.
Die letzten Wochen hatten ihnen schwer zu schaffen gemacht. Zuerst war ihr Lager von einer Gruppe Erleuchteter überfallen und niedergebrannt worden und sie hatten losziehen und sich einen neuen Unterschlupf suchen müssen. Dabei hatten die Erleuchteten sie noch nicht einmal bekämpft, sie hatten offenbar einfach bloß Spaß daran gehabt, die alte Fabrikanlage zu zerstören und sie alle vor den Flammen fliehen zu sehen.
Zum Glück waren sie am Ende alle mit dem Schrecken davongekommen, doch tagelang irrten sie umher, auf der Suche nach einem neuen, sicheren Ort. Eine leerstehende Siedlung musste ihnen vorerst als neues Zuhause reichen, nur hatten sie durch das euer auch alle Vorräte und überlebenswichtige Dinge verloren, so dass sie von nun an in alle Richtungen ausströmen und alles neu hatten sammeln müssen.
Die meisten Überreste der Zivilisation waren in dieser Gegend längst geplündert und auch Nutzpflanzen und Beutetiere gab es viel zu wenige. So zogen sie immer weitere Kreise und gelangten immer mehr zu der Erkenntnis, dass sie sich früher oder später auf eine lange Reise ins Ungewisse gefasst machen mussten. Wenn Ruben und Tibor in dieser Nachts nichts erbeuteten und auch die anderen mit leeren Händen zurückkamen, dann konnte es schon morgen soweit sein, dass sie ihre Zelte abbrechen mussten.
„Was glaubst du, wie lange wir hier noch bleiben können?“, fragte Tibor flüsternd. Ruben sah ihn mit traurigem Blick an und zuckte mit den Schultern. So mutlos hatte er ihn selten erlebt. Seit er Ruben kannte, hatte er so vieles von ihm gelernt. Das Jagen und einige andere Tricks, um in dieser Welt überleben zu können, vor allem aber hatte er ihm beigebracht, niemals zu verzagen und in jeder noch so ausweglosen Situation das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Ruben war für ihn wie ein älterer Bruder geworden, der ihm gezeigt hatte, dass es im Leben immer irgendwie weiterging, solange man sich selbst nicht aufgab.
Doch inzwischen schien er das Licht selbst nicht mehr sehen zu können oder glaubte zumindest nicht mehr, dass er den Weg dorthin schaffen konnte. In den letzten Tagen, seit sie alle kaum noch genug Essbares fanden, um einigermaßen bei Kräften zu bleiben, war Ruben immer ruhiger geworden und die Stärke, die er früher ausgestrahlt hatte, war einer von Tag zu Tag weniger verborgenen Verzweiflung gewichen.
„Komm schon, wir können doch jetzt nicht aufgeben“, flüsterte Tibor erneut, „wir werden heute noch Beute machen und dann können wir in den nächsten Tagen an einen besseren Ort aufbrechen. Du selbst hast mir gesagt, dass es Orte gibt, an denen das Leben leichter und ungefährlicher ist.“ Ruben sah ihn zuerst lange und nachdenklich an. „Du meinst Prypjat?“, fragte er dann. „Ja, ich meine Prypjat. Du selbst hast mir davon erzählt. Du selbst hast mir gesagt, dass du eines Tages dorthin gehen willst. Weil es dort keine Erleuchteten gibt, aber Natur und Tiere im Überfluss und weil wir dort leben können wie im Paradies“, bestätigte Tibor.
Wieder dauerte es lange, bevor Ruben etwas sagte. „Natürlich“, kam es dann gedehnt von dem älteren Mann, „Aber Prypjat ist weit. Und die meisten im Clan sind geschwächt. Der Weg ist beschwerlich, es gibt jede Menge Gefahren und wenig Nahrung. Was glaubst du, wie viele von uns es schaffen könnten?“ Nun wurde auch Tibor still und dachte lange darüber nach.
Der Wind hatte inzwischen aufgefrischt und verfing sich in Baumkronen und Gräsern. Doch da war noch ein weiteres Geräusch. Eines, das sie beide nicht deuten konnten. Es mochte nur der Wind sein, ebenso gut konnten es aber auch leise Schritte sein, die sich ihnen näherten. Möglicherweise Rehe, Hirsche, Wildschweine, vielleicht aber auch Tiere, die sie nicht so einfach jagen konnten. Der Wolf jedenfalls hatte sich längst aus dem Staub gemacht und das war nicht gerade ein gutes Zeichen.
Ruben bedeutete Tibor, sich zu ducken und beide gingen hinter dem, was vom Gebäude noch übrig war, in Deckung. Mit angehaltenem Atem lauschten sie in die Dunkelheit. Tatsächlich waren es Schritte, die sich näherten, von der anderen Seite des verfallenen Gebäudes her und offenbar ohne jede Eile. Ein Tier? Ein Mensch? Ein Erleuchteter? Noch vermochten sie es nicht zu sagen. In jedem Fall aber waren es die Schritte nur eines Wesens und somit waren sie in der Überzahl.
Mit einer Handbewegung deutete Ruben an, er gehe rechts um die Mauern herum, während Tibor sich links herum nähern sollte. Als Jäger waren beide inzwischen recht gut aufeinander eingespielt, so dass sie die Zeichen des anderen auch ohne Worte verstanden. Tibor schlich also um die Ecke, bemüht, nicht zu langsam und nicht zu schnell zu sein und vor allem dabei kein Geräusch zu verursachen.
Am Ende tastete er sich an der Betonmauer entlang, da hier das Gras nicht so trocken war wie auf der freien Fläche. Da spähte er vorsichtig um die Ecke und konnte jetzt endlich sehen, wer sich ihnen da näherte. Es war tatsächlich ein Erleuchteter. Eine Frau. Ihre katzenartigen gelben Augen leuchteten in der Dunkelheit, ihr schlanker Körper glitt geradezu anmutig durch das trockene Gras, sie schien ein festes Ziel zu haben.
Was sollten sie jetzt tun? Wenn sie näher kam, würde sie Tibor und Ruben vermutlich entdecken. Und wenn sie sie sah, konnte es gefährlich werden. Selbst wenn sie allein ihnen nichts anhaben konnte, würde sie wissen, dass es hier noch mehr Unerleuchtete gab, sie würde es weitererzählen und bald würden ganze Horden Jagd auf Tibor, Ruben und den gesamten Clan machen.
Im Grunde hatten sie nur die Chance, die Frau auszuschalten, um sich selbst zu retten. Doch dagegen sträubte sich alles in Tibor. Er wollte nicht töten. Das einzige, was er wollte war, in Frieden zu leben und alle im Clan in Sicherheit zu wissen.
Bevor er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, stürmte Ruben von der anderen Seite plötzlich hervor und bedrohte die Erleuchtete mit seinem Bogen. Nun musste sich also auch Tibor aus seiner Deckung wagen und er baute sich bewaffnet mit seiner Axt vor der Frau auf. Die zeigte allerdings keinerlei Angst, sondern stieß einen lauten Pfiff aus, worauf blitzschnell zahlreiche andere Erleuchtete hinter den umstehenden Bäumen hervorsprangen und auf Ruben und Tibor zu stürmten, bevor diese überhaupt erkannten, dass sie in eine Falle getappt waren.
In panischer Angst rannten beide los, in verschiedene Richtungen, die Erleuchteten ihnen dicht auf den Fersen. Tibor wollte sich in Richtung Wald retten, hoffte, dass die Bäume ihm Schutz gewährten. Er rannte um sein Leben, wagte es nicht, sich umzudrehen, rannte immer weiter, das Brüllen seiner Verfolger dicht hinter ihm. Bloß nicht zurück zum Lager, sagte er sich, auf keine Fall durfte er diese Horde zu seinem Clan führen.
Während er noch überlegte, wie er entkommen könnte, übersah er einen Abhang, stolperte und stürzte Sekundenbruchteile später in die Tiefe. Er versuchte, irgendwo Halt zu finden, doch seine Hände griffen immer nur ins Leere. Dann spürte er noch einen heftigen Schlag auf den Kopf und um ihn herum wurde es schwarz.
Als er wieder zu sich kam, spürte er zuerst die starken Schmerzen und sah dann, dass es bereits dämmerte. Von den Erleuchteten keine Spur. Er war ihnen also entkommen oder vielmehr hatten sie von ihm abgelassen. Wenn er jedoch überleben wollte, musste er schnellstens zurück ins Lager, bevor die sonne aufging. Oder aber sich einen anderen Unterschlupf suchen, doch dann wäre er allen Gefahren des Tages ganz allein ausgesetzt.
Die Schmerzen ignorierend raffte er sich also auf und versuchte erst einmal, sich zu orientieren. Die Siedlung, in der sie ihren Unterschlupf hatten, musste im Süden liegen, sagte er sich. Genau dort musste er hin und konnte nur hoffen, dass die Erleuchteten nicht mehr in der Nähe waren. Zuerst kletterte er also den Abhang wieder hinauf, stellte dabei fest, dass er sich auch am Bein verletzt hatte, und zwang sich, die Signale, die sein geschundener Körper ihm sendete, erst einmal auszublenden.
Oben angekommen sah er sich um, der Himmel hatte schon eine bläuliche Farbe angenommen, natürlich immer noch von diesem türkis-pinkfarbenen Schleier überzogen und nicht so, wie er einen neuen Morgen noch aus Kindheitstagen kannte. Zum Glück war niemand zu sehen und so hetzte Tibor los. Immer geradeaus, in die Richtung, in der er seine Leute vermutete.
Was wohl mit Ruben passiert war? Die Frage schoss ihm jetzt in den Kopf und machte sich dort breit. Doch für Sorgen war jetzt keine Zeit. Ruben war ein erfahrener Jäger und auch Kämpfer, sagte er sich, wenn er es geschafft hatte, den Erleuchteten zu entkommen, würde das Ruben auch gelungen sein.
Dennoch nagte die Ungewissheit weiter an ihm, kostete ihn einen Teil jener Konzentration, die er eigentlich brauchte, um sich auf seinem Weg nicht noch einmal lebensbedrohlichen Gefahren auszusetzen. Dass die Sonne bald aufging und er nicht wusste, ob er es bis dahin ins Lager schaffte, machte es schon schlimm genug. Immer wieder sah er sich nach einem alternativen Versteck um, doch der Wald würde ihm keinen Schutz bieten, die wenigen Häuser, die er sah, hatten längst kein Dach mehr und er hatte auch nicht die Zeit, sich genauer umzusehen.
Ruben war bestimmt schon zurück und vielleicht suchten die anderen auch schon nach ihm, sagte er sich. Schließlich war es bisher immer Ruben, der ihm geholfen hatte und nicht umgekehrt. Er musste sich keine sorgen um den älteren Freund machen. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Seit Ruben vor einigen Jahren zum Clan gestoßen war, hatte er ihm so viel beigebracht, über das Leben und über das Überleben.
Ruben war wie ein großer Bruder für ihn geworden. Dem Clan hatte er geholfen, die alte Fabrikanlage zu einer wahren Festung auszubauen, hatte den Frauen und Männern neue Jagdtechniken beigebracht und ihnen neue Pflanzen gezeigt, die sie anbauen konnten. Immer wieder hatte Tibor ihn nach seiner Vergangenheit gefragt und Ruben hatte ihm erzählt, wie er in der Welt herumgekommen war und von Prypjat, jener Stadt, in der es angeblich keine Erleuchteten gab und in der Menschen sich sogar tagsüber ins Freie wagen konnten, wenn die Sonne nicht allzu stark schien.
Nur von seiner Zeit als Sklave der Erleuchteten hatte Ruben ihm nie etwas erzählt. Wann immer Tibor danach fragte, hatte der Ältere nur den Kopf geschüttelt und gesagt: „Tibor, es gibt Dinge, die möchtest du niemals erleben und auch niemals davon hören.“
Jetzt endlich kam Tibor wieder in ein Gebiet, das ihm bekannt vorkam. Er war nicht mehr weit entfernt von der Siedlung, doch am Horizont zeigte sich auch bereits ein heller Schimmer, der nichts Gutes verhieß. Auch wenn seine Lungen und seine Beine inzwischen schmerzten, rannte er weiter, denn er wusste, es wäre sein Tod, wenn er es nicht rechtzeitig schaffte.
Endlich sah er die Silhouetten der Häuser, beschleunigte noch einmal, jetzt, wo die Rettung greifbar war. Mit letzter Kraft bog er auf die kleine Straße ein und hatte sogleich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Laut rief er nach Ruben und den anderen, doch er erhielt keine Antwort. Außer Atem stürzte er in das Haus, in dem er und seine Eltern im Keller ihr Lage aufgeschlagen hatten.
Die Tür, die vor seinem Aufbruch noch intakt war, hing jetzt schief in den Angeln und auf dem Boden entdeckte er eine noch fast frische Blutlache. Eine schlimme Vorahnung ergriff von ihm Besitz. Noch einmal rief er nach den anderen und wieder blieb alles totenstill.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend rannte er hinunter in den Keller, wo sich ihm ein Bild der Verwüstung bot. Ihre Schlafstätten waren brutal auseinandergerissen, alles lag wild verstreut, auf dem Boden noch mehr Blut. Schnell hastete er wieder nach oben und in die anderen Häuser. Überall das Gleiche, Verwüstung, aber keine Menschenseele war zu sehen.
„Mutter... Vater... Ruben!“, brüllte er aus Leibeskräften und voller Verzweiflung, „ist noch irgendjemand hier?“ Seine Stimme hallte von den kahlen Wänden wieder, wie um ihn zu verhöhnen. Die Erleuchteten waren hier gewesen, wurde ihm schlagartig klar, Ruben musste ihnen den Weg hierher gezeigt haben. Nein, sicher war er nicht so dumm gewesen, hierher zu flüchten. Wahrscheinlicher war, dass die Erleuchteten ihn erwischt und gefoltert hatten, um zu erfahren, wo sich der Clan versteckt hielt.
Die Sonne brannte längst auf Tibors Haut, so dass er sich in einem der Keller verstecken und dort ausharren musste. Er konnte jetzt nichts mehr für sie tun. Er hätte ja nicht einmal gewusst, was er hätte tun sollen. Die Schmerzen in seinem Kopf und seinem Bein, die er die ganze Zeit über verdrängt hatte, kehrten jetzt mit voller Wucht zurück. Viel schlimmer war aber ein anderer Schmerz, eine böse Vorahnung, nein, beinahe schon eine düstere Gewissheit.
Tibor setzte sich kraftlos auf eine der Matratzen in einer Ecke, zog eine fleckige Decke um sich, dann ließ er seinen Tränen freien Lauf, heulte und schluchzte und wusste nun endgültig nicht mehr, wie es weitergehen sollte.
 
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Kommentare  

Ich rede kein Blech, wenn ich dir sage: Bisher ist dein Roman supergut. Weil nämlich sehr spanndend.

Irmgard Blech (16.06.2019)

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