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Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/Hammer Zirkel Ährenkranz/Episode 1/Die traurige Nachricht das Moorsoldatenlied und die neuen Lehrerinnen

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Die Kinder von Brühl 18
Teil 4
Hammer Zirkel Ährenkranz
1951 – 1955

Wir schreiben das Jahr 1951
Episode 1

Die traurige Nachricht das Moorsoldatenlied und die neuen Lehrerinnen

Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Schule, sagte Rosi zu Jutta und Karlchen: „Ich weiß auch nicht, warum, aber ich habe ein ganz komisches Gefühl.“
„Ich auch“, sagte Jutta und rollte mit den Augen. „Und immer, wenn du so ein ganz komisches Gefühl hattest, ist immer irgendwas passiert.“
„Vielleicht ist das Schultor schon abgeschlossen“, vermutete Karlchen. „Und wir können nicht mehr rein.“
„Und sind dann die Schulschwänzer. Owei,“
„Ich glaube, es ist noch etwas Zeit“, sagte Rosi. „Wir könnten es noch schaffen. Wir müssen unbedingt pünktlich sein. Ich muss mich doch bei Herrn Mikowitsch entschuldigen."
"Das stimmt", sagte Jutta. "Da habt ihr euch gestern ja wirklich was Tolles geleistet."
"Dir hätte das dein lieber Herr Mikowitsch wirklich nicht zugetraut", spottete Karlchen. "Aber so kann man sich täuschen", lachte er. „Da nehmen wir mal schnell die Abkürzung über die Windhöfe.“
Die Kinder rannten los. Vor Metzners Haus mit dem Schild „Metzners Sattlerei“ blieb Karlchen plötzlich stehen. „Ich habe jetzt auch so ein komisches Gefühl", sagte er. "Hoffentlich trügt es diesmal.“

Doch das Gefühl sollte auch diesmal nicht trügen.
Wie von der Tarantel gestochen, rannte Karlchen wieder los. Jutta und Rosi rannten hinter ihm her. Bis zur Schule.
Das Schultor war tatsächlich verschlossen. Obwohl es noch Zeit war. So etwas hatte es noch nie gegeben. Jedenfalls nicht vor Unterrichtsbeginn.
Alle Schüler der Schule hatten sich in Viererreihen vor dem Schultor aufgestellt. Es herrschte eine unheimliche Stille. So früh am Morgen. Gebannt starrten die Kinder auf den Fahnenmast im Schulhof.
„Das Gefühl“, flüsterte Rosi. „Das Gefühl. Guckt mal die Fahne.“
Rosi, Jutta und Karlchen bildeten den Schluss der langen Viererreihenschlange. Logisch. Sie kamen ja auch als Letzte. Am liebsten hätte sich Rosi vorgedrängelt. Doch das war verboten. Außerdem hätte sie sich bei der seltsam gedrückten Stimmung sowieso nicht getraut.
„Was ist denn los?“, flüsterte sie in das unheimliche Schweigen. „Ist etwa tatsächlich was passiert?“
Die schwarzrotgoldene Fahne mit dem Emblem der DDR, Hammer, Zirkel und dem Ährenkranz in der Mitte, war auf Halbmast gezogen. Um den Fahnenmast herum standen der Rektor und das Lehrerkollegium im Kreis. Alle schwarz gekleidet. Mit ungewöhnlich ernsten Gesichtern. Etwas abseits tuschelte die Pionierleiterin Fräulein Müller in ihrer blauen FDJ-Bluse mit der aufgehenden Sonne am linken Ärmel mit einem Lehrer.
Nach einigen Minuten öffnete der Hausmeister das Tor. Langsam stellten sich die Schüler, nun in Zweierreihen, hinter ihre Klassenlehrer. Danach trat der Rektor vor den Fahnenmast.
„Bestimmt wundert ihr euch“, begann der Rektor seine Rede mit einer traurigen Stimme, „dass wir uns alle heute hier auf dem Schulhof versammeln. Und nicht in der Aula. Wie sonst zu besonderen Anlässen. Und dass die Fahne auf Halbmast gezogen ist. Was eine besondere Art der Trauer bedeutet. “ Der Rektor machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr: „Unser heutiges Zusammenkommen geschieht aus einem sehr traurigen Anlass“, sagte er leise. „Wir haben erfahren, dass unser sehr verehrter Kollege, euer geliebter Lehrer, liebe Schüler, Herr Rau, leider verstorben ist. Er ist seinen inneren und äußeren Verletzungen, die ihm im Konzentrationslager Börgermoor, in dem er als antifaschistischer Widerstandskämpfer inhaftiert war, zugefügt worden sind, nach langer Krankheit erlegen. Also …“, sagte der Rektor noch leiser: „Herr Rau ist tot. Legen wir ihm zu Ehren jetzt eine Schweigeminute ein.“
Obwohl sowieso alle Kinder geschwiegen hatten, hielten sie jetzt fast den Atem an, damit ja kein Laut über ihre Lippen käme. Die Nachricht war zu schrecklich. Der arme Herr Rau. Bisher hatten die Kinder noch nichts von dem Konzentrationslager Bürgermoor gehört. Nur von Buchenwald. Auf dem Ettersberg in Weimar. Nicht so weit entfernt von Buttstädt. Gleich nach Kriegsende hatten sich ja die Greueltaten, die dort geschehen sind, zum Entsetzen der Leute herumgesprochen und sie sahen das Gefangenenlager in einem ganz anderen Licht. Keiner wollte gewusst haben, dass dort Zigtausende Juden und auch Kommunisten umgebracht worden sind.
*
Von dem KZ Börgermoor erfuhren die Kinder später im Geschichtsunterricht.
Die Strafgefangenen des Emsland-Lagers Börgermoor wurden als billige Arbeitskräfte bei der Kultivierung der Moore eingesetzt. Sie wurden von SS-Aufsehern bewacht und wehrlos ihren brutalen Schikanen ausgeliefert. Nach einer Prügelorgie der Lager-SS wurden auch viele Häftlinge schwer verletzt. Daraufhin wollte eine Gruppe Gefangener mit einer kulturellen Veranstaltung ein Zeichen gegen die Verrohung im Lager setzen.
In diesem Konzentrationslager waren auch der Theaterregisseur Wolfgang Langhoff und der Schriftsteller Johann Esser inhaftiert. Sie sollten einen Text für die Moorsoldaten schreiben, den die Häftlinge dann auf ihrem Marsch zum Moor singen sollten. Das taten sie auch. Die Melodie dazu schrieb Rudi Goguel. Nach der Machtergreifung 1933 hatten ihn die Nationalsozialisten in „Schutzhaft“ genommen, weil er Kommunist und damit Staatsfeind war.
„Das Lied entstand als bewusster Protestsong der Widerstandskämpfer gegen die Unterdrücker, um unsere höhere Moral gegenüber der Bestialität der SS öffentlich zu demonstrieren“, soll Langhoff gesagt haben.
Mit dem „Moorsoldatenlied“ wollten die Häftlinge im Konzentrationslager Börgermoor gegen die unmenschliche Behandlung durch die SS-Aufseher protestieren. Am 27. August 1933 wurde es dann im KZ uraufgeführt und erreichte bald eine ungeahnte Popularität. Auch bei den Soldaten. Und, obwohl das Lied bereits zwei Tage nach seiner Uraufführung von der Lagerkommandantur verboten wurde, stimmten die Häftlinge es immer wieder auf den langen Märschen ins Moor an, weil SS-Wachleute es hören wollten. Bald schon wurde es auch in anderen Lagern des NS-Regimes gesungen. 1935 überarbeitete Hanns Eisler die Melodie für den Sänger Ernst Busch. Der kämpfte im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco und verbreitete das Lied über die Grenzen Europas hinaus.
*
Nach der Schweigeminute sagte der Rektor: „So liebe Kollegen und liebe Schüler, nun hören wir uns noch das Lied der Moorsoldaten über unseren neu installierten Lautsprecher an. Es ist ein Lied, dass die Häftlinge immer gesungen haben, wenn sie frühmorgens mit ihren Spaten ins Moor gezogen sind und dort bist zum Sonnenuntergang arbeiten mussten. Das Lied werdet ihr später im Musikunterricht lernen. Nach dem Lied wird die Fahne wieder hochgezogen. Und der Unterricht kann beginnen.“
Kaum hatte der Rektor seine Rede beendet, erklang das Lied der Moorsoldaten aus dem neu installierten Lautsprecher.

Die Moorsoldaten
Lied von Hannes Wader

Wohin auch das Auge blicket
Moor und Heide nur ringsum
Vogelsang uns nicht erquicket
Eichen stehen kahl und krumm

Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor
Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor

Hier in dieser öden Heide
Ist das Lager aufgebaut
Wo wir fern von jeder Freude
Hinter Stacheldraht verstaut

Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor
Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor

Morgens ziehen die Kolonnen
Durch das Moor zur Arbeit hin
Graben bei dem Brand der Sonne
Doch zur Heimat steht der Sinn

Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor
Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor

Auf und nieder geh'n die Posten
Keiner, keiner kann hindurch
Flucht wird nur das Leben kosten
Vierfach ist umzäunt die Burg

Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor
Wir sind die Moorsoldaten
Und ziehen mit dem Spaten
Ins Moor

Doch für uns gibt es kein Klagen
Ewig kann nicht Winter sein!
Einmal werden froh wir sagen
Heimat du bist wieder mein!

Dann zieh'n die Moorsoldaten
Nicht mehr mit dem Spaten
Ins Moor
Dann zieh'n die Moorsoldaten
Nicht mehr mit dem Spaten
Ins Moor
*
Die Kinder dachten noch oft an den Tag mit dem Schweineringelschwänzchen. Den Tag, an dem sie dem Russischlehrer Herrn Mikowitsch den Streich gespielt hatten. Und den schrecklichen Tag danach. Und oft plagte sie das schlechte Gewissen.
„Ich hätte mich wahrscheinlich auch entschuldigt“, sagte Heinrich, wenn Rosi ihn daraufhin ansprach. „Aber nun ist es zu spät. Du weißt ja, was am nächsten Tag passiert ist.“

Dieser verhängnisvolle Tag war für die Schüler, und wahrscheinlich auch für die meisten Lehrer, so etwas wie ein Schockerlebnis. Es hatte die Jahre der Vergangenheit, und besonders die des Krieges, in einem noch düsteren Licht erscheinen lassen. Einem Licht, das aus den Verbrechen des schrecklichen Krieges und seinen Folgen entstanden war. Und obwohl die Kinder ihre Gefühle noch nicht in Worte fassen konnten, spürten sie doch, dass sie mit diesem Erlebnis einen Teil ihrer Unbekümmertheit verloren hatten.
*
Doch allmählich verblasste die Erinnerung an den tragischen Tod des Lehrers Herrn Rau. Auch bei Rosi. Zumal die Klasse 7 b einige Tage später eine neue Klassenlehrerin bekamen. Fräulein Ziehe.
Rosi fand Fräulein Ziehe auf den den ersten Blick ganz allerliebst. Wie sie sich ausdrückte. Das war sie allerdings auch. Nur einige Jahre älter als die Schüler, stand sie vor der Klasse und stellte sich vor.
Fräulein Ziehe war klein und zierlich. Sie hatte lange blonde Haare und und blaue Augen. „So blau, wie ein wolkenloser Himmel im Sommer“, dachte Rosi begeistert und starrte Fräulein Ziehe an, als wäre sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Es war Liebe auf den ersten Blick. Und dieser Liebe wegen würde Rosi alles tun, um Klassenbeste zu werden, stand ihr Entschluss fest.
„Liebe Kinder“, begann Fräulein Ziehe ihre Vorstellung, „leider verdanke ich meine Berufung zu eurer Klassenlehrerin dem traurigen Umstand dem Tod eures Lehrers Herrn Rau. Ich heiße Fräulein Ziehe und studiere noch am Lehrerbildungsinstitut in Weimar. Doch wegen des Lehrermangels wurde ich schon vor meinem Abschluss hier eingesetzt. Ich werde Geschichte und Deutsch unterrichten. Und ich hoffe, wir werden gemeinsam den Lehrstoff bewältigen. Jedenfalls werde ich mein Möglichstes tun, um euch zu einem guten Schulabschluss zu führen.“
Schon bald wurde Fräulein Ziehe zur Lieblingslehrerin gekürt. Doch sie war nicht die einzige neue Lehrerin an der Schule. Zu ihr gesellte sich einige Tage später die Zeichenlehrerin Fräulein Dahlke. Fräulein Dahlke trug immer mehrere knöchellange Röcke in allen Farben übereinander und einen großen, schwarzen Schlapphut auf ihren dunklen Haaren. „Sie ist schon etwas skurril“, dachte Rosi bei ihrem Anblick. Doch sie fand auch Fräulein Dahlke sehr anziehend.
Von den anderen Kindern wurde Fräulein Dahlke bald Tante Paula genannt. Keiner wusste, wie sie zu dem Namen gekommen war. „Sie steht immer vor den Schaufenstern und führt Selbstgespräche“, spottete Heinrich. Doch das war bestimmt nicht der Grund für den Namen Tante Paula.
Wie dem auch sei, gehörte Fräulein Dahlke auch zu Rosis Lieblingslehrern.

***
Fortsetzung folgt
 
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