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5 Seiten

Kuro Neko

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Die fette, faule, schwarze Katze lag auf der Fensterbank und döste vor sich hin. Ab und zu öffnete sie ein Augen und sah nach draußen auf die Regentropfen, die gegen das Fenster prasselten und die Stadt mit einem trüben Schleier überzogen. Dass es durch das Fenster ein wenig zog, störte sie kaum, außerdem war sie viel zu bequem, um sich von ihrem Platz zu erheben und sich einen anderen zu suchen.
So blickte sie ab und zu über die Dächer Tokios und in die Häuserschluchten, in deren Tiefen Menschen mit Regenschirmen ihrem Alltag nachgingen. Sollten die Menschen doch laufen und hetzen, sie lag hier im dreizehnten Stock des in die Jahre gekommenen Hochhauses, dessen Bewohner sich inzwischen eine andere Bleibe suchten, sobald sie es sich leisten konnten.
Auch das störte die Katze wenig, denn bei den Mülltonnen im Hof fand sie immer den einen oder anderen zusätzlichen Happen, der hier achtlos weggeworfen wurde, weil sich angesichts des Zustandes des Gebäudes kaum noch jemand darum sorgte. Außerdem nahmen die meisten Menschen kaum Notiz von ihr, wenn sie durch die Flure oder sogar offene Wohnungen streunte. Die meisten hier hatten andere Sorgen als sich über eine fremde Katze Gedanken zu machen.
Als jetzt die beiden Kinder von Familie Matsuda ins Zimmer stürmten, die fette, faule, schwarze Katze zunächst streichelten und dabei fast von der Fensterbank schubsten, bloß, um sich dann mit lautem, freudigem Gekreische um ihre Spielsachen zu kümmern, stieß sie ein Maunzen aus, das sich wie ein langgezogenes Seufzen anhörte. Alle Glieder nacheinander streckend, erhob sie sich schwerfällig, sprang mit einem Satz auf den Boden und durchschritt dann das Zimmer, ohne die Kinder auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.
Herr Matsuda baute im Schlafzimmer ein neues Regal zusammen, wozu er ein paar Mal mit dem Hammer auf Nägel klopfen musste, ein Geräusch, das der fetten, faulen, schwarzen Katze einen missbilligenden Blick entlockte, bevor sie sich umdrehte und auf die Küche zusteuerte. Dort stand Frau Matsuda am Herd und die Katze maunzte, um eventuell etwas abstauben zu können. Leider gab es an diesem Tag wohl ein vegetarisches Gericht, so dass sie es vorzog, die Wohnung zu verlassen und im Flur sowie im Treppenhaus auf Streifzug zu gehen.
Die meisten Türen waren verschlossen, die Menschen dahinter gingen ihren eigenen Dingen nach, ohne sich darum zu kümmern, was in der Welt um sie herum passierte, so wie es eben in der Großstadt üblich war. Selbst diejenigen, die im Haus unterwegs waren, nahmen kaum Notiz von der schwarzen Katze, ihre Gedanken kreisten um andere Dinge und sie nahmen kaum etwas wahr, was nicht direkt mit ihnen selbst zu tun hatte.
Aus einigen Wohnungen hörte die fette, faule, schwarze Katze Stimmen, streitende, aufgebrachte, manchmal aber auch lachende, einige Menschen unterhielten sich auf den Fluren, die meisten aber hetzten an ihr vorbei, hatten es eilig, während sie alles, was kommen sollte, einfach auf sich zukommen ließ.
So entdeckte sie eine offene Wohnungstür, durch die sie hineinschlüpfte und sich in den Zimmern erst einmal gründlich umsah. Viel zu entdecken gab es nicht, keine Haustiere, keinerlei besondere Möbel und auch sonst kaum etwas, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Außer den Bewohnern selbst, die sich im Wohnzimmer gegenüberstanden und miteinander stritten. Worum es dabei ging konnte die schwarze Katze selbstverständlich nicht verstehen und es hätte sie auch gar nicht interessiert.
Daher sprang sie auf das Sofa, dann auf dessen Lehne und von dort aus über ein Regalbrett an der Wand auf den Schrank. Erstaunlich geschickt für ihre Körperfülle, der viele, die sie sahen, diese Anmut gar nicht zugetraut hätten. Die fette, faule, schwarze Katze sich selbst im Grunde auch nicht. Oben auf dem Schrank jedoch endete ihre Glückssträhne abrupt. Sie übersah eine gläserne Vase, stieß mit dem Hinterteil dagegen und das Stück kippte klirrend um, polterte über die Kante und zerschellte auf dem Fußboden.
Augenblicklich verstummten die beiden Menschen, sahen zuerst auf die Scherben, dann auf die fremde Katze auf ihrem Schrank. Die ergriff die Flucht und verkroch sich erst einmal schuldbewusst unter dem Sofa. Während der Mann noch nach ihr zu greifen versuchte, hatte sich die Frau längst gebückt, um die Überreste der Vase aufzusammeln und das Chaos zu beseitigen. Dabei schnitt sie sich an einer der scharfkantigen Scherben und schrie kurz und schrill auf.
Sofort war der Mann bei ihr, zog ein Taschentuch aus seiner Tasche, wickelte es ihr um den blutenden Finger und schloss sie dann in den Arm. Der Tonfall der beiden änderte sich nun grundlegend, was der Katze auffiel, obwohl sie natürlich nach wie vor nicht verstand, was sie miteinander redeten. Dennoch nutzte sie die Gelegenheit, um unter dem Sofa hervorzukriechen und durch die geöffnete Balkontür aus der Wohnung zu verschwinden.
Von der Balkonbrüstung gelangte die fette, faule, schwarze Katze auf einen Mauervorsprung, der sich an der Fassade entlangzog. Über diesen setzte sie nun ihren Weg fort, blickte in einige Fenster, auch wenn sie nur hinter wenigen etwas erkennen konnte. Einmal winkte ihr ein kleines Kind zu, worauf sie kurz stehen blieb, dann aber aus dem Blickfeld des Mädchens wieder verschwand.
Ab und zu blickte die Katze nach unten, wo die Menschen von hier aus wie Ameisen herumwuselten. Was sie zu tun hatten, interessierte die fette, faule, schwarze Katze ebenso wenig wie umgekehrt die Menschen dort unten überhaupt Notiz von dem Tier weit über ihnen nahmen.
Schließlich entdeckte sie ein halboffenes Fenster und schlüpfte aus purer Gewohnheit ins Innere. Es war warm, ein Fernseher lief und ein alter Mann war in einem Sessel offenbar eingeschlafen. Da es die schwarze Katze nicht interessierte, sprang sie ihm auf den Schoß, um von da aus die Wohnung weiter zu erkunden. Der Alte schreckte davon hoch, blickte sich für einen Augenblick orientierungslos um, dann wurde er klarer und rappelte sich auf.
Vermutlich hatte er nicht einschlafen wollen und war übermannt worden, das verstand sogar die fette, faule, schwarze Katze, ging es ihr doch oft ähnlich, wenn sie auf der warmen Heizung lag. Jetzt aber sprang der Mann für sein fortgeschrittenes Alter geradezu hektisch auf und eilte in die Küche. Die Katze folgte ihm, teil aus Neugier, teils dem Duft folgend, der von dort aus durch alle Zimmer strömte.
Je näher sie kam, desto beißender wurde der Geruch allerdings, was da auf dem Herd stand, roch nicht lecker, sondern verbrannt und die schwarze Katze war froh als der Alte den Herd nun ausschaltete. Hatte sie zuerst noch auf einen leckeren Happen gehofft, der für sie abfallen könnte, beobachtete sie den Mann nun nur dabei, wie er den Topf mit einem Tuch vom Herd zog, in die Spüle warf und kaltes Wasser aufdrehte, bevor er sich ermattet auf einen der Küchenstühle sinken ließ.
Hier gab es nichts zu holen, entschied die fette, faule, schwarze Katze, außerdem roch es immer noch verbrannt und als der Alte das Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen, entwischte sie hinaus und setzte ihren Weg fort. Da sie das Gebäude seit vielen Jahren kannte, wusste sie nur zu gut, wie sie über Vorsprünge und Simse immer weiter noch oben und schließlich sogar bis aufs Dach kam.
Von hier aus ließ sich ein großer Teil des gesamten Stadtviertels überblicken, zumindest so weit, bis die Fassaden modernerer und noch höherer Gebäude den Blick in die Ferne versperrten. Dennoch war es ein ziemlich atemberaubender Blick, vor allem jetzt, wo die Sonne allmählich hinterm Horizont verschwand und in den Fenstern wie auch unter auf der Straße überall die Lichter angingen. Viele Menschen kehrten nun in ihre Wohnungen zurück und von unten leuchteten unzählige bunte, flackernde Neonlichter, die sich in den Pfützen auf dem Asphalt brachen, bis hier hinauf, um sich dann im dunkler werdenden Nachthimmel zu verlieren.
Normalerweise war die fette, faule, schwarze Katze ganz allein hier oben. Sie genoss die Ruhe, wollte sie doch am liebsten den ganzen Tag von niemandem gestört werden. Diesmal jedoch war sie nicht allein. Am Ende des Daches, ganz an der Kante stehend entdeckte sie einen Menschen. Es war ein junges Mädchen, trug Schuluniform, hatte den Kopf gesenkt und schaute hinab in die Tiefe. Als die schwarze Katze näher kam, hörte sie ein Schluchzen.
Eigentlich ging es sie nichts an, was die Menschen trieben, interessierte sie auch nicht. Doch aus irgendeinem Grund war sie neugierig, schlich auf Samtpfoten noch ein paar Schritte näher und beobachtete das Mädchen. Tränen rannen ihr übers Gesicht, sie starrte in die Tiefe, machte immer wieder einen zögerlichen Schritt nach vorne und dann doch wieder zurück.
Es war ungewöhnlich, mehr wusste die Katze nicht. Dennoch ging sie noch näher, setzte sich kurz darauf neben das Mädchen und sah zu ihr hinauf. Erst jetzt erblickte der Mensch sie, beugte sich zu ihr hinunter und streichelte sie. Nicht überschwänglich wie die Matsuda-Kinder, sondern zögerlich und zunächst nur mit den Fingerspitzen. Da der Wind inzwischen aufgefrischt hatte, ließ die fette, faule, schwarze Katze es sich gefallen und schnurrte sogar.
So hockten das Mädchen und die Katze eine ganze Weile dort am Rande des Daches hoch über der Stadt, in der inzwischen das Nachtleben begonnen hatte und andere Menschen mit anderen Schicksalen auf die Straßen spülte. All das hätte der schwarzen Katze nicht gleichgültiger sein können und wohl auch dem Mädchen nicht, das das Tier immer noch, nur jetzt mit nicht mehr zitternder Hand über das glatte Fell strich.
Irgendwann begann das Mädchen zu sprechen, redete auf die Katze ein, erzählte ihr irgendetwas, das diese nicht verstand. Doch die Stimmlage des Mädchens ließ sie geduldig zuhören, sie wusste nicht, wie lange, Zeit spielte für sie ohnehin keine Rolle. Irgendwann aber erhob sich das Mädchen, wischte sich die letzten Tränen weg, trat von der Dachkante zurück und ging zur Luke zum Treppenhaus, die sie öffnete und dann hindurch schlüpfte.
Die fette, faule, schwarze Katze tat es ihr gleich und machte sich dann auf den Weg zurück zur Wohnung der Matsudas. Die Tür stand offen, Herr Matsuda schloss sie hinter der Katze und Frau Matsuda servierte ihr in der Küche ihr Abendessen. „Katze müsste man sein“, sagte Herr Matsuda lächelnd zu seiner Frau, „den ganzen Tag über nichts zu tun, sich um nichts zu kümmern, alles, was dort draußen in der Welt passiert, geht einen nichts an.“
Doch die fette, faule, schwarze Katze verstand natürlich nicht, was er sagte, sondern fraß auf und legte sich dann wieder auf ihren Platz auf der Fensterbank, um noch lange in die Nacht hinaus zu starren. Was hatte sie schon mit dem Schicksal der Menschen zu tun?
 
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Kommentare  

Sorry Axel, hatte deinen Kommentar gar nicht gesehen. Danke für das Lob.

Christian Dolle (18.06.2021)

Hat auch mir sehr gefallen. Schöner flüssiger Schreibstil und eine Story, die es in sich hat. Wirklich gelungen.

axel (09.06.2021)

Diese Perspektive der Katze, zumindest soweit das möglich ist, war mir beim Schreiben auch wichtig. Freut mich sehr, dass es dir gefallen hat, Dieter, danke für das Feedback.

Christian Dolle (27.05.2021)

Eine bezaubernde kleine Geschichte. Lebensecht! Wunderbar das Denken einer Katze geschildert im Gegensatz zu menschlichem Denken. Ich bin ganz begeistert. Grünes Licht für diese großartige short story.

Dieter Halle (24.05.2021)

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