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Mission Titanic - Kapitel 12

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 12 – Unter den Reichen und Schönen


R.M.S. Titanic, 21:13 Uhr

Ike stand vor dem Kleiderschrank, betrachtete sich im Spiegel und band eine Fliege um seinen Hemdkragen. Der maßgeschneiderte Smoking, welchen er in der Boutique des Schiffes in Auftrag gegeben hatte, stand ihm ausgezeichnet. Sein dunkles Haar war ordentlich zu einem Seitenscheitel gekämmt und glänzte vom Haarwasser. Trotzdem blickte er kritisch drein und fuhr mit seiner Hand nochmals vorsichtig über sein Haar. Als er mit seinem Aussehen endlich zufrieden war, blickte er seitlich, sodass er im Spiegel sein Bett sah. Auf dem Nachttisch stand sein eingerahmtes Hochzeitsfoto, und seine Pistole lag ebenfalls darauf. Er überlegte.
Er musste jetzt unbedingt die TTA Zeitreisenden aufspüren, um den verschlüsselten Zahlencode zu erhalten. Dazu musste er sich irgendwie in das Erste-Klasse-Ambiente einschleichen, dies ihm aufgrund seines angemessenen Erscheinungsbild und jahrelanger Erfahrung mit der High Society wenig Sorgen bereitete. Ganz zu schweigen, wie er dort überhaupt hinkommen sollte, schließlich kannte er sich auf der Titanic mindestens genauso gut aus, wie in seinem eigenen Apartment im Centrum.
Das eigentliche Problem war, dass er weder wusste wie die TTA Zeitreisenden hießen, noch wie sie aussahen. Zwar hatte er in die fotografierte Passagierliste eingesehen, in der Hoffnung, sie aufgrund ihrer unzeitgemäßen Namen aufzuspüren, aber leider war er nicht fündig geworden. Zudem benötigte er zwingend seinen Beamer, diesen er allerdings ebenfalls erst einmal finden musste. Mithilfe von Agent Piet Klaasens Transmitter wäre es kein Problem gewesen, seinen eigenen Beamer ausfindig zu machen, weil diese Geräte mit Funkpeilsendern ausgestattet waren. Zwar hatte er dem jungen Klaasen ausdrücklich befohlen, dass er seinen ausgeschalteten Transmitter wieder aktivieren sollte, aber insgeheim rechnete Ike nicht damit weil er genau wusste, dass Piet und Marko ihm nicht trauten und gegen ihn arbeiteten.
Immer wieder hatte er, seit dem späten Nachmittag, mithilfe seiner Nickelbrille durch die Wand geschaut, direkt in die nebenliegende Kabine. Aber Piet und Marko hatten sich bislang noch nicht blicken gelassen.
„Verdammt, wo stecken die zwei Idioten bloß? Na warte, wenn ich euch erwische“, murmelte er vor sich hin.
Ike entschied sich diesmal seine EM23 mitzunehmen. Außerdem hatte er sich vorsichtshalber eine hautenge, kugelsichere Schutzweste unter seinem weißen Hemd angezogen. Die unerwartete Begegnung mit Piet letzte Nacht hatte ihn veranlasst, ab sofort noch vorsichtiger zu sein, als er es ohnehin schon war. Er beabsichtigte den Rauchersalon zu besuchen, denn nur dort trafen sich die Reichen und Schönen nach dem Dinner und blieben meistens bis zur späten Nachtstunde. Er ging davon aus und hoffte, dass er die TTA Kunden dort antreffen würde. Ike betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel, übte nochmals freundlich zu lächeln und klatschte motiviert in die Hände. „Okay, los geht’s.“

Unterdessen stolzierten Mara und Jean erhaben das große Treppenhaus hinunter. Sie ließen es sich nicht anmerken, dass sie von der eleganten Innenarchitektur der Titanic immer noch völlig überwältigt waren. Zwar waren alle anderen Passagiere anfangs ebenfalls insbesondre über das Treppenhaus erstaunt gewesen und hatten mitunter die detaillierten Verschnörkelungen des Eichenholzgeländers bewundert, aber die sogenannten Akteure aus der Oberschicht waren es gewohnt, in solch einem königlichen Flair zu verkehren. Deren Bewunderung war längst abgeklungen, aber Mara und Jean jedoch stammten aus einer ganz anderen Welt, aus einer futuristischen Welt, die steril sowie metallisch wirkte und absolut geruchlos war. Mara und Jeans Nasen konnten sogar immer noch die frischen Farben und den Geruch der neu verlegten Teppiche wahrnehmen.
Alles war hell beleuchtet, sogar die übergroße Glaskuppel über dem Treppenhaus, und in der Eingangshalle zum Rauchersalon hörte man dezent die Musik des Orchesters, die sich nach dem Dinner vom Speisesaal dorthin begeben hatten. Übertüncht wurde die aufmunternde Musik von Joplin nur vom Gemurmel etlichen vornehmen Leuten, die sich in der Eingangshalle versammelt hatten und miteinander plauderten. Allein die Empfangshalle wirkte wie ein riesiger Palast.
Mara bemerkte plötzlich, als sie die letzte Treppenstufe hinunterstolziert war und mit Jean durch die Eingangshalle schlenderte, dass sie von einer gutaussehenden, charismatischen Frau beobachtet wurde, deren Blicke sie förmlich spüren konnte. In ihrer geflochtenen, hochgesteckten Haarfrisur steckte ein Diadem, mit glitzernden Diamanten bestückt. Ebenfalls auffällig war ihre überaus kostbare Perlenkette. Ihr helles Abendkleid, sowie ihre ganze Persönlichkeit, strahlte etwas Königliches aus. Diese Frau stand gemeinsam mit ihrem Ehegatten Cosmo Duff Gordon inmitten der Eingangshalle, war von etlichen Persönlichkeiten umzingelt, wedelte mit einem Fächer elegant vor ihrem Gesicht und lächelte Mara an. Mara erwiderte ihre Freundlichkeit mit einem dezenten Nicken, und Jean hob kurz seinen Zylinderhut zur Begrüßung an.
„Bonsoir, Miss Lady Duff Gordon. Ich bin sehr erfreut und angenehm überrascht, Sie heute Abend hier auf der Titanic anzutreffen“, begrüßte Mara die Dame, woraufhin sie erstaunt aufblickte. Diese aristokratische Frau war aber keineswegs darüber verwundert, weil sie von einer wildfremden Person erkannt wurde, denn die äußerst vermögende Engländerin war zu jener Zeit mindestens so bekannt, wie der König des Vereinten Königreichs von Großbritannien.
„Aha, Sie sind also Französin? Das ist ja aber eine nette Überraschung. Ich bin entzückt, Madame. Mein Gatte und ich haben die letzten drei Wochen im wunderschönen Paris verbracht und sind in Cherbourg zugestiegen. Ich möchte Ihnen ein Kompliment machen, meine Dame. Sie tragen ein reizendes Abendkleid. Sie sehen darin umwerfend aus. Darf ich erfahren, wer dieses wundervolle Meisterstück entworfen hat?“, fragte die Neunundvierzigjährige mit einem hochgestochenen, englischen Akzent. Mara neigte leicht ihren Kopf seitlich, zwinkerte auffällig mit ihren Augenliedern und lächelte bezaubernd.
„Merci beaucoup, Miss Lady Duff Gordon. Aber gewiss doch. Meine Kleid hat die Monsieur Jean Paul Gaultier für mich geschneidert. Wissen Sie, meine Ehemann und ich kennen Jean Paul persönlich. Sicherlich sind Sie ihm in Paris begegnet, schließlich ist die Mann in gaaanz Frankreich bekannt. Ganz bestimmt kennen Sie Monsieur Gaultier ebenfalls persönlich. Ist es nicht so?“, fragte Mara scheinheilig freundlich.
Lady Duff Gordon schwieg einen Moment, lächelte nur und wedelte mit dem Fächer vor ihrem Gesicht. Obwohl sie scheinbar freundlich wirkte, erkannte man dennoch nur für einen kleinen Augenblick, dass ihre dunklen Pupillen sich kurzeitig erweiterten, als würde man in zwei dunkle Pistolenmündungen blicken.
Mara hatte die sehr bekannte Frau vor allen Leuten in Verlegenheit gebracht, denn die Lady war gerade von zahlungskräftigen, prominenten Kunden umgeben, die ihr bezüglich der neusten und elegantesten Mode stets vollstes Vertrauen entgegen brachten. Aber die tüchtige sowie äußerst erfolgreiche Geschäftsfrau war immerzu schlagfertig. Sie wedelte weiterhin gelassen mit dem Fächer.
„Ach sooo … ER hat dieses Kleid also entworfen. Gewiss, darauf hätte ich eigentlich selber kommen müssen“, antwortete sie schließlich überschwänglich, als würde sie Jean Paul Gaultier schon jahrelang kennen. Aber sie schüttelte sogleich zaghaft mit dem Kopf. „Nein, meine Teuerste. Diesmal hatte ich leider nicht das Vergnügen, Monsieur … ähm, zu treffen.“
Mara verabschiedete sich daraufhin wieder mit einem kurzen Nicken, wobei sie strahlend lächelte. Während die Corbusiers eingehakt durch die Empfangshalle stolzierten und fast die gläserne Tür des Rauchersalons erreicht hatten, stieß Jean seine Ehefrau leicht an.
„Cherie, was sollte das eben, das mit Jean Paul Gaultier? Selbst ich weiß es, obwohl ich keine Lizenz für das Zwanzigste Jahrhundert absolviert habe, dass dieser Modedesigner erst irgendwann in den 1950ern geboren wird. Der lebt also zurzeit noch nicht einmal.“
Mara trug ein türkisfarbenes, ärmelloses Abendkleid mit Rüschen bestickt, und ihre Hände steckten in weißen Stoffhandschuhen, diese bis zu ihren Ellenbogen reichten. Sie hielt sich dezent die Hand vor dem Mund, damit man ihre Worte nicht von den Lippen ablesen konnte, denn sie bemerkte, dass sie vor allem von den Herren heimlich beobachtet wurde.
„Ich wollte es diesem Biest nur heimzahlen und versuchen, sie bloßzustellen. Leider ist es mir nicht so gelungen, wie ich es mir erhofft hatte. Wie Schade aber auch. Na ja, cèst la vie. Du solltest wissen, dass Lucy Christiana Duff Gordon eine zurzeit äußerst berühmte Modeschöpferin ist. Die Zeitungen berichten häufig über sie. Zu ihren Stammkundinnen zählen sogar die zurzeit berühmteste Filmschauspielerin Mary Pickfort.“
„Und weshalb kannst du diese edle Dame nicht leiden? Was hat sie denn Schlimmes getan?“, fragte Jean nuschelnd, während er die Herren lächelnd begrüßte, die auffällig seine Ehefrau angafften, sie seinen Gruß kurzgebunden erwiderten und dann verschämt wegblickten.
„Ganz einfach. Die dumme Pute Duff Gordon saß mit weiteren bekannten Persönlichkeiten in einem Rettungsboot, das völlig unterbesetzt war. Es hätten mindestens dreimal so viele Menschen hineingepasst, aber diese Herrschaften hatten sich aus dem Staub gemacht und sind einfach losgerudert. Sie hatten sogar Champagne dabei, aber sie hatten niemanden ins Rettungsboot aufgenommen.“

Zwei angestellte Stewards von der White Star Line, bekleidet jeweils mit schwarzen Smokings, öffneten dem vermeintlichen französischen Ehepaar die verglaste Tür zum Rauchersalon. Mara und Jean weiteten erstaunt ihre Augen und raunten, als sie diesen riesigen Salon betraten. Zahlreiche, glitzernde Kronleuchter erhellten den mit Säulen bestückten Festsaal, dessen Boden mit edlen Mosaikfliesen verlegt wurde. Unzählige massive Spielertische standen verteilt in dieser Räumlichkeit, und die dazugehörigen Sessel waren mit eleganten Stoffbezügen bestickt. Ein riesengroßer Kamin, welcher in einer stilvollen Nische aus Eichenholz eingebaut wurde und darüber eine verschnörkelte antike Uhr tickte, spendete eine angenehme Wärme.
Der First-Class-Rauchersalon (in der 2. Klasse gab es ebenfalls einen Rauchersalon, dieser jedoch etwas schlichter gestaltet war) war wie erwartet sehr belebt, aber der riesengroße Festsaal bot ausreichend Platz, sodass kein Gedränge herrschte und obwohl die gehobenen Herrschaften dort rauchten, war vom Zigarrenrauch trotzdem kaum etwas zu spüren. Unterstrichen wurde diese gemütliche Atmosphäre von der achtköpfigen Musikkapelle, die grade Wiener Blut von Johann Strauss anstimmte. Mara seufzte.
„Sieh nur, Jean. Dort hinten sitzt Margaret Brown und spielt mit die Herren als einzige Frau Karten. Lass sie uns begrüßen, während wir diese Unterhaltung mit unseren Kameras heimlich aufzeichnen. Wir müssen sie unbedingt interviewen. Sie ist eine wichtige Akteurin!“
„Cherie, muss das unbedingt jetzt sein?“, fragte er ungeduldig. „Wir sollten zuallererst Geheimagent van Broek ausfindig machen, damit wir endlich diesen lästigen Zahlencode aus deinem Auge los sind. Wir werden uns dann wesentlich entspannter fühlen.“
„Ja, ja, das machen wir gleich!“, zischte sie. „Aber zuerst gehen wir zu Molly Brown.“
„Aber warum denn, Cherie“, sprach er etwas gelangweilt und versuchte sie umzustimmen. „Weshalb ist diese Dame so besonders für dich? Morgen kannst du sie auch noch interviewen. Für uns hat es jetzt höchste Priorität, diesen Agenten zu finden.“
„Ach, du hast doch keine Ahnung“, flüsterte sie. „Molly Brown ist die beliebteste Überlebende der Titanic, weil sie vielen Leuten während der Katastrophe geholfen hatte. Man hatte sie regelrecht dazu überreden müssen, endlich selber in ein Rettungsboot zu steigen. Sie hatte sich auch nach der Titanic Katastrophe immer wieder für schwächere Leute eingesetzt, insbesondre für die Frauenrechte und während des Ersten Weltkriegs, hatte sie sich um die Kriegsopfer gekümmert. Sie hat sehr viel für Krankenhäuser, Schulen und Kirchen gestiftet und noch vieles mehr. Im Jahre 1960 wurde für sie sogar ein Musical komponiert, überdies wurde ihre Lebensgeschichte 1964 verfilmt. Sie ging als die unsinkbare Molly Brown in die Geschichte ein“, erzählte Mara. „Sie stammt ursprünglich aus ärmlichen Verhältnissen, aber sie war eine attraktive junge kluge Frau gewesen, die sich einen ehrgeizigen Arbeiter geangelt hatte, der schließlich irgendwann in Colorado auf eine Goldader gestoßen war. Und so wurde dieses Ehepaar steinreich. Sie ist aber mittlerweile geschieden und wird von der gehobenen Gesellschaft als eine Neureiche verpönt. Vor allem wird sie von den reichen Ladys als eine vulgäre Person bezeichnet, die keinerlei Manieren hat. Aber nun ist sie dermaßen reich, sodass die Gesellschaft sie unmöglich ignorieren kann, zumal sie eng mit John Jacob Astor befreundet ist. Margaret Brown, J.J. und seine junge Frau Madeleine Astor verbrachten gemeinsam ihren Urlaub in Kairo, bevor sie auf die Titanic eincheckten. Mir jedenfalls ist sie sehr sympathisch“, schmunzelte Mara.
Jean merkte, dass seine Ehefrau etwas nervös wirkte, als beide sich dem Spielertisch näherten. Mara fühlte sich beinahe so, als würde sie jeden Moment einen berühmten Hollywoodstar treffen.
Die beleibte Mrs. Margaret Brown saß nur mit Herren am großen ovalen Tisch, spielte mit ihnen Black Jack und mischte gerade die Karten. Dabei kniff sie ein Auge zu, weil ein Zigarillo in ihrem Mundwinkel steckte und der Qualm in ihr Auge biss. Direkt hinter ihr stand ein uniformierter Liftboy, ebenfalls ein Angestellter der White Star Line, mit erröteten Bäckchen. Allerhöchstens war das Bürschlein zwölf Jahre alt, diesen jungen Knaben die überaus reiche Dame, seitdem sie in Cherbourg zugestiegen war, einfach ungefragt als ihren persönlichen Diener beansprucht hatte. Aber der junge Knabe kassierte dafür auch täglich ein anständiges Trinkgeld, denn Mrs. Margaret Brown war dafür bekannt, dass sie äußerst großzügig mit dem Geld umging.
Als Mrs. Brown eine erneute Runde Black Jack gewonnen hatte, lachte sie ungehemmt laut und schlug kräftig mit der Faust auf den Tisch.
„Black Jack, Gentlemen! Was sagt man dazu? Ich habe schon wieder gewonnen!“, blökte sie rum, sodass sie insbesondre von den anwesenden edlen Ladys missmutig angeblickt wurde, die daraufhin mit vorgehaltener Hand über Mrs. Brown tuschelten. Dann gab sie dem Liftboy einen Klaps auf seinen Hintern.
„Hey Kleiner, spute dich zum Barkeeper und besorge uns noch ne Runde Brandy. Mir aber bitte einen Sekt. Ich gebe einen aus. Meine Glückssträhne muss begossen werden, damit sie nicht verdorrt“, kicherte sie. Daraufhin nickte der Bursche hektisch, antwortete: „Jawohl, Misses Brown. Sofort Ma'am”, und flitzte sogleich los.
Einer der Herren am Spieltisch schüttelte verdrossen seinen Kopf, stand auf und verneigte sich vor jedem einzelnen.
„Geehrte Misses Brown … meine Herren, ich entschuldige mich. Sie müssen die nächsten Partien leider ohne mich fortsetzen.“ Er klappte seine Taschenuhr auf und blickte demonstrativ mit hochgezogenen Augenbrauen darauf. „Für meine Wenigkeit ist es jetzt Zeit für die Bettruhe. Misses Brown gewinnt ja ohnehin nur noch. Ich wünsche den Herrschaften weiterhin einen schönen Abend, und anschließend eine angenehme Nachtruhe“, lächelte er gezwungen. „Misses Brown, was bin ich Ihnen schuldig?“, fragte er höflich, woraufhin sie ihn breit grinsend anblickte und antwortete: „Keine Sorge, das werde ich Ihnen morgen schon mitteilen, mein Herr.“
Dann verneigte er sich nochmals und verließ gefrustet die Spielrunde.
Margaret Brown klatschte aufgeregt in die Hände, wobei sie immer noch ein Auge zugekniffen hatte. Dann schlug sie ihren Sitznachbarn, dem Multimillionär Benjamin Guggenheim, freundschaftlich auf die Schulter.
„Also, geehrte Gentlemen, wenn das so weitergeht, habe ich die Fahrt mit der Titanic wieder raus. Bezahlt von den reichsten Herren der Welt. Es fehlt nur noch J.J. Wo steckt der Gute eigentlich? Er hat schließlich das dickste Portmonee von uns allen.“
Ein amüsiertes Lachen ertönte am Spieltisch. Mr. Benjamin Guggenheim fragte gelangweilt, wo bloß dieser Bengel mit dem Brandy bleiben würde.
Plötzlich zog Mrs Brown die Augenbrauen zusammen und nahm ihren Zigarillo aus dem Mundwinkel, als sie bemerkte, dass die Corbusiers unmittelbar vor dem Spieltisch standen und insbesondre Mara sie regelrecht anstarrte.
„Na, junge schöne Lady. Wollen Sie etwas von mir? Kann ich euch zwei Hübschen irgendwie behilflich sein?“, fragte sie zwar freundlich lächelnd, aber ihre Begrüßung klang dennoch etwas frech angehaucht. Mrs. Brown war darauf gefasst, eventuell einen bissigen Kommentar zu ernten, weil sie mit den Herren Karten spielte und obendrein in der Öffentlichkeit ungeniert rauchte und trank. Aber die ungeschriebenen Gesetze der gehobenen Gesellschaft, interessierten sie nicht im Geringsten.
Mara schluckte kurz, denn es war Mrs. Brown anzumerken, dass sie etwas beschwipst war. Dies war jetzt in der Tat kein günstiger Moment, die legendäre Molly Brown zu interviewen. Morgen, am nächsten Tag, so wie es Jean vorgeschlagen hatte, wäre es wohl tatsächlich besser, dachte sich Mara und antwortete freundlich: „Bonsoir, Madame Brown. Wir-wir wollten Ihnen nur einen schönen Abend wünschen und weiterhin viel Glück mit die Kartenspiel.“
Die Fünfundvierzigjährige blickte kurz verwundert drein, neigte ihren Kopf seitlich und lächelte freundlich.
„Das ist aber sehr nett von Ihnen, Misses oder eher Madame …?
„Mara Corbusier, mein Name, Madame Brown“, antwortete sie sogleich lächelnd.
„Wie wäre es mit einer Partie Black Jack? Soeben ist nämlich zufällig ein Platz frei geworden“, kicherte sie heiser, daraufhin Mr. Guggenheim laut auflachte und äußerte: „Molly, du redest nicht lange um den heißen Brei herum sondern bringst es immer wieder charmant auf den Punkt. Dafür lieben wir dich auch so sehr.“
„Black Jack?“, platzte es aus Jean begeistert heraus, woraufhin seine Augen aufleuchteten. Er zog die Jacke seines Frackanzuges aus, nahm seinen Zylinder ab, krempelte die Ärmel seines weißen Hemdes hoch und setzte sich direkt neben Mrs. Margaret Brown.
„In Black Jack bin ich unschlagbar, insofern das Glück mir auch beiseite steht, Misses Brown“, sagte er und zwinkerte seiner Ehefrau zu. Mara wusste nun, dass Jean sich um ihr heißbegehrtes Interview kümmern würde, während sie in aller Ruhe nach dem geheimnisvollen Geheimagenten Ausschau halten konnte. Sie lächelte, schlug auffällig mit ihren Augenlidern und bedankte sich bei ihrem Gatten. „Merci, Jeanie.“

Margaret Brown war sehr von Jean angetan, weil er keine hochnäsigen Allüren an den Tag legte und so grässlich steif wirkte, wie alle anderen Herren, die sie kannte. Er wirkte ungewöhnlich locker, offenherzig und seine Freundlichkeit kam ehrlich rüber. Zudem stellte die legendäre Dame fest, dass Jean ihrem Humor durchaus folgen konnte und es ihm scheinbar nicht abschreckte, dass sie grad eine unschlagbare Glückssträhne hatte.
Der überaus vermögende Zeitreisende Jean befand sich gerade in bester Gesellschaft. Denn weder der Multimillionär George Widener, noch Benjamin Guggenheim und auch Margaret Brown interessierten es absolut nicht, ob sie nun an diesen Abend beim Black Jack gewinnen oder verlieren würden. Für diese Herrschaften war das äußerst kostspielige Kartenspiel reiner Zeitvertreib. Bis auf die anderen zwei Herren am Tisch, die zwar ebenfalls vermögend waren, aber es ihrem Geldbeutel dennoch schmerzen würde, wenn sie innerhalb einer halben Stunde um 50.000 Dollar erleichtert wären.
Ihr Spieleinsatz begann nämlich im fünfstelligen Dollar Bereich – falls jemand dieses Budget nur gerade so aufbringen konnte, durfte sich dieser nicht einmal dem Spieltisch nähern. Der völlig in der Gesellschaft unbekannte Jean Corbusier punktete an der Spieltischrunde zudem, weil er ausgezeichnete Manieren hatte und sehr gebildet wirkte. Trotz dass er eine Runde Black Jack nach der anderen verlor, blieb er fröhlich und scherzte mit Margaret Brown und den anderen Multimillionären. Er trank sogar Brandy – nur die Zigarren lehnte er strikt ab – und nach dem zweiten Glas flunkerte er schließlich, dass er ein Professor wäre (dies eigentlich gar keine Lüge war), der im Albert Einstein Gymnasium in Berlin unterrichten würde. Seine Hauptfächer, so behauptete er, wären Französisch, Mathematik und Geschichte.
Schon bald wurde das Black Jack Kartenspiel nichtig, weil Jean, je mehr er an seinem Brandy nippte, geschwätziger wurde und die Leute am Spieltisch teilweise zum Lachen aber zugleich auch zum Nachdenken brachte. Irgendwann schlug Margaret Brown ihm freundschaftlich auf die Schulter und meinte, weil Jean sie ständig mit Mrs. Brown anredete: „Hey Jean, ich mag Sie. Sie sind in Ordnung. Nenne Sie mich doch ab sofort, wie alle meine Freunde mich nennen. Nennen Sie mich einfach nur … Molly.“

Als Ike gemächlich und in Gedanken versunken die Stufen des großen Treppenhauses hinunter schritt, blieb er plötzlich stehen und blickte hinter sich. Die runde Uhr in der vertäfelten Eichenholznische hatte gerade viermal gegongt. Es war jetzt Punkt 22.00 Uhr.
Ein Ansatz eines Lächelns verzierte seinen Mund, weil er sich daran erinnerte, wie er damals gemeinsam mit seinem Lehrling Aaron O’Neill auf einem Gerüst stand und diese handgearbeitete Eichenholztafel dort anmontiert hatte. Das war ungefähr letztes Jahr gewesen. Er konnte sich noch sehr genau an diese Situation erinnern, weil er wütend gewesen war und Aaron ständig wegen jeder Kleinigkeit angemotzt hatte. An diesem Tag war er äußerst schlecht gelaunt gewesen, weil er sich am Abend zuvor mit Eloise gestritten hatte. Und jedes Mal wenn sie sich stritten, hatte Eloise ihm morgens entweder halb aufgegessene Brote eingepackt, oder eben unbelegte Brote, wobei sie ihm sogar noch obendrein die knusprige Brotkruste abgeknabbert hatte, weil er grad diese so sehr mochte. Und als er Aaron so richtig zusammengeschissen hatte, weil ihm die Bohrmaschine aufgrund der Wucht aus der Hand geschleudert wurde, hatte er auf einmal eine liebliche Stimme von unten gehört die gerufen hatte: „Hallo Ike! Guten Tag Aaron!“
Es war Eloise gewesen und sie war abermals barfüßig erschienen, nur bekleidet mit ihrer grünen Lieblingsstrickjacke und ihrem langen, karierten Schottenrock. Sie war ihrem dickköpfigen Ehemann wiedermal hinterhergeritten. Eloise hatte ein Bastkörbchen in ihren Händen gehalten, darin belegte Wurst- und Käsebrote lagen und hatte ihm mitgeteilt, dass sie ihm sein Mittagessen mitgebracht hätte. Ike war daraufhin vom Holzgerüst gesprungen und hatte sie liebevoll umarmt. Somit war der gestrige Streit wieder vergessen.
„Danke Liebes, du kommst wie gerufen. Heute Morgen hatte ich nur unbelegte, angeknabberte Brote in meiner Brotbüchse vorgefunden. Kannst du dir das vorstellen? Bob meinte, dass sich wahrscheinlich Mäuse in meine Brotbüchse eingenistet hätten“, hatte er damals schmunzelnd gesagt und gierig ins Brot gebissen, weil er äußerst hungrig gewesen war. „Du hascht die Wurscht wiedermal selbscht gegeschen, um mir einsch auschzuwischen. Stimmtsch?“, hatte er mit vollem Mund nachgehakt. Eloise aber hatte mit dem Kopf geschüttelt.
„Nein Ike, diesmal nicht. Diesmal hatte ich die Wurst an Laika verfüttert“, hatte sie grinsend geantwortet. Daraufhin hatte er zu kauen aufgehört, sie ernst angeblickt, ihren kupferroten geflochtenen Zopf geschnappt und damit ihre Nase gekitzelt, was Eloise aber ganz und gar nicht mochte und sie ihm daraufhin immer eine leichte Backpfeife verpasst hatte.

„Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Abend, Sir“, sagten die zwei bediensteten der White Star Line, die jeweils mit einem Smoking bekleidet waren, als sie für Ike die verglaste Tür öffneten. Er sah sie nur ausdruckslos an und nickte kurzgebunden, dann betrat er den Rauchersalon.
Eine fröhliche Melodie, von dem Orchester exzellent gespielt, erfüllte den Saal. Einige Herren tanzten mit ihren Damen sogar inmitten des Rauchersalons. Es herrschte eine angenehme, fröhliche Stimmung. Während Kontrabass, Violine, Cello und Piano für eine ausgelassene Stimmung sorgte, stolzierte Ike erhaben durch die feine Gesellschaft, direkt zur ellenlangen Bartresen hinüber. Ein Brandy wäre jetzt angebracht.
Während er gemächlich durch die Menge schritt, bemerkte er die eindringlichen Blicke einer äußerst vornehmen Frau, die ein Diadem in ihrer hochgesteckten Haarfrisur trug und elegant mit einem Fächer vor ihrem Gesicht wedelte. Als sich ihre Blicke kreuzten, lächelte die Dame lasziv. Ike blieb stehen, schnappte sich einfach ungefragt ein Sektglas vom Tablett eines umhereilenden Stewards und ging gespielt fröhlich auf sie zu. Jede andere Dame hätte er ignorieren dürfen, jedoch keinesfalls Lady Duff Gordon. Nicht, wenn sie jemanden auffällig anblickte und zu verstehen gab, dass sie angesprochen werden möchte. Ike trat vor ihr, woraufhin ihm die anwesenden, ebenfalls königlich aussehenden Damen und Herren, dezent Platz machten und ihn erhaben musterten.
Es ging praktisch automatisch – Lady Duff Gordon reichte ihm die Hand und Ike fasste vorsichtig danach. Leicht gebeugt küsste er ihre Hand, an ihrem Mittelfinger ein unübersehbarer Klunker haftete, ein äußerst kostbarer Diamantenring.
„Geehrte Lady Duff Gordon, Sie sehen noch bezaubernder aus, als in all den zahlreichen Abbildungen der Zeitungen. Es ist mir eine Ehre, Sie heute Abend hier einmal persönlich auf der Titanic begrüßen zu dürfen.“
„Ganz meinerseits, junger Gentleman. Darf ich erfahren, wie Sie heißen? Ich würde Sie gerne nachher zu einem privaten Plausch einladen, wenn Ihnen das angenehm wäre“, schlug sie ihm mit einem verführerischen Lächeln vor.
Ike blickte der großgewachsenen Frau direkt in die Augen. Er überlegte kurz, wie er sich vorstellen sollte und lächelte dabei charmant. Keinesfalls wollte er seinen wirklichen Namen preisgeben, weil er befürchtete, die Lady würde ihm die nächsten zwei Tage nachstellen und alles von ihm herausfinden. Schließlich war Lady Duff Gordon eine äußerst einflussreiche Frau. Und dann rettete ihn eine Inspiration, die ihm aus einen berühmten, längst vergangenen Titanic Hollywoodfilm einfiel.
„Dawson. Mein Name ist Jack Dawson. Bestimmt wird es sich zur späten Nachtstunde eine Gelegenheit ergeben, dass Sie mich ihrem ehrenwerten Gatten, Mister Sir Cosmo, vorstellen können“, antwortete Ike freundlich. Dann nahm er vorsichtig ihre Hand und küsste erneut darauf, wobei er ihr direkt in die Augen blickte.
Lady Duff Gordon nippte an ihrem Champagnerglas und blickte Ike schmunzelnd hinterher. Sie reckte ihren Hals, schaute über dutzende Köpfe hinweg und beobachtete ihn, wie er zwischen den tanzenden Leuten stolzierte. Genauso interessiert, aber dennoch nicht so auffällig wie die Lady Duff Gordon, schauten die nebenstehenden Damen Ike ebenso hinterher. Was für ein aufregender Mann, dachten sich die vornehmen Ladys des anfänglich Zwanzigsten Jahrhunderts.

„Einen doppelten Scotch, mit viel Eis. Und zwar mit so viel Eis, dass die Eiswürfel aus dem Glas wie ein Eisberg herausragen. Ich brauche jetzt eine kräftige Erfrischung“, lautete Ikes Bestellung beim Barkeeper, der ihn daraufhin kurz verdutzt anblickte, dann aber seiner Bitte unverzüglich nachging. Der Barkeeper hinter dem Tresen war es gewohnt, dass die hohen Herren oftmals eigensinnige Bestellungen aufgaben. Aber ein doppelter Whiskey, der wie ein Eisberg aussehen sollte, war auch ihm neu. Er servierte ihm seinen Scotch, gefüllt mit Eiswürfeln, bis diese auf den Tresen purzelten und stellte ihm dann, ohne dass er Ike dabei anschaute, zusätzlich einen metallischen Eimer voller Eiswürfel daneben.
„Falls die Eiswürfeln nicht ausreichen sollten, Sir, werde ich umgehend für Nachschub sorgen“, sagte der Barkeeper mit dem gezwirbelten Schnauzbart, wobei er sich vor Ike leicht verneigte.
Ike blickte erstaunt auf den metallischen Eisbehälter, winkte ab und schnappte sich eine Zigarre aus der hölzernen Schatulle, die offen auf dem Tresen lag. Er schmunzelte. Der typisch trockene Humor der Engländer, war er mittlerweile gewohnt.
„Danke, Sir. Das Eis wird vorerst reichen, denke ich.“
Alsbald bemerkte Ike, dass er wiedermal von einer äußerst gutaussehenden Dame beobachtet wurde, die direkt neben ihm auf dem Barhocker saß. Eher gesagt, starrte sie ihn förmlich an, wobei sie auffällig mit einem Strohhalm eine Bowle schlürfte. Der lange Rock ihres türkisfarbenen Kleides überdeckte den Barhocker, und ihre rotgelockte Haarpracht war elegant hochgesteckt. Ike schaute sie für einen Moment an, lächelte zur Begrüßung kurzgebunden und starrte wieder vor sich hin.
Ein außergewöhnlich hübsches Gesicht hat diese Akteurin, fuhr es durch seine Gedanken. Er stielte nochmals kurz zu ihr rüber, weil sie immer noch auffällig mit dem Strohhalm schlürfte und ihn dabei penetrant anstarrte.
Hmm … Die Größe scheint zu stimmen, die Figur ebenfalls und schöne Augen, einen wohlgeformten Mund und eine ausgesprochen hübsche Nase hat sie auch. Diese Akteurin hätte durchaus eine reale Chance, in United Europe als ein Topmodel Kariere zu machen. Mein lieber Scholli, die sieht für eine Uroma aber verdammt attraktiv aus, fügte er gedanklich hinzu.
„Sie sind Ike van Broek. Ist das richtig?“, fragte die junge Frau mit der europäischen Sprache, womit man sich ausschließlich in United Europe verständigte. Jedoch war bei ihr ein auffälliger, französischer Dialekt herauszuhören. Daraufhin wusste Ike sofort, woher diese TTA Kundin stammte. – Ganz toll, eine arrogante Schnepfe aus Nieuw Bruxelles. Na, das kann ja was werden –, dachte sich Ike im Stillen.
„Was war mit Ihrer Hand geschehen? Warum war sie verbunden und jetzt nicht mehr?“
„Unterlassen Sie das gefälligst!“, zischte Ike flüsternd, woraufhin er sich unauffällig umschaute, um sich zu vergewissern, dass man sie nicht beobachtete. „Es ist in der vergangenen Welt nicht erlaubt, dass wir uns in europäischer Sprache unterhalten. Reden Sie entweder Englisch oder Holländisch mit mir. Von mir aus auch auf Französisch. Meinetwegen können wir uns auch auf Russisch, Koreanisch oder Spanisch oder sogar Deutsch unterhalten. Etwas Portugiesisch und ein klein wenig Dänisch, damit würde ich auch noch klar kommen. Aber sprechen Sie nie wieder … Ich betone nie wieder, mit der europäischen Sprache hier in der vergangenen Welt mit mir. Haben wir uns verstanden?!“, fauchte Ike nuschelnd und kippte seinen doppelten Scotch in einem Zug hinunter.
Mara hörte abrupt zu schlürfen auf, verdrehte genervt ihre Augen und dachte sich: Putain de merde, schon wieder so ein arrogantes Arschloch aus dem Centrum was meint, dass alles akkurat nach Vorschrift ablaufen muss. Obendrein zählt er mir auf, wie viele Sprachen er beherrscht. Ein typischer arroganter Centrum-Heini, lästerte sie gedanklich.
„Ist in Ordnung, Monsieur van Broek. Machen Sie nur, dass die komische Programm aus meine ID-Chip entfernt wird. Das ist nämlich ebenso nicht erlaubt“, konterte Mara.
„Kein Problem. Dazu empfehle ich aber, dass wir uns in Ihre Suite begeben. Hier in der Öffentlichkeit kann ich diese Prozedur unmöglich durchführen. Sind Sie damit einverstanden Miss … ähm, ich meine Madame?“
Ikes Frage klang eindeutig, dass Mara auch endlich ihren Namen nennen sollte.
„Gewiss, damit bin ich einverstanden. Mein Name ist übrigens Mara Corbusier.“
„Aha, okay“, antwortete Ike. Dann herrschte zwischen beiden kurzeitig eine unangenehme Stille, weil beide aufgrund ihrer Vorurteile nicht wussten, wie sie miteinander vernünftig und sachlich kommunizieren sollten.
„Wir müssen …“, sprachen sie auf einmal zugleich, und verstummten sogleich wieder. Ike gab ihr dann mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie zuerst reden sollte, woraufhin Mara einmal kräftig durchatmete und ihm nickend dankte.
„Wir müssen noch meine Mann Jean abholen, der spielt dort hinten mit Guggenheim, Widener und Molly Brown so eine komische Kartenspiel, wobei man sehr viel Geld gewinnen aber auch genauso schnell verlieren kann.“
Ike nickte stetig.
„Alles klar. Diese Leute sind auch mir bekannt. Ihr Ehemann wird unweigerlich verlieren, wenn dieses Kartenspiel Poker oder Black Jack ist. Das sind erfahrene Spieler, Ihr Mann hat keine Chance, selbst wenn er eine Glückssträhne hätte. Sie werden ihn wie eine Weihnachtsgans ausnehmen. Unterbinden Sie es lieber, ansonsten wird Ihre Zeitreise erheblich teurer, als Sie es geplant hatten.“
Ike blickte über unzählige Köpfe und erhaschte für einige Momente eine Sicht auf die besagten Personen. Er erkannte einen Mann mit schulterlangen blonden Haaren, der einen hochroten Kopf hatte und dabei ständig laut lachte. Er runzelte die Stirn.
„Sagen Sie, Mara, ist ihr Mann genauso trinkfest wie Sie? Ich meine, Sie schlürfen da einfach so eine Bowle weg.“
Mara blickte ihn verwundert an.
„Meine Getränk ist ohne die Alkohol, nur mit die Limonade, falls Sie das meinen, Monsieur van Broek. Und Jean trinkt auch nur immer mit ohne die Alkohol. Wir sind ja nicht wahnsinnig. Schließlich sind wir bestens über die verheerende Auswirkung dieses Genussmittels informiert. Wir sind Akademiker, die Zeitreisen ausschließlich aus wissenschaftlichen Gründen unternehmen, und keine Trunkenbolde. Was denken Sie denn von uns?“, fragte sie vorwurfsvoll.
Ike schniefte, paffte nochmal kräftig an seiner Zigarre und drückte sie im Aschenbecher aus.
„Ihr Jean hat also noch nie Alkohol probiert? Oje, dann machen Sie sich auf etwas gefasst. Überlassen Sie jegliche Handlung mir. Ich regle das, verstanden?“
„Ich sagte doch eben, er trinkt nix! Niemals würde er es tun!“, erwiderte Mara ausdrücklich. Sie war augenblicklich verärgert, weil der Mann aus dem Centrum ihr offenbar nicht glaubte.
„Er hat also noch nie ein alkoholisches Getränk zu sich genommen?“, vergewisserte er sich erneut. „Tja, dann wird es erst recht schlimm werden. Und reden Sie mich bitte nicht ständig mit Monsieur an. Okay? Nennen Sie mich einfach nur … Ike. Bitte!“
Mara blickte ihn einen Augenblick entgeistert an, bevor sie antwortete. Hatte er etwa recht? Würde sich ihr anständiger Gatte tatsächlich doch irgendwie dazu verleiten lassen, Alkohol zu konsumieren, fragte sie sich stirnrunzelnd?
„Na schön, Ike. Ich möchte mich nicht schon wieder mit einem Agenten herumärgern wollen. Tun Sie das, was zu tun ist und befreien Sie meinen Jean aus dieser pikanten Konversation … S'il vous plaît (bitte).“
Das Orchester stimmte grad eine Overture von Richard Wagner an.
„Sehr gerne, denn mir geht die Discomusik der Spießer sowieso längst gewaltig auf die Nerven“, meinte Ike, wobei er sie griesgrämig anblickte.

Es kam wie es kommen musste, wenn man sich in einer ausgelassenen Spielerrunde befand. Jean wurde insbesondre von Mrs. Margaret Brown und Mr. Benjamin Guggenheim dazu angestachelt, dass er brav seinen Brandy austrank. Ike musste schließlich den sturzbesoffenen Jean stützen, als sie zurück zu der Erste-Klasse-Suite der Corbusiers gingen, eher gesagt musste Ike ihn schleppend mitziehen. Jean torkelte dermaßen, sodass Ike seine Last hatte, diesen schlaksigen Mann vernünftig zu seiner Kabine zu dirigieren. Ständig lachte er albern und lallte unzusammenhängendes Zeug, wobei Mara ihn nur ungläubig anschaute und ihn verärgert zurechtwies. Mara schnatterte auf Französisch ununterbrochen auf ihren Ehemann ein; sein Verhalten wäre ein Skandal, dass er Alkohol getrunken hätte und er sollte sich was schämen. Jean schielte vor sich hin – er erwähnte völlig erstaunt, dass er alles doppelt sehen würde –, hielt sich torkelnd an Ikes Schulter fest und schwor seiner Ehefrau, dass er nie wieder alkoholische Getränke zu sich nehmen würde.
„Ui, Scherie … Du hascht rescht. Isch trink niksch mehr. Aber isch schwöre dir, Scherie, dasch isch nur tschwei Brandysch getrunken habe. Ehrlisch, isch schwöre … Nur tschwei Brandsch!“, behauptete Jean grinsend mit erhobenen Zeigefinger und belämmerten Blick, als sie direkt vor ihrer Kabinentür standen. Mara jedoch schimpfte unaufhörlich weiter. Sie feuerte sogar im Zorn ihren riesigen Hut wütend zu Boden, bis Jean mit seiner Faust gegen die Kabinentür schlug, sodass selbst Ike erstaunt aufblickte. Augenblicklich wirkte Jean nüchtern.
„Scherie … Ich meine, Cherie. Halt jetzt endlich deinen Mund!“, schnauzte er. „Nur deinetwegen habe ich Brandy getrunken! Jetzt sieh mich nur an, in welch einem erbärmlichen Zustand ich mich befinde. Isch kann misch kaum vernünftig artikulieren. Und das alles nur wegen dir!“
Mara blickte ihren Ehemann großäugig an, umklammerte ihn und heulte.
„Mon amie“, schniefte sie. „Entschuldige Jeanie, verzeihe mir. Ich war ungerecht zu dir. Vielen Dank für das Interview mit Molly Brown. Deine große Opfer weiß ich doch zu schätzen“, heulte sie Rotz und Wasser.
Ike stöhnte genervt auf, während sich die Corbusiers umarmten und sich auf Französisch gegenseitig entschuldigten und bekundeten, wie sehr sie sich doch lieben würden.
„Okay, Leute. Können wir jetzt endlich in eure Suite reingehen? Das wäre echt nett, denn ich brauche unbedingt diesen verdammten Zahlencode“, forderte er das zeitreisende Ehepaar freundlich aber sichtlich entnervt auf.

Nachdem Jean die Pokerrunde verlassen hatte, steckte Molly Brown einen weiteren Zigarillo in ein Mundstück, rauchte und mischte die Karten. Es war schon sehr spät geworden und die Musikapelle spielte zum Abschluss: Eine kleine Nachtmusik, von Wolfgang Amadeus Mozart. Sie verteilte die Karten und summte leise mit. Mrs. Margaret Brown war in Gedanken versunken.
„Hmm … Dieser Jean Corbusier ist ein bemerkenswerter Mann. Seine These, über eine bevorstehende Mondlandung und eine darauffolgende Kolonie auf dem Mars in ferner Zukunft, klang zwar zuerst lächerlich und völlig absurd, aber so wie er es erläutert hatte, könnte man durchaus glauben, dass dies einmal Wirklichkeit werden könnte. Jedoch ist eins gewiss“, sagte sie mit erweiterten Augen rotzfrech in die Runde, wobei sie mit der Faust kräftig auf den Tisch schlug. „Die Franzmänner scheinen offenbar nichts zu vertragen. Habt ihr das mitbekommen, Gentlemen? Monsieur Jean hatte nur zwei Brandys getrunken, und war trotzdem schon vollbesoffen wie ein granatenvoller Russe. Das ist doch nicht normal!“
Daraufhin ertönte lautes Gelächter.
„Ich hätte gerne noch einen Brandy, aber mit nur zwei Eiswürfeln und nur zweimal gerührt, mein Sohn. Aber wirklich nur zweimal gerührt!“, betonte Guggenheim ausdrücklich zu dem Liftboy, der unentwegt hinter Mrs. Brown stand und hektisch nickte.
„Jawohl, Sir. Sofort Mister Guggenheim, Sir“, antwortete der Bengel und flitzte sogleich los.
„Na ja, der Corbusier ist ja auch ein Professor, ein Gelehrter auf der Albert Einstein Universität in Berlin. Oder sprach er von einem Gymnasium? Wie dem auch sei, jedenfalls vertragen die schlauen Köpfe in der Regel sowieso nix. Aber ich frage mich nur … Wer zum Henker ist Albert Einstein?“, fragte Mr. Guggenheim sichtlich nachdenklich und etwas lallend.
Margaret Brown zuckte daraufhin mit der Schulter.
„Wahrscheinlich ein deutscher Quacksalber, der irgendwann irgendwelchen Schnickschnack erfunden hat und nur in Europa bekannt ist“, meinte sie prustend.
Darauf ertönte wiedermal schallendes Gelächter. Margaret Brown erhob sich leicht schwankend und hielt ihr Sektglas in die Höhe.
„Meine Herren … Gentlemen. Für mich ist es Zeit, schlafen zu gehen. Ich verabschiede mich für heute. Gute Nacht allerseits.“


Foto: Margaret „Molly“ Brown 1867-1932
 
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