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Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/Heimat und Sehnsucht /Episode 1/Das Moorsoldatenlied und die neuen Lehrerinnen

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Das Buch gibt es ab 5. September 2024 im Handel

Wir schreiben das Jahr 1951
Episode 1
Das Moorsoldatenlied und die neuen Lehrerinnen

Der nächste Tag brachte so einige Aufregungen. Er fing schon gut an. Else hatte verschlafen. Demzufolge die Kinder natürlich zu spät geweckt. Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Ohne zu frühstücken, zogen Rosi, Jutta und Karlchen ihre Sachen an und rannten los.
"Ich habe ein ganz komisches Gefühl", sagte Rosi.
"Warum denn das?", wollte Jutta wissen.
„Weiß auch nicht", erwiderte Rosi. "So in der Magengegend."
„Mir geht es genauso“, sagte Jutta und rollte mit den Augen.
„Vielleicht, weil wir nichts gegessen haben", vermutete Rosi.
"Nein", sagte Jutta. "Es ist anders."
"Wie anders?"
"Na, es ist das gleiche Gefühl", sagte Jutta zu Rosi, "das du immer hattest, wenn was Schreckliches passiert ist."
"Nun aber", sagte Rosi", "mal nur den Teufel nicht an die Wand. Was soll schon passieren?"
„Vielleicht ist das Schultor abgeschlossen“, vermutete Karlchen.
„Und wir können nicht mehr rein“, befürchtete Jutta.
„Und sind dann die Schulschwänzer. Owei“, witzelte Rosi.
„Ich glaube, es ist noch etwas Zeit“, sagte Karlchen zuversichtlich. „Wir können es noch schaffen."
"Wir müssen unbedingt pünktlich sein", sagte Rosi. "Ich muss mich doch bei Herrn Mikowitsch entschuldigen."
"Das stimmt", sagte Jutta. "Da habt ihr euch gestern ja was Tolles geleistet."
"Dir hätte das dein lieber Herr Mikowitsch wirklich nicht zugetraut", spottete Karlchen. "Aber so kann man sich täuschen", lachte er. „Da nehmen wir mal schnell die Abkürzung über die Windhöfe.“

Vor Metzners Haus mit dem Schild „Metzners Sattlerei“ blieb Karlchen stehen. Rosi und Jutta auch.
"Warum läufst du denn nicht weiter?", wollte Rosi wissen. "Wenn du hier festwurzelst, kommen wir doch noch zu spät."
„Jetzt habe ich auch so ein komisches Gefühl", sagte Karlchen.
"Hoffentlich trügt es diesmal“, sagte Rosi. "Los, schneller."
Karlchen rannte wieder los. Jutta und Rosi hinter ihm her.
Völlig außer Atem kamen die Kinder an.
Das Schultor war verschlossen. Obwohl es noch Zeit war. Das zeigte die große, runde Uhr im dritten Stock in der Mitte der beiden Flügel an.
Vor dem verschlossenen Schultor standen die Schüler. In Viererreihen.
"Seltsam", wunderte sich Rosi. "Hier ist was los."
"Unser Gefühl", sagte Karlchen.
"So etwas hat es noch nie gegeben", sagte Jutta." Jedenfalls nicht vor Unterrichtsbeginn.
„ Guckt mal die Fahne“, sagte Rosi erschrocken.
Rosi, Jutta und Karlchen bildeten den Schluss der langen Viererreihenschlange. Am liebsten hätte sich Rosi vorgedrängelt. Doch das war verboten. Und bei der seltsam gedrückten Stimmung, dem Schweigen und der Stille, die die Schüler und die Lehrer umgaben und über dem ganzen Schulgebäude lag, hätte sie sich sowieso nicht getraut.

Die schwarzrotgoldene Fahne mit dem Emblem der DDR, Hammer, Zirkel und dem Ährenkranz in der Mitte, war auf Halbmast gezogen. Um den Fahnenmast herum standen der Rektor und das Lehrerkollegium im Kreis. Alle schwarz gekleidet. Mit ungewöhnlich ernsten Gesichtern. Etwas abseits tuschelte die Pionierleiterin Fräulein Müller in ihrer blauen FDJ-Bluse mit der aufgehenden Sonne am linken Ärmel mit einem Lehrer.
Nach einigen Minuten öffnete der Hausmeister endlich das Tor.
Langsam stellten sich die Schüler, nun in Zweierreihen, hinter ihre Klassenlehrer. Danach trat der Rektor vor den Fahnenmast.
„Bestimmt wundert ihr euch“, begann der Rektor seine Rede mit einer traurigen Stimme, „dass wir uns alle heute hier auf dem Schulhof versammeln. Und nicht in der Aula. Wie sonst zu besonderen Anlässen. Und dass die Fahne auf Halbmast gezogen ist. Was eine besondere Art der Trauer bedeutet. “ Der Rektor machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr: „Unser heutiges Zusammenkommen geschieht aus einem sehr traurigen Anlass“, sagte er leise. „Wir haben erfahren, dass unser sehr verehrter Kollege, euer geliebter Lehrer, liebe Schüler, Herr Rau, leider verstorben ist. Er ist seinen inneren und äußeren Verletzungen, die ihm im Konzentrationslager Börgermoor, in dem er als antifaschistischer Widerstandskämpfer inhaftiert war, zugefügt worden sind, nach langer Krankheit erlegen. Also …“, sagte der Rektor noch leiser: „Herr Rau ist tot. Legen wir ihm zu Ehren jetzt eine Schweigeminute ein.“
Obwohl sowieso alle Kinder geschwiegen hatten, hielten sie jetzt fast den Atem an. Kein Laut sollte über ihre Lippen kommen
Die Nachricht war zu schrecklich.
"Der arme Herr Rau", flüsterte Rosi nach der Schweigeminute.
Und der Rektor sagte: „So liebe Kollegen und liebe Schüler, nun hören wir uns noch das Lied der Moorsoldaten über unseren neu installierten Lautsprecher an. Es ist ein Lied, dass die Häftlinge immer gesungen haben, wenn sie frühmorgens mit ihren Spaten ins Moor gezogen sind und dort bist zum Sonnenuntergang arbeiten mussten. Das Lied werdet ihr später im Musikunterricht lernen. Nach dem Lied wird die Fahne wieder hochgezogen. Und der Unterricht kann beginnen.“

Kaum hatte der Rektor seine Rede beendet, erklang das Lied der Moorsoldaten aus dem neu installierten Lautsprecher.

Die Moorsoldaten
Lied von Hannes Wader

Wohin auch das Auge blicket
Moor und Heide nur ringsum
Vogelsang uns nicht erquicket
Eichen stehen kahl und krumm

Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor
Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor

Hier in dieser öden Heide
Ist das Lager aufgebaut
Wo wir fern von jeder Freude
Hinter Stacheldraht verstaut

Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor
Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor

Morgens ziehen die Kolonnen
Durch das Moor zur Arbeit hin
Graben bei dem Brand der Sonne
Doch zur Heimat steht der Sinn

Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor
Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor

Auf und nieder geh'n die Posten
Keiner, keiner kann hindurch
Flucht wird nur das Leben kosten
Vierfach ist umzäunt die Burg

Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor
Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor

Doch für uns gibt es kein Klagen
Ewig kann nicht Winter sein!
Einmal werden froh wir sagen
Heimat du bist wieder mein!

Dann zieh'n die Moorsoldaten
Nicht mehr mit dem Spaten
Ins Moor
Dann zieh'n die Moorsoldaten
Nicht mehr mit dem Spaten
Ins Moor

*

"Ist das ein trauriges Lied", sagte Rosi auf dem Nachhauseweg. "Mir sind gleich die Tränen gekommen. Besonders, weil es für Herrn Rau war."
"Ja", stimmte Jutta Rosi zu. "Er war so ein guter Lehrer."
"Und war in dem schrecklichen Konzentrationslager. Ich wusste gar nicht, dass es das gab", sagte Rosi. "Nur von Buchenwald."

Bisher hatten die Kinder nichts von dem Konzentrationslager Bürgermoor gehört. Nur von Buchenwald. Auf dem Ettersberg in Weimar. Nicht so weit entfernt von Buttstädt.
Gleich nach Kriegsende hatten sich die Gräueltaten, die im KZ Buchenwald geschehen sind, herumgesprochen. Zum Entsetzen der Menschen. Die nichts davon gewusst haben wollen. Else auch nicht. Jetzt sahen sie das Gefangenenlager, wie sich sich ausdrückten, in einem ganz anderen Licht.
"Keiner konnte ahnen", sagte Else, "dass dort zigtausende Juden und Kommunisten umgebracht worden sind."
*
"Jetzt konnte ich mich nicht bei Herrn Mikowitsch entschuldigen", sagte Rosi einige Tage später zu Heinrich. "Nun ist es zu spät."
"Ja", sagte Heinrich, "ich auch nicht. "Aber ein schlechtes Gewissen habe ich doch."
Die Kinder dachten noch oft an den Tag mit dem Schweineringelschwänzchen. Den Tag, an dem sie dem Russischlehrer Herrn Mikowitsch den Streich gespielt hatten. Und den schrecklichen Tag danach.
Dieser verhängnisvolle Tag war für die Schüler, und wahrscheinlich auch für die meisten Lehrer, so etwas wie ein Schockerlebnis. Es hatte die Jahre der Vergangenheit, und besonders die des Krieges, in einem noch düsteren Licht erscheinen lassen. Einem Licht, das aus den Verbrechen des schrecklichen Krieges und seinen Folgen entstanden war. Und, obwohl die Kinder ihre Gefühle noch nicht in Worte fassen konnten, spürten sie doch, dass sie mit diesem Erlebnis einen Teil ihrer Unbekümmertheit verloren hatten.
*
Allmählich verblasste die Erinnerung an den tragischen Tod des Lehrers Herrn Rau. Auch bei Rosi. Zumal die Klasse 7 b einige Tage später eine neue Klassenlehrerin bekam. Fräulein Ziehe.
'Ist die allerliebst', dachte Rosi.
Fräulein Ziehe war nur einige Jahre älter als die Schüler. Sie war klein und zierlich. Ihre blonden Haare umrahmten ihr schmales Gesicht wie eine leuchtende Sonne. Ihre Augen waren blau.
'Wie ein wolkenloser Himmel im Sommer', hatte Rosi ein Bild vor Augen.
Begeistert starrte sie Fräulein Ziehe an.
Fräulein Ziehe erschien Rosi wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Vielleicht war sie ja ein Engel. Den Gott gesandt hat. So als Ersatz für Herrn Rau. Den er zu sich gerufen hat. Wie Else sich ausdrücken würde. Und zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Rosi so etwas wie 'Liebe auf den ersten Blick'. Und bestimmt würde sie alles tun, um zu den Besten in der Klasse zu gehören.
Fräulein Ziehe stellte sich vor den Lehrertisch. Aufmerksam blickte sie in die Klasse. Es schien, als würde sie jedes Kind ganz genau ansehen. Um sich ein erstes Bild von jedem Schüler zu machen.

In der Klasse war es mucksmäuschenstill, als sich Fräulein Ziehe der Klasse vorstellte.
„Liebe Schüler “, sagte Fräulein Ziehe, "leider verdanke ich meine Berufung zu eurer Klassenlehrerin dem traurigen Umstand des Todes eures Lehrers Herrn Rau. Ich heiße Fräulein Ziehe. Zur Zeit studiere noch am Lehrerbildungsinstitut in Weimar. Doch wegen des Lehrermangels wurde ich schon vor meinem Abschluss hier eingesetzt. Bin also sozusagen eine Neulehrerin", scherzte sie, "und werde euch in Geschichte und Deutsch unterrichten."
Fräulein Ziehe machte eine kleine Pause, bevor sie in ihrer Vorstellungsrede fortfuhr: "Ich hoffe, wir werden gemeinsam den Lehrstoff bewältigen. Jedenfalls werde ich mein Möglichstes tun, um euch zu einem guten Schulabschluss zu führen. Also heißt es für uns: 'Lernen, lernen, nochmals lernen', wie schon der große Lenin forderte."

Fräulein Ziehe wurde schon bald zur Lieblingslehrerin gekürt.
Zwei drei Wochen später bekam die 7 b noch eine neue Lehrerin. Allerdings keine Neulehrerin. Dazu war sie nicht mehr jung genug. Sie hatte bestimmt schon viele Jahre unterrichtet. Und zwar Kunstgeschichte. Malen und Zeichnen.
Fräulein Dahlke war schon eine seltsame Erscheinung. Sie trug immer weite, lange Röcke. Gleich mehrere übereinander. Die Röcke schimmerten und glänzten in allen Regenbogenfarben im Kontrast zu ihren Blusen. Die weiß waren und aus Spitze und Seide. Manchmal waren die Blusen auch zartsilber. Oder zartlila. Oder zartgrün. Und immer in den Farben der dazugehörigen Spitzenunterröcke, die vorwitzig unter dem anderen Röcken hervor lugten.
Zu alldem trug Fräulein Dahlke einen einen roten Hut mit einer blauen Feder. Der Hut saß wie ein Aufpasser auf ihrem Kopf. So, als wolle er den leicht angegrauten Haarknoten, der hinten, unter dem Hut, zu erkennen war, beschützen.
'Sie ist schon etwas skurril', dachte Rosi bei ihrem Anblick. Doch das störte sie nicht. Im Gegenteil. Sie fand auch Fräulein Dahlke sehr anziehend.

Von den anderen Kindern wurde Fräulein Dahlke bald Tante Paula genannt. Keiner wusste, wie sie zu dem Namen gekommen war. „Sie steht immer vor den Schaufenstern und führt Selbstgespräche“, spottete Heinrich. Doch das war bestimmt nicht der Grund für den Namen Tante Paula.
Wie dem auch sei, gehörte Fräulein Dahlke auch zu Rosis Lieblingslehrern.

***
Fortsetzung folgt
 
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