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12 Seiten

Die Rache der Herzlosen

Schauriges · Kurzgeschichten · Herbst/Halloween
Teil 1 – Der Mann im Verlies

Vor sehr langer Zeit gab es sieben angelsächsische Königreiche in Britannia. Jedes dieser Königreiche war ambitioniert, über diese große Insel zu herrschen, um ein vereintes England zu gründen. Das frühe Mittelalter war eine finstere Zeitepoche, die von grausamer Gewalt, Willkür und Unterdrückung mächtiger Herrscher geprägt wurde. Insbesondre musste das arme Bauernvolk manchmal unter der Herrschaft ihres eigenen Königs leiden und immer damit rechnen, dass sie plötzlich von Geächteten überfallen, ausgeplündert und niedergemetzelt wurden. Außerdem wurde ständig Krieg geführt, Krieg im Namen des HERRN, wobei der Leidtragende immerzu das Volk war. Nur die adeligen Aldermänner, die reiche Besitztümer sowie Ländereien besaßen und die Berater ihres Königs waren, profitierten von gewonnenen Schlachten.
Jedoch die schlimmste Bedrohung für das zukünftige Königreich England sollten sehr bald die heidnischen Nordmänner sein, die wie eine unaufhaltsame Invasion über Britannia herfielen und Klöster, Kirchen, ungeschützte Städte sowie Bauerndörfer ausrotteten, niederbrannten und plünderten. Besonders waren die Dänen und Norweger gefürchtet, weil sie blutrünstige und kampferprobte Krieger waren, die keinerlei Angst vor dem Tod hatten, sich sogar danach sehnten, während des Kampfes auf dem Schlachtfeld zu fallen.
Ihre grausame Blutspur zog sich quer durch die Länder und wo auch immer die Nordmänner auftauchten, hinterließen sie großes Leid und wüste Zerstörung. Aber die Heiden waren nicht nur deswegen gefürchtet, sondern vielmehr weil man ihnen nachsagte, dass ihre Seher über dämonische Mächte verfügten. Die Seher waren oftmals uralte, weise Männer gewesen, die mit Odin, Thor und all ihren Göttern mental verbunden waren. Es hieß sogar, dass sie über Zauberkräfte verfügten, Schicksale vorhersagen konnten und ihre Krieger vor jeder Schlacht einen Blutrausch bescheren würden – sie zu Berserker machten – damit sie imstande waren selbst wehrlose Frauen, Mönche und gar Kinder skrupellos zu ermorden.
Vor jedem geplanten Überfall auf eines der Königreiche vollzogen die Nordmänner grausame Rituale, wobei sie einen Auserwählten für ihre eigenen Göttern opferten, um die Schlacht siegreich für sich zu entscheiden. Einigen Menschenopfer wurde beim lebendigen Leib das Herz herausgeschnitten, wobei es aber noch unbedingt pulsieren musste, damit der Auserwählte nach Valhalla gelangt, in das Gottkönigreich des Odin. Dies bedeutete für die auserwählten Menschenopfer eine große Ehre, denn es stand eigentlich nur einem tapferen Krieger zu, der auf dem Schlachtfeld getötet wurde, Valhalla zu betreten. Jedoch benötigte man für solch eine Prozedur eine spezielle Waffe – eine handgeschmiedete Sichel aus purem Silber sowie die Erfahrung eines Sehers. Der Sinn der Wikinger bestand darin, ihrem Gott Odin mit diesem Ritual zu beweisen, dass sie unbarmherzig und herzlos gegen ihre Feinde vorgehen werden und erhofften sich, nein sie waren davon überzeugt, dass ihre Götter den Christengott besiegen würde.

Zu jener Zeit herrschte König Osbert über Northumbria, das am Königreich Schottland angrenzte, und aufgrund der Verehelichung mit Lady Æthelflaed aus dem Königreich Mercia, waren diese Königreiche miteinander verbündet. Als sie gemeinsam gegen König Alfred dem Großen vorgehen wollten, der über das mächtige Königreich Wessex herrschte, wurde eines Tages das Kloster Lindisfarne in Northumbria von den Wikingern überfallen und der eigentliche Krieg und Terror sowie das verzweifelte Überleben aller Angelsachsen in Britannia hatte begonnen. Aber das eigentliche Übel dieses Überfalls war, dass nun dämonische Mächte dieses christlich gläubige Britannia überschattet hatte und es sich wie eine Heuschreckenplage über das Frankenreich und Germania, bis hin zum entfernten Osten, zu den Kiewer Rus verbreiten würde.
Die angelsächsischen Königreiche waren sich diesmal einig, dass die Heiden unbedingt vertrieben oder bekehrt werden müssten, andernfalls würde es niemals ein vereintes England geben. Die Nordmänner mussten gestoppt werden, bevor die falschen Götter weiterhin die Herzen der Menschheit vergiftet und letztendlich der Teufel, Satan, über diese Welt herrscht.
Obwohl die adlige Lady Æthelflaed nun Königin von Northumbria und Mercia war, war sie dennoch sehr unglücklich. König Osbert war ein widerwärtiger, fettleibiger alter Mann, hingegen die Lady eine junge, bildhübsche Frau war. Die blonde junge Frau liebte insgeheim einen anderen Mann, doch sie wurde aus politischen Gründen dazu gezwungen, diesen angesehenen Aldermann aus Mercia, der Land und Einfluss besaß, zu verschmähen.
Lady Æthelflaed fügte sich schließlich ihrem Schicksal, weinte täglich und ließ die Gelüste des widerwärtigen Königs Osbert über sich ergehen, aber war letztendlich froh darüber, dass die hitzige Leidenschaft des betagten Königs zwar guten Willens war, dennoch scheinbar nicht fruchten wollte.
Aber eines Tages gebar Königin Æthelflaed dennoch einen gesunden Knaben, den sie trotz alledem überaus liebte, obwohl sie ihren Gatten abgrundtief verabscheute. Sie kümmerte sich vorsorglich um ihren Sohn und entschied sich, ihren geliebten Aldermann aus Mercia für immer zu vergessen. Ab sofort hatte die junge Frau eine neue Lebensaufgabe. Ihr einziges Kind war nun der Thronfolger von Northumbria und sie musste ihn dementsprechend erziehen, und König Osbert schöpfte wieder Hoffnung, dass wenigstens sein Sohn eines Tages König von England werden würde.

An einem nebligen Novembertag, nachdem die hübsche Königin einen Thronfolger zur Welt gebracht hatte, stand plötzlich ein edler Herr mit einem schwarzen Ross vor dem Stadttor Eoforwic, der Hauptstadt von Northumbria. Die Wachsoldaten hatten diesen gutaussehenden Mann in die Stadt hineingelassen, schließlich konnte er sich als einen Lord aus Mercia ausweisen. Er verbrachte einige Tage in Eoforwic, übernachtete in verschiedenen Schenken und unterhielt sich mit betrunkenen Soldaten und Personen, die ihm für ein paar Silbermünzen geheime Informationen lieferten. Doch plötzlich, eines frühen Morgen als die Sonne noch nicht aufgegangen war, erschien ein Soldatenzug mit Fackeln vor der Schenke und traten die Tür seines Fremdenzimmers ein. Der junge Mann wurde einfach aus dem Bett gerissen, geschlagen, auf den Boden geworfen und gefesselt.
„Was soll das? Weshalb werde ich verhaftet? Was wird mir vorgeworfen?“, fragte der überrumpelte Mann aufgebracht.
„Uns ist zu Ohren gekommen, dass du unangenehme Fragen stellst, Bursche. Und so etwas tun nur Spione oder Landesverräter!“, wies der Hauptmann mit dem silbernen Soldatenhelm ihn zurecht.
„Diese Anschuldigung ist ungeheuerlich! Ihr begeht einen großen Fehler! Ich bin ein Aldermann aus Mercia und verlange König Osbert zu sprechen! Auf der Stelle! Ich muss Majestät eine wichtige Botschaft überbringen. Und redet mich gefälligst mit Herr oder Lord an, Soldat!“, giftete er die Soldaten zornig an, während er gefesselt am Boden lag.
Der Hauptmann grinste.
„Wie Ihr wünscht … Herr. Aber die Majestät will Euch nicht anhören, weil Lord König unverzüglich Eure Inhaftierung befohlen hat. Also, schafft diesen elendigen Spion aus Wessex in das Verlies!“, brüllte der Hauptmann.
„Das ist ein Irrtum! Ich bin nicht aus Wessex … Ich bin nicht aus Wessex!“, schrie der Mann verzweifelt, während er ruppig abgeführt wurde.

Im tiefen Kerker der Königsburg war es düster, es roch moderig und wenn der Häftling auf die rundgemauerten Steinwände hoch hinaus schaute, erblickte er ein massives Eisengitter, dieses er jedoch niemals zu fassen bekommen würde. Er glaubte in einen großen Brunnen eingesperrt zu sein, dort hinaus es niemals einen Ausweg gibt.
Der Mann im Verlies konnte sich in seiner Behausung zwar frei bewegen, aber an seinen Knöcheln wurden Eisenschellen angebracht, die mit langen Eisenketten verbunden und am Steingemäuer fest verankert waren. Selbst wenn er die Wachsoldaten überrumpeln würde, die ihm täglich seine Mahlzeiten überbrachten, wäre es für ihn unmöglich gewesen, durch die geöffnete Kerkertür zu flüchten. Eine Flucht wäre ohnehin ein sinnloses Unterfangen gewesen, denn die Königsburg York, die Königsburg von König Osbert in der Stadt Eoforwic, galt als eine uneinnehmbare Festung, die rund um die Uhr von bewaffneten Soldaten bewacht wurde.
Man ernährte den Mann im Verlies nur notdürftig, sodass er nicht verhungerte aber auch niemals wirklich satt wurde. Zum Trinken gaben die Wachsoldaten ihm zu jeder Ration nur zwei Kellen voll frischem Wasser, ansonsten musste er auf Regen hoffen oder im Winter auf Schnee, was er in einem Blecheimer auffing, darin er aber auch seine Notdurft verrichtete. Der Mann im Verlies sollte nur am Leben gelassen werden und durfte keinesfalls sterben, hatte König Osbert befohlen. Dieser Gefangene sollte besonders leiden.

Zuerst rüttelte der adlige Mann noch tagtäglich an den Gitterstäben, flehte die Wachsoldaten an, dass er König Osbert zu sprechen wünscht, aber er erntete nur Hohn und Verspottung.
„Ich erbitte eine Audienz bei der Majestät! Lasst mich mit dem König reden! Es handelt sich um ein Missverständnis! Ich bin kein Spion!“, sprach der junge Mann anfangs völlig empört. „Ich habe mit Wessex nichts zu tun. Ich bin ein Aldermann aus Mercia!“, beteuerte er. „Aus Mercia!“
„Es handelt sich um ein Missverständnis, ich erbitte eine Audienz beim König“, äffte der Wachsoldat ihn albern nach, woraufhin lautes Gelächter erklang.
„Du feiner Pinkel bist also der Meinung, unsere Majestät irrt sich in seinem Urteil? Dann sag uns, was du verbrochen hast, dass du eingesperrt wurdest. Weshalb verwehrt dir Majestät einen öffentlichen Prozess? Du siehst nicht unbedingt wie ein Däne, sondern eher wie ein schnöseliger Pikte aus. Vielleicht ist es wahr, dass du kein Spion von diesem elendigen König Alfred bist, sondern eher von König Konstantin von Schottland? Dann bist du ein wahrer Landesverräter!“
Diese Vermutung war eigentlich nicht abwegig, denn die Dänen waren meist rauschbärtige und kräftige Typen, dessen stechende Blicke die pure Angriffslust widerspiegelten. Dieser schmächtige, dunkelhaarige Mann jedoch sah gepflegt aus, war gutgekleidet und machte einen gebildeten Eindruck. Außerdem trug er ein Kruzifix um seinen Hals, doch die Nordmänner trugen stets Holzketten um ihre Hälse, die das Hammerzeichen des Gottes Thor symbolisierten, aber niemals ein Kruzifix.
„Na los, erzähle uns wer du wirklich bist und was du verbrochen hast, oder wie deine Botschaft lautet. Erst dann werden wir eine Audienz für dich arrangieren … Vielleicht“, antworteten die Soldaten grinsend.
Daraufhin schüttelte der Mann im Verlies mit dem Kopf und ließ von den Gitterstäben ab.
„Das werde ich euch nicht verraten, weil es Majestät gewiss nicht erwünscht. Ich muss mit Lord König unbedingt vertraulich reden!“, erwiderte er energisch. „Glaube mir, Soldat, ich bin reich und werde euch alle großzügig belohnen. Ich besitze Land, sehr viel Land und Reichtümer. Ermöglicht mir, dass ich mit König Osbert spreche und ich werde euch entlohnen!“
Lautes Gelächter erklang.
„Du armer Wicht willst uns also weismachen, dass du reich bist und Land besitzt? Schau dich doch mal um. Wo sind denn all deine Silberthaler und deine Knechte?“ – Er deutete mit dem Finger auf den Boden – „Das hier, wo du dich grad befindest, ist von nun ab dein Land. Davon wollen wir aber nichts abhaben“, lachte der Wachsoldat. „Du brauchst keine Audienz bei unseren König, mein schnöseliger Herr, sondern von nun ab nur noch unsere Sympathie. Und diese wirst du vorerst nur erlangen, wenn du uns sagst, weshalb der König dich einsperren ließ.“
Sein silberner Soldatenhelm schimmerte im Fackellicht rötlich, während er genüsslich in eine Putenkeule biss und dabei schmatzte. Sie warteten gespannt darauf, dass er ihnen sein Geheimnis verraten würde, doch der junge Mann starrte die Wachsoldaten stattdessen nur an, obwohl er langsam hungrig wurde.
„Du entscheidest dich also zu schweigen? Nun ja, dann werden auch wir dein Anliegen schweigend hinnehmen“, grinste der Soldat, biss nochmal von seiner Putenkeule ab und warf ihm den abgenagten Knochen zu. Dann stiegen die Wachsoldaten laut lachend die Wendeltreppe hinauf.

Wochen und Monate vergingen. Der Mann im Verlies schrie täglich um Gnade, dass man ihn wieder herauslassen sollte oder er sich wenigstens vor dem König rechtfertigen dürfte, wobei er immer kräftig an den Gitterstäben rüttelte. Aber er bekam nur seine dürftigen Rationen und irgendwann, nach einigen Jahren wurde ihm bewusst, dass er dieses Verlies möglicherweise nie wieder lebendig verlassen würde, insofern kein Wunder geschehen würde.
Der einst gutaussehende Mann begann allmählich zu verwahrlosen. Sein Haar sowie sein Bart wucherten, manchmal wurden ihm neue Wolldecken und frische Lumpen gewährt, diese er mit seiner völlig verdreckten und durchnässten Kleidung wechseln durfte. Wenn es in Strömen regnete hatte der Mann im Verlies zwar genügend Trinkwasser zur Verfügung, weil weit hoch oben das Eisengitter kein schützendes Dach war, dafür war er aber stets durchnässt und musste nachts frieren. Insbesondre im Winter. Und in der Sommerzeit schien die glühende Sonne unbarmherzig in die tiefe Grotte hinein, wobei der Mann im Verlies sich nirgendwo im Schatten schützen konnte und ihn ständig der Durst quälte. Aber der König ließ selbst nach dieser langen Zeit keine Gnade walten und befahl weiterhin, dass der Mann im Verlies weder freigelassen noch in diesem Verlies vorzeitig sterben dürfte. Er sollte in diesem Kerker grade so am Leben gehalten werden, bis er irgendwann von selbst verenden würde. König Osbert war so herzlos gewesen, dass er seinen persönlichen Häftling weder besucht, noch sich seine Rechtfertigung jemals angehört hatte.
Weitere Jahre vergingen. Sonne und Mond wechselten täglich am Himmelszelt sowie die Jahreszeiten kamen und gingen.
Der Mann im Verlies war dennoch beharrlich, wollte sich keinesfalls seinem erbärmlichen Schicksal kampflos fügen und schrie weiterhin, trommelte verzweifelt seine Hände gegen das Gemäuer und dem Eisengitter, bis sie bluteten, um die Aufmerksamkeit des Königs zu erlangen. Aber all seine Bemühungen waren vergebens. König Osbert verweigerte jegliche Anhörung und ließ nie verlauten, weshalb der Mann im Verlies eingesperrt wurde. Um sich tagsüber seine Zeit zu vertreiben, begann er irgendwann die gemauerten Steine seines runden Verlieses zu zählen. Oftmals verzählte er sich, dann schmunzelte der Mann im Verlies und begann wieder unten, vom ersten Stein an zu zählen.
Hass und Wut vergifteten dem gläubigen Christen allmählich die Sinne und er merkte selbst, dass er langsam wahnsinnig wurde und seinen Glauben an Jesus und Gott verloren hatte. Der Mann im Verlies verfluchte irgendwann sogar Jesus Christus, weil er immer, all die langen Jahre, die er in diesem düsteren, moderigen Gefängnis ausharren musste, fest an ihn geglaubt hatte. Aber er wurde scheinbar nicht erhört. Es gab auch Zeiten, dass er unaufhörlich Verse aus der Bibel zitierte und diese stundenlang, so laut er konnte hinaus brüllte, bis die Wachsoldaten das Gittertor aufschlossen und ihn verprügelten, bis er bewusstlos am Boden lag. Danach spuckten sie auf ihn, verschlossen das Gittertor und ließen ihn schwerverletzt einsam am Boden liegen.

All die Jahre hatte er immer wieder seine Halskette mit dem Kruzifix von sich gerissen, hatte es auf den Boden geworfen und war darauf wütend rumgetrampelt. Danach hatte er sich tagelang gegen die gerundete Mauer gelehnt und nur vor sich hingestarrt. Letztendlich hatte er geweint und Christus um Verzeihung gebeten, dass er seine Halskette abgerissen und ihn verspottet hatte. Der Herrgott war doch der Einzige, zu dem er sprechen konnte und der ihm zuhörte. Der Mann im Verlies schöpfte immer wieder Hoffnung und versuchte zu glauben, dass irgendwann ein Wunder geschehen würde. Ein Wunder, dass ihn aus dieser verzweifelten Misere befreien würde. Vielleicht, so hoffte er, wenn König Osbert eines Tages sterben würde, dann wäre Lady Æthelflaed gewiss barmherzig und würde ihn befreien. Schließlich war sie ebenfalls aus Mercia. Also flickte er seine Halskette immer wieder zusammen und band sich diese wieder um.
Er hatte auch immer wieder daran gedacht, sich selbst das Leben zu nehmen. Mit der Eisenkette, die mit einer Schelle an seinen Knöchel verschlossen war, hatte er unzählige Male versucht, sich selbst zu erdrosseln. Er hatte sich immer wieder so lange die Atemluft abgedrückt, bis er ohnmächtig zu Boden viel. Aber er war immer wieder erwacht und hatte sich dann schluchzend zusammengekrümmt, dann war ihm seine hoffnungslose Situation immer klarer geworden.

Der Mann im Verlies hatte sein verzweifeltes Geschrei irgendwann nach weiteren Jahren aufgegeben und wanderte stattdessen täglich im Kreis herum, bis er vor Erschöpfung umfiel und auf der Stelle einschlief. Manchmal erwachte er, weil die Sonnenstrahlen mittags auf ihn herabschienen, aber manchmal erwachte er auch im Dunkeln, irgendwann in der Nacht oder früh am Morgen. Sein Zeitgefühl hatte er längst verloren.
Dann blickte er erschöpft hoch oben zum runden Eisengitter und betrachtete die hellen Sterne. Manchmal schien sogar der Vollmond und beleuchtete sein Verlies mit einem angenehmen, silbrigen Licht. Diese klaren Vollmondnächte waren für ihn wie Feiertage gewesen, etwas Besonderes, was ihn stets erfreute. Denn wenn er hoch hinaus auf das klare leuchtende Mondlicht blickte, fühlte er sich geborgen und von Gott beobachtet. Er war seit seiner Geburt ein gläubiger Christ und glaubte, dass der Herrgott ihn trotz alldem beistand und er ihn nur prüfen wollte, ob er dieser Pein gewachsen war, um etwas Größeres, etwas Wichtigeres als das Leben zu bestehen. Aber was sollte das bloß sein, fragte er sich immer wieder. Hat ihm Gott diese qualvolle Bürde auferlegt, um ein höheres Ziel zu erlangen? Die Gedanken des Mannes im Verlies waren verworren, jedoch hielten ihn grad diese verrückten Gedanken am Leben, weil er weiterhin an den Herrgott glaubte. Die Zweifel an der Realität verwischten sich in seinen Gedanken mit dem Wunschdenken, dass ein Wunder Gottes ihn eines Tages befreien würde.
Doch immer wieder, wenn ihn der unbändige Zorn übermannte, rüttelte er wütend an den Gitterstäben und schrie so laut, bis es hinauf zum König Osberts Schlafgemach zu hören war. Daraufhin ließ der König den Mann im Verlies in der Folterkammer auspeitschen, bis dieser ohnmächtig zusammenbrach und endlich verstummte, weil der Gefangene des König Osberts Schlaf raubte. Danach wickelte man ihn in ein Leichentuch ein, damit seine Wunden schneller verheilten, und warf ihn wieder zurück in seine erbärmliche Behausung. Der Mann im Verlies blieb daraufhin manchmal tagelang regungslos liegen, sodass der König anordnete, dass der Häftling zwangsernährt werden müsste, damit er am Leben bleibt und weiterhin Qualen erleidet.
Nachdem mindestens zehn Jahre seines qualvollen Leidens vergangen waren, wurden plötzlich andere Häftlinge in sein Verlies miteingesperrt, die zum Tode verurteilt wurden. Meistens sollten sie geköpft werden, gehängt oder wenn der Verbrecher ein Landesverräter, gar ein Nordmann war, wurde dieser sogar beim lebendigem Leib verbrannt. Die Hinrichtungen fanden stets öffentlich statt, und das Volk auf dem Marktplatz war fasziniert und jubelte. Solche grausame Events waren beim Volk sehr beliebt, weil Schwerverbrecher ihre gerechte Strafe bekamen und in der Stadt endlich mal was los war.
Der Mann im Verlies, der bereits über vierzehn Jahre einsam eingesperrt war und jetzt plötzlich ständig mit Verbrechern konfrontiert wurde, sah nun einen Sinn in seinem erbärmlichen Leben. All diese Leute, ob nun alt oder jung, ob nun Mann oder Frau oder sogar Jugendliche, sollten zum Tode verurteilt werden. Die Menge jubelte.
Obwohl der Mann im Verlies seinen Glauben an Jesus Christus und dem Herrgott immer wieder verloren und irgendwie doch wieder gefunden hatte, er also selbst eine zerrissene Person geworden war, sah er sich dazu berufen, diesen verdorbenen Seelen ihre Absolution zu erteilen. Manchmal erkannte er, dass ein Häftling zu Unrecht zum Tode verurteilt wurde aber er nichts dagegen unternehmen konnte. Sie waren dennoch Totgeweihte, die oftmals bitterlich in seinen Armen weinten und ihre Unschuld bekundet hatten. Er versuchte sie zu trösten und versicherte ihnen, dass der Herrgott sie in seinem himmlischen Königreich aufnehmen würde, weil er ihre Unschuld erkennen würde. Aber selbst wahren Verbrechern, die ihm letztendlich ihre Schuld beichteten, erteilte der Mann im Verlies ebenfalls die Absolution, beruhigte sie vor ihrer Hinrichtung, hielt sie in seinen Armen und vergab ihre Sünden, wie Jesus Christus es getan hatte.
Der Mann im Verlies war nun mittlerweile berühmt und bei jedem Schwerverbrecher sowie beim Volk beliebt geworden, weil er Häftlinge im Namen des HERRN deren Sünden vergab; doch die Kirche verurteilte den Mann im Verlies und verlangte von König Osbert, der bereits kränklich im Sterbebett lag, dass dieser endlich hingerichtet werden sollte.
Der Mann im Verlies wäre ein Dämon und Lügner, der Verbrecher trösten und ihnen versichern würde, dass sie trotz alledem von Gott begnadigen und in das Himmelreich gelangen würden. Dies wäre Gotteslästerung und müsste mit Verbrennen am lebendigen Leib bestraft werden. Aber der sterbenskranke König Osbert wies die Forderungen der Priester und seinen Aldermännern energisch zurück und zitierte stattdessen seinen mittlerweile fünfzehnzehnjährigen Sohn zu sich.
Der blutjunge Prinz Æthelstan kniete vor dem Sterbebett seines Vaters nieder und hielt dessen Hand.
„Æthelstan … Du, mein einziger Sohn“, röchelte der König. „Eines Tages wirst du König von England sein, davon bin ich überzeugt. Aber um das zu erreichen, musst du gnadenlos sein, jede Schlacht gewinnen und dein Volk stets unterhalten. Sei grausam und biete dem Volk etwas einzigartiges, für das sie dich lieben. Dann wirst du auch König von ganz England werden. Niemals darfst du den Mann im Verlies begnadigen oder hinrichten lassen, andernfalls wird es dich deinen Thron kosten!“
„Aber was hat der Mann im Verlies denn getan?“, fragte der junge Prinz mit kindlicher Stimme.
König Osbert lächelte kurz, während er sich an seiner Brust griff und schwerfällig atmete.
„Die Wahrheit würde dich deine Krone kosten, also versuche es niemals herauszufinden. Hüte dich vor deiner Mutter. Sie ist das eigentliche Übel und kennt das Geheimnis. Du musst …“,
König Osbert packte seinen Sohn am Kragen, zog ihn grob heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann starb König Osbert, ächzend und mit offenen Augen.

Noch in derselben Nacht schlich sich Æthelstan wiedermal hinunter in das Verlies, um sich das jammervolle Geschrei des Häftlings anzuhören. Dies tat er schon als kleines Kind denn sein Wehklagen war für ihn ein bittersüßer Klang, das ihn stets gruselte und von dem er niemals genug bekam. Er hatte sich immer auf die oberste Treppenstufe gehockt, seine Beine umklammert, dabei leicht gewippt und dem Mann im Verlies dabei gespannt zugehört, wie er jammerte und um Gnade flehte. Nun war Æthelstan ein Jugendlicher und obendrein würde er in absehbarer Zeit gekrönt werden. Er hatte sich nie getraut, den Mann im Verlies anzublicken, doch diesmal wollte er ihn zum ersten Mal in die Augen schauen.
Er stieg leicht zitternd hinunter in das dunkle Gefängnis und da stand er, der Mann im Verlies und hielt sich an den Gitterstäben fest. Er sah unheimlich aus. Seine ergrauten Haare reichten ihm bis zu seinen Hüften, ebenso lang war auch sein Bart und er trug verdreckte Lumpen. Kettenrasseln erklangen, als der Häftling den jungen König bemerkte.
„Wer ist da?“, fragte er mit erschöpfter Stimme.
„Ich bin dein neuer König. König Æthelstan.“
„Komm näher, Æthelstan, so dass ich dich im Fackellicht sehen kann.“
Der junge König ging langsam auf ihn zu.
„Sag mir, Mann im Verlies, was würdest du tun, wenn ich dich freiließe?“
Seine trüben Augen blickten den Knaben verwundert an. War das Wunder nun geschehen, fragte er sich.
„Was ich tun würde?“, antwortete der Mann, wobei ein Hoffnungsschimmer in seinen verquollenen Augen aufblitzte. „Ich würde zuerst über grüne Wiesen laufen und den wundervollen Himmel betrachten. Ich würde mich am Duft des Waldes erlaben und ein gutes Weib heiraten, um eine große Familie zu gründen. Meine Reichtümer und Ländereien, die ich einst besaß, interessieren mich nicht. Ich würde gerne ein Bauer sein und den Acker bestellen und …“
Plötzlich stockte der Mann im Verlies, wobei die Freude wieder aus seinen Augen entschwand.
„Aber du wirst mich nicht freilassen. Ist es nicht so?“
Der blondgelockte junge König grinste.
„Weißt du, Mann im Verlies, das würde ich gerne aber mein Vater hatte mir davon abgeraten. Aber meine Mutter jedoch, sie wäre gewiss gnädig.“
Der Häftling umklammerte die Gitterstäbe.
„Dann lasse mich mit Lady Æthelflaed reden!“, herrschte er den jungen König an, woraufhin Æthelstan zusammenzuckte und sich rückwärtsgehend langsam abwendete.
„Nein, denn es ist zu spät.“
„Warum zu spät?“
„Mein Vater flüsterte mir seine letzten Worte ins Ohr. Er sagte, dass nur meine Mutter weiß, weshalb du eingesperrt wurdest. Es ist ein Geheimnis, welches niemand erfahren darf. Noch nicht einmal ich. Sollte ich oder irgendjemand die Wahrheit erfahren, würde ich niemals König von England werden.“ Der Junge lächelte und stieg langsam die Wendeltreppe hinauf. „Und weil ich unbedingt König von England werden will, muss ich dafür sorgen, dass meine Mutter schweigt … Für immer.“
Angst spiegelte sich in den Augen des Mannes. Er rüttelte an den Gitterstäben und schrie.
„Nein, Æthelstan, nein! Tu das nicht! Du darfst deiner Mutter nichts antun! Das darfst du nicht!“, brüllte der Mann im Verlies, doch Æthelstan ging lächelnd die Wendeltreppe hinauf und ließ die Tür zum Kerker wieder verschließen.
 
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Kommentare  

Wahnsinnig spannend. Kann das nächste Kapitel kaum abwarten.

Gerald W. (30.10.2022)

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