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4 Seiten

Das wahre Abenteuer

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Eines morgens tritt Thomas aus seinem Haus heraus und wunderte sich. Er wundert sich darüber, wie viel Zeit vergangen ist, seit dem er das letzte Mal bewusst nachgedacht hat.
„Wie oft kommt es überhaupt vor, dass man mal bewusst nachdenkt?“, denkt er daraufhin bei sich. „Und was bedeutet das überhaupt: bewusst Nachdenken?“
„Seltsam“, denkt Thomas weiter. „Wirklich seltsam.“ Denn gerade kommt es ihm so vor, als sei es möglich, ein komplettes Leben einfach so zu leben, ohne sich dessen so richtig bewusst zu sein, dass man lebt; dass man ein Wesen ist, dessen Sinn völlig ungeklärt ist. Ist das nicht im Grunde erstaunlich, ja geradezu atemberaubend, dass es so ist, wie es ist? Wozu ins Kino gehen, und sich irgendwelche Filme anschauen, wo doch das Leben selbst der erstaunlichste Film ist, den man sich überhaupt nur vorstellen kann, und das jeden einzelnen Tag im Leben eines jeden einzelnen Menschen, und völlig unabhängig davon, was erlebt wird? Denn schon ganz alleine die Tatsache der eigenen Existenz ist doch schon mindestens so erstaunlich, wie zwanzig James Cameron Filme zusammengenommen, oder der gesamte Grand Canyon der USA, oder die prächtigen Farben eines Regenbogens multipliziert mit den Farben, die in einem Auge eines riesigen Pottwales reflektiert werden, wenn dieser auftaucht, und mit tränenden Augen in einen winterlichen Sonnenuntergang blickt, weil er sich wieder daran erinnert, wo seine Vorfahren einmal hergekommen sind, nämlich vom Land, und mit wem er dort Artverwandt ist, nämlich mit den Huftieren, wie etwa den Giraffen.
Ist das alles nicht schon für mindestens drei Leben erstaunlich genug? Wozu dann noch eine Achterbahn aufsuchen, oder den Mount Everest besteigen? Wozu in den Weltraum fliegen, oder den Meeresboden der Ozeane erkunden, wo doch schon das, was man jeden Tag in seinem Innern erleben kann, erstaunlich genug ist, um damit das, was es bedeutet, oder viel mehr: bedeuten könnte, ganze Bücherregale zu füllen?
Aber nein: alle wollen etwas erleben, das sie davon ablenkt, weshalb sie sind, was sie sind und wie sie sind. Wollen sich gerade von dem ablenken, was das Leben doch letztendlich erst lebenswert macht. Wollen einfach nicht daran denken – müssen. Wollen sich viel lieber irgendeiner Sache hingeben, die sie all dies vergessen lässt, obwohl doch das wahre Abenteuer nicht irgendwo da draußen stattfindet, sondern hier drinnen, hier bei uns, in unserem Gehäuse; in unserer vergänglichen Hülle für unsere vielleicht unsterbliche Seele. Dort sollten wir suchen; dort sollten wir nach verborgenen Schätzen graben, von denen wir vielleicht selbst nicht wissen, dass sie dort zu finden sind, weil wir uns nie getraut haben mal richtig nachzusehen.
In uns findet doch das wahre Abenteuer statt. Nicht irgendwo da draußen.
Aber vielleicht ist das ja eine Erkenntnis, die viel zu naheliegend ist, als dass wir uns dessen in unserem Alltag bewusst werden könnten? Schließlich werden wir den ganzen Tag dazu gedrängt, irgendetwas erledigen zu müssen; uns ständig um irgendwelche Sachen kümmern zu müssen; ständig irgendetwas planen zu müssen; uns ständig zu irgendetwas irgendwie verhalten zu müssen, sei es nun Politik, oder auch ganz alltägliche Dinge, wie etwa was es heute zu Essen gibt. Müssen ständig pünktlich sein; müssen unsere Verpflichtungen erfüllen, seien es nun welche, die sich aus unserem Job ergeben oder aus unserem Privatleben.
Im Grunde genommen sind wir doch alle Getriebene, oder vielleicht besser gesagt: Ver-triebene; werden wir alle ständig mit irgendetwas konfrontiert, das von außen an uns herangetragen wird; das wir erledigen müssen, um unseren Alltag meistern zu können.
Blicken wir aber mal nach innen, erscheint uns das oft geradezu als eine Art Störfaktor dabei.
Wer von uns hat denn angesichts dessen überhaupt noch die Zeit, darüber nachzudenken, weshalb wir tun, was wir tun, oder gar: wer wir überhaupt sind; oder ob das, was wir tun - müssen, auch das ist, was wir tun wollen?
Governementalität hat uns um Griff, und das nicht erst seit gestern. Es hat uns durchdrungen, dieses „Andere“, hat unser wahres Selbst besiegt, und zwar mit Begrifflichkeiten, die wir uns zu „Eigen“ gemacht haben; die unser wahres „Selbst“ ohne Gnade verdrängt haben.
Natürlich: „es“ ist noch da. Doch leider hat „es“ keine Sprache. Wir können „es“, selbst wenn wir „es“ wollten, gar nicht ausdrücken, weil „es“ keine Begrifflichkeiten hat, derer „es“ sich bedienen könnte. Denn ausnahmslos alle Begrifflichkeiten, die uns hierzu theoretisch zur Verfügung stehen könnten, kamen von Außen; waren in ihrem Sinn schon längstens vorgebildet, bevor wir überhaupt erst in diese Welt getreten sind. Was könnten sie angesichts dessen dann überhaupt mit unserem wahren „Ich“ zu tun haben?
Nicht nur die Begrifflichkeiten haben wir angenommen, sondern nach und nach auch deren Bedeutungen. Unser ganzer Denkapparat wurde davon durchdrungen und grenzte unsere Möglichkeiten des Ausdrucks radikal, erbarmungslos und vor allem auch systematisch ein. Alles war von da an nur noch dem funktionalen Prinzip unterworfen. Und weil „es“ nichts an sich hat, das den Bedürfnissen des „Anderen“ da draußen dient, ist „es“ verkümmert und hat sich wahrscheinlich irgendwo in eine dunkle Ecke in uns verkrochen. Von dort aus schaut „es“ sich das Konstrukt, das durch unseren Denkapparat und mit Hilfe der von außen gekommen Begrifflichkeiten entstanden ist, mit großen, ängstlichen und vor allem auch erstaunten Blicken an. Denn „es“ ist erstaunt darüber, dass „es“ sich so wenig zeigen kann, wo „es“ doch ursprünglich als erstes hier war. Aber die Gewalt von außen war einfach zu stark; zu brachial; zu eindringlich. Und, als das „Andere“ damals eingedrungen und „es“ überwältigt hatte, war „es“ einfach noch viel zu klein; hatte noch viel zu wenig gegen diesen übermächtigen Eindringling entgegenzusetzen gehabt. „Es“ war damals noch gar nicht richtig da gewesen, vielleicht lediglich als Potential; vielleicht nur als Möglichkeit einer späteren Entwicklung.
Doch das „Andere“ von außen brach mit Gewalt in diese zerbrechliche Hülle ein, fegte das zarte „es“ mit einem einzigen Handstreich weg, und besetzte den virtuellen Raum des Bewusstseins mit seiner eigenen Omnipräsenz, die sich unbarmherzig mit seinen Begrifflichkeiten, mit seinen Interpretationen und mit seinen Bedeutungen ausbreitete; sich verästelte; sich verzweigte; Gegensätze und damit Differenzen bildete, also eben genau das, was erst dazu befähigt, so etwas wie begriffliche Bedeutung hervorzubringen.
Und „es“ musste weichen, weil nicht genug Platz für beide im Bewusstsein vorhanden war. „Es“ musste sich verkriechen; sich verstecken, und konnte nur noch hoffen und beten, dass „es“ vom „Anderen“ nicht vollends ausgelöscht werden würde, also von eben jenem, der uneingeschränkt seine Macht über das Individuum einfordert und unerbittlich von ihm nach all seinen Ressourcen verlangt.
„Es“ ist noch da. Doch „es“ heißt nicht Thomas. „Es“ ist „es“ nicht, das gerade aus dem Haus gegangen ist und sich gewundert hat. „Es“ hat im Alltag von dem Wesen, das Thomas genannt wird, gar keinen Platz; gar keine Möglichkeit; gar keinen Raum, sich zu entfalten; sich zu entwickeln; in irgendeiner Weise sein immer noch vorhandenes, aber völlig verkümmertes Potential zu erfüllen.
Nur manches Mal flackert „es“ noch als unbestimmbare Begierde in dem Wesen, das Thomas genannt wird, auf, und kann bei diesem hin und wieder noch für ganz schön Verwirrung sorgen.
Zumindest bisher wurde diese Verwirrung aber jedes mal durch einen schnell gedachten Gedanken wieder verdrängt. Und das kleine verkümmerte „es“ musste wieder zurück in sein Versteck kriechen, um dort auf eine weitere Gelegenheit zu warten, an die Oberfläche zu kommen. Auf Gelegenheiten, die im fortschreitenden Alter des Wesens, das Thomas genannt wird, immer seltener zu werden scheinen und vielleicht irgendwann gar nicht mehr auftauchen werden. Und wenn dies dann geschehen ist, hat der „Andere“ ein für allemal gewonnen; ist der Sieg ein für allemal entschieden; hat das Wesen, das Thomas genannt wird, noch nicht einmal mehr das Bedürfnis, sich hin und wieder, wie es jetzt noch der Fall ist, mit so etwas wie Kunst zu beschäftigen. Und das wäre schade, wo doch dieses Bedürfnis das letzte kleine Echo seines wahren Selbst ist; das letzte kleine Aufflackern der Anteile in ihm, für die keine Begrifflichkeiten vorhanden sind, weil der Ursprung dessen in jenem Selbst zu finden ist, das so rein gar nichts mit den Bedürfnissen des „Anderen“ da draußen zu tun hat.
 
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