Kapitel 19 – Morgenstund` hat Gold im Mund
Es war still in der Küchenstube, nur die Holzöfen hörte man knistern. Draußen tobte der Schneesturm unaufhörlich. Das Ticken der Standuhr drang dezent aus der geöffneten Wohnstube heraus. Die sporadisch wehenden Windböen heulten und bliesen hin und wieder spürbar kalte Luft durch die Ritzen des Hauses. Manchmal klapperte irgendetwas draußen im Hof oder schlug gegen das Dach, worauf die Auswanderer sich jedes Mal besorgt anschauten. Kommt da etwa ein Tornado auf uns zu?
Ike hockte entspannt mit dem Ellenbogen aufgestützt am Tisch und hielt nachdenklich seine Hand vor dem Mund, während er seinen Auftragsbericht für den nächsten Tag studierte. Justin reckte seinen Hals und stielte neugierig auf die aufgeschlagene Aktenmappe, verzog gelangweilt seinen Mund und blickte dann zu seiner Mutter, die ihn die ganze Zeit mit liebevollen Augen beobachtete.
„Es ist so still hier, Mutz. Nicht einmal Musik …“, stöhnte Justin gelangweilt.
Ike warf ihm daraufhin einen warnenden Blick zu. Weiß der Bengel etwa nicht, dass noch kein Radiogerät oder Fernseher erfunden wurde? Und im Besitz eines Grammophons waren sie auch nicht, weil Eloise strikt dagegen war als Ike eins kaufen wollte. „Das ist viel zu teuer und brauchen wir nicht“, war ihre Meinung dazu gewesen.
„Oh, dem kann abgeholfen werden, junger Mann“, meldete sich Eloise zu Wort, während sie sich am Herd aufhielt. „Nachdem wir gegessen haben, werden wir gemeinsam vor dem Kamin einige Weihnachtslieder singen und später werde ich etwas vorlesen. Ich habe ein neues Buch vom großartigen Jules Verne“, lächelte sie.
Die Holzöfen gaben eine wohltuende Wärme ab, diese sich in der ganzen Küchenstube ausbreitete. Anne erging es nach dem heißen Bad im großen Holzfass sichtlich wohler. Mit feuchten Haaren und rotglühenden Backen saß sie mit ihrer Familie am Tisch und wartete genauso wie alle hungrig darauf, dass ihnen die Köchin des Hauses endlich das Essen servierte.
Eloise summte vor sich hin, währendem sie die Suppenkelle im Kochtopf rührte. Der köstliche Duft eines Kartoffeleintopfes mit geschnippelten Würstchen stieg empor. Manchmal schöpfte sie eine Kelle voll, nippte daran und blickte kritisch drein. Dann griff sie abwechselnd zur Pfeffer- und Salzmühle und streute eine kleine Prise hinein und als das Ergebnis sie endgültig zufrieden stimmte, nahm sie zwei gehäkelte Topflappen, packte den Suppenkessel und eilte damit zum Tisch.
„So, fertig“, sagte sie.
„Na endlich, bin schon am verhungern“, murrte Charles und griff ungeduldig nach der Suppenkelle. Aber Eloise war schneller und reagierte reflexartig, schnappte sich blitzschnell einen Kochlöffel und schlug ihm damit auf die Finger.
„AUA!“ schrie Charles, zog sofort erschrocken seine Hand zurück und blickte sie entrüstet an. „Was soll das? Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?“
„Nix da, zuallererst wird ein Tischgebet gesprochen und dem HERRN gedankt. Ike und ich beten immer, bevor wir speisen und so bleibt es auch“, grinste sie hämisch. „Schließlich sind wir Christen und keine Heiden.“
„Meinetwegen“, gab Charles mürrisch klein bei, nachdem er Ike empört anblickte, er jedoch daraufhin nur scheinheilig lächelte und mit seiner Schulter zuckte. Eloise setzte sich, faltete die Hände und schloss andächtig ihre Augen. Ike tat dasselbe, woraufhin Anne und Justin es ihnen sogleich nachahmten. Stille herrschte.
Charles rollte genervt die Augen, faltete aber schließlich ebenfalls seine Hände. „Womit habe ich das bloß alles verdient“, brummelte er mürrisch vor sich hin. Eloise legte die Stirn auf ihre gefalteten Hände und betete:
„Gott, Du unser himmlischer Vater, erhöre unser Gebet.
Wir gehören zu den Lämmern, denen es gut ergeht.
Wir haben Arbeit und Auskommen,
und dieses wundervolle Haus, das uns vor Kälte und Sturm schützt.
Lass uns mit dem zufrieden sein, was uns täglich zukommt und geschenkt wird.
HERR, wir bitten dich, in unseren persönlichen Ansprüchen bescheiden zu bleiben.
Und schütze uns vor Krankheit und Leid.
All das erbitten wir dich durch Christus, unseren HERRN.
Amen.“
Eloise schloss das Tischgebet ab indem sie sich bekreuzigte. Dann öffnete sie wieder ihre Augen, lächelte in die Runde, griff nach der Suppenkelle und schöpfte zuerst Ikes Teller voll, danach waren Justin, Anne und zuletzt Charles an der Reihe, bevor sie sich selbst auftat.
Der Vollmond leuchtete hell in dieser frühmorgendlichen Stunde und die Sterne funkelten wie geschliffene Diamanten, hoch oben am dunkelschwarzen Himmel, als der Rasselwecker diesmal um drei Uhr morgens rappelte. Schlaftrunken raffte sich Ike auf und saß einen Moment sammelnd am Bettrand.
Es war notwendig beinahe mitten in der Nacht aufzustehen, wenn man die Frühschicht punkt sechs Uhr anzutreten hatte, insbesondere im Winter. Schließlich lag ein einstündiger langer Weg bis in die Stadt vor ihm; bei Eiseskälte und dem gestrigen Schneefall bestimmt noch etwas länger. Gerade als er sich zu Eloise umdrehen wollte, um sie wach zu küssen, umarmte sie sogleich seine nackte Schulter, presste ihre warmen Lippen an seinen Hals und knurrte liebliche Töne in sein Ohr. Zärtlich kraulte er ihre dichte Haarmähne.
„Guten Morgen, Liebes. Sei so gut und bereite ein paar Butterbrote für mich zu. Ich hoffe nur, dass Charles bereits wach ist und ich ihn nicht wohlmöglich erst aus seinem Tiefschlaf küssen muss“, eröffnete er verschlafen das Gespräch.
„Sag einfach Bescheid, falls dies der Fall sein sollte. Ich wecke ihn liebend gerne … Mit einem Schneeball in meiner Hand“, hauchte sie erotisch in sein Ohr, wobei ihre Lippen weiter über seinen Nacken glitten.
„Verdomme, der Schnee …“ raunte er besorgt. Behutsam löste er sich aus ihrer Umarmung, eilte sofort zum beschlagenen Fenster und rieb ein kleines Guckloch frei. Winzige Eiskristalle benetzten außen die Fensterscheibe. Zum Glück schien das Wetter sich über Nacht beruhigt zu haben. Es war windstill und schneite nicht mehr. Ike öffnete das Fenster, eine klirrende Kälte brach ihm entgegen und legte sich wie eine eisige Plastikfolie über seinen nackten Oberkörper nieder. Dennoch lehnte er sich weit hinaus und starrte in die Dunkelheit. Die weiße Landschaft reflektierte das Vollmondlicht. Diese Nacht war besonders hell und weit hinten erkannte er ein einzelnes Licht, was im Nachbardorf leuchtete, zudem rauchten dort einige Schornsteine auf.
„Der Lichtschein aus dem Haus muss O’Neill sein. Aarons Mutter ist bewundernswert. Sie steht immer mitten in der Nacht auf, um ihren Sohnemann aus dem Bett zu werfen.“
Fasziniert betrachtete Ike abwechselnd die verschneite Landschaft und die funkelnden Sterne hoch oben am Himmelszelt, dabei blies er sichtbare Atemluft heraus die stehen blieb, als würde er eine Zigarette rauchen.
Irgendwoher aus den nah gelegenen Wäldern hörte er heulende Wölfe, woraufhin Laika, die auf dem Dielenboden auf einer Decke lag, ihre Lauscher spitzte und sofort hellwach war. Leise winselnd sah sie ihr Herrchen an.
„Brrr … Mach sofort das Fenster wieder zu. Ist so verflixt kalt!“, maulte Eloise, die aufrecht im Bett saß und sich die Decke über ihren nackten Oberkörper kuschelte. Eine Eiseskälte hatte sich in der Schlafstube ausgebreitet.
„Ich dachte, dass du mir Butterbrote schmieren willst. Also eil dich gefälligst aus dem Bett, du Faulpelz“, grinste Ike, woraufhin ihm ein Kopfkissen entgegen flog.
„Mach auf der Stelle das Fenster wieder zu, oder ich schick dich mit einer leeren Brotbüchse auf die Arbeit“, konterte Eloise gleichermaßen grinsend.
Ike starrte weiterhin andächtig hinaus in die stille, finstere Nacht. Oder eher in den dunklen, ruhigen Morgen?
„Ach, weiß du Liebes, ich musste grad an Henry denken. Er hat tatsächlich recht.“
„Recht, womit?“, fragte Eloise verwundert.
„Er meinte einmal zu mir, es gäbe nichts wundervolleres, als früh morgens die Luft zu genießen. Er behauptete, die natürliche Luft verleihe einem insbesondere morgens die meiste Energie und die Gerüche seien besonders im Frühling und im Sommer am intensivsten. Jedoch im Winter, bei klirrender Kälte, atmet man lediglich reinen Sauerstoff ein und dieser würde nach …“
Ike stockte und blickte verwundert drein.
„Welchen Bären wollte mir Henry da wieder auftischen? Ich rieche überhaupt nichts. Eiskalte Luft riecht doch nach gar nichts.“
„Sei doch froh“, kicherte Eloise. „Im Winter düngt Mister McEnrey nie diese scheußliche Gülle.“
Sie packte einen Zipfel der Bettdecke, schmiegte ihren Kopf darauf nieder und sah ihn verliebt an. Ihre Augen glänzten.
„Ach“, seufzte sie, „Henry muss wirklich ein kluger und humorvoller Mann sein. Du hast mir jetzt schon so viel von ihm erzählt, wann werde ich endlich deinen Freund aus Belgien kennenlernen?“
„Mmm, das weiß man bei ihm nie“, antwortete Ike. „Es ist Henry zuzutrauen, dass er urplötzlich auftaucht und an der Haustüre klopft.“
Ike eilte wie jeden Morgen mit kurzen schnellen Schritten die Treppe hinab. Zu seiner Verwunderung war der Küchenbereich bereits hell erleuchte. Wasser köchelte auf dem Herd in einem kleinen Topf und der Duft frisch gebrühten Kaffees lag in der Luft. Charles hockte am Tisch, hielt mit beiden Händen seinen Pott Kaffee fest und glotzte Ike mit großen Augen an. Seine Melone lag etwas zu weit nach hinten gerückt auf seinem Kopf.
„Guten Morgen, Charles“, begrüßte Ike ihn fröhlich pfeifend. Aus Charles Mund drang aber nur ein unverständliches Gebrabbel raus, während er apathisch Ike hinterher sah, wie er sich zuerst nach draußen auf die Latrine und anschließend ins Badezimmer begab.
Ab jetzt muss abgeschlossen werden, dachte sich Ike, und verriegelte hinter sich die Tür. Das Badezimmer diente schließlich auch als Funkstation. Außerdem verbargen sich hinter den obersten Kacheln Geheimfächer, darin er unter anderem Baupläne der Titanic, Medizin, geheime Instruktionen, private Fotos und eine geladene EM23 versteckte. Diese Geheimfächer durften weder die Auswanderer und schon gar nicht Eloise jemals entdecken. Seine größte Sorge war, dass Eloise irgendwann die Fliesenkacheln polieren und dabei zufällig fündig werden würde, doch bis jetzt schien ihr seine Verstecke entgangen zu sein. Außerdem hatte Ike darauf geachtet, als er das Badezimmer gefliest hatte, dass sich die Geheimfächer ausschließlich in den oberen Kacheln befinden. Gewöhnlich putzte Eloise die gekachelten Wände mit einem Schrubber mit Stiel; da sie eher eine kleinere Person war, müsste sie sich beim gründlichen Polieren schon auf einen Stuhl stellen, um die Geheimfächer zu entdecken.
Es belastete ihn anfangs etwas, dass Eloise eventuell aufgrund ihres Putzfimmels sein Doppelleben aufdecken könnte, aber mit der Zeit verlor er diese Angst. Nun erinnerte ihn die Anwesenheit der Fremden wieder daran, vorsichtiger mit seinen Geheimnissen umzugehen. Denn auch die Auswanderer durften nichts von der Belfast Mission etwas erfahren. So lange, bis Ike die Hilfe von Charles gezwungen in Anspruch nehmen müsste.
Ike zog sich seinen dunkelblauen Herrenanzug an und richtete die Krawatte, während er in den Spiegel schaute und einen Zahlencode aussprach. Er wollte für 40 Sekunden ein Gespräch mit Vincenzo abhalten, aber er konnte keine Funkverbindung mit dem Satelliten herstellen, weil dieser scheinbar bereits Europa passiert hatte. „Nicht so wichtig“, murmelte Ike vor sich hin.
Eloise saß mittlerweile ebenfalls am Küchentisch und bereitete die Frühstücksbrote zu, sogar auch welche für Charles. Sie hatte wiedermal Ikes Schlafhemd angezogen, das ihr viel zu lang war. Beim Vorbeilaufen schmatzte Ike auf ihre wuschelige Haarmähne und bediente sich am Kaffee, diesen sie für ihn bereits aufgebrüht hatte. Ike gähnte und streckte sich.
„Köstlich, nicht wahr, Charles? Ist das nicht wunderbar, ab jetzt jeden Morgen solch einen Kaffee genießen zu dürfen? Einen echten Kaffee, wohlbemerkt“, hakte Ike schadenfreudig nach, weil er vermutete, dass Charles das frühe Aufstehen äußerst schwer fallen würde.
„Mmm …“ knurrte Charles. „Müssen wir jetzt jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe aufstehen?“
„Nur in der Frühschicht. Du wirst dich bald daran gewöhnen. Morgenstund` hat Gold im Mund, sagt man hier so, mein lieber Onkel.“
„Ja, ja. Alles wird gut“, erwiderte Charles mürrisch. „Wiedermal so ein dämlicher Spruch. Was soll das überhaupt bedeuten?“, fragte Charles gelangweilt. Aber ohne eine Antwort dafür zu erwarten, sprach er weiter. „Lass uns lieber diesen verdammten Tag angehen. Um wie viel Uhr ist eigentlich Feierabend?“
„Onkel Charles, sei doch nicht schon am frühen Morgen wiedermal so miesepetrig. Heute ist dein erster Arbeitstag, freue dich doch darüber. Ein Anderer würde sich glücklich schätzen, heutzutage problemlos einen Arbeitsplatz zu ergattern. Das alles hast du nur Ike zu verdanken. Sei doch nicht immer so undankbar!“, wies Eloise ihn leicht verärgert zurecht, während sie hastig Butterbrote für die beiden Männer schmierte.
Ike drehte sich eine Zigarette, rauchte und beobachtete dabei Charles, wie er sich vor Eloise rechtfertigte und beteuerte, nicht zu wissen, was sie schon wieder gegen ihn hätte. Charles und Eloise diskutierten wiedermal miteinander. Bereits in aller Herrgottsfrühe. Na, das kann ja was geben, dachte sich Ike im Stillen. Ob die jemals auf einen gemeinsamen Nenner kommen werden?
„Es gibt einige Regeln, die du unbedingt zu beachten hast. Das ist eine davon …“, sagte Ike, zog Charles kurzerhand seinen Bowler vom Kopf und schleuderte die Melone vor ihm auf den Tisch.
„Auf Queens Island ist es dir untersagt, einen Bowler zu tragen. Dies ist nur uns Vorarbeiter vorbehalten. Begnüge dich also mit einer Schirmmütze. Und jetzt pack dich warm ein, es liegt ein langer Weg vor uns. Zuvor müssen wir noch Aaron einsammeln.“
In der Winterzeit war es unbedingt ratsam, sich in Wolldecken einzuhüllen, wenn weite Strecken mit dem Pferdegespann zurückgelegt werden mussten. Überdies verstaute Ike stets Schaufel, Pickel und weiteres Werkzeug auf dem Fuhrwagen, falls eine unerwartete Panne, Reparatur oder wie grade jetzt, dieser unverhoffte Schneefall ihn überraschen würde und sie stecken blieben würden. Außerdem führte er stets eine geladene 1873er Winchester, ein 22 Kaliber Gewehr mit sich. An den vorderen Kanten des Fuhrwagens hatte Ike Eisenstangen montiert, an diesen jeweils Petroleumlampen an Hakenstangen hingen. Das Petroleumlicht war aufgrund der Wackelei des Fuhrwagens zwar nur spärlich, aber besser als komplett im Dunklen vorwärts zu tapsen.
Der Neuschnee knirschte, als die Hufen der Pferde vorwärts stampften. Vor ihnen lag eine weiße, unberührte Schneelandschaft. Der Vollmond schien hell. Ike hielt die Zügel in seinen Händen und schielte gelegentlich zu Charles rüber. Er starrte nur wortlos auf die verschneite Landschaft.
„Und, hast du jemals etwas vergleichbares wie das hier gesehen?“, fragte Ike stolz, obwohl er genau wusste, dass dem nicht so war.
„Ich war mal in Snow City gewesen aber gebe zu, ist nicht dasselbe. Verflucht arschkalt ist es hier. Aber …“ Charles hielt einen Moment inne und starrte auf die verschneite Landschaft. Selbst diesem griesgrämigen Mann ging innerlich das Herz auf. „Ja … Sieht fantastisch aus. Wie eine Märchenlandschaft.“
„Bevor ich es vergesse. Es gibt weitere Regeln, die du unbedingt zu befolgen hast!“
„Und die wären?“, fragte Charles genervt, während er mit einer Wolldecke vermummt mit verschränkten Armen auf der Sitzbank des Fuhrwagens hockte. Der Neuschnee knirschte, während das Pferdegespann mühselig mit dem Fuhrwagen voran zog.
„Hier ist es nicht, wie bei uns üblich, sich mit dem Vornamen anzureden es sei denn, man bietet dir dies an. Vor allem die Vorarbeiter, also die Herren mit den Melonenhüten, wirst du grundsätzlich mit Sir oder Mister anreden!“
„Dich etwa auch?“
„Frag doch nicht immer solch einen Unsinn, Onkel Charles! Wir sind miteinander verwandt, schon vergessen? Dann sind solche Formalitäten hinfällig, du Idiot. Alle in Harland & Wolff wissen bereits, dass du mein Onkel bist. Vermassele es bloß nicht, sonst kannst du wieder zurück nach Nieuw Munich gehen, oder woher du auch kommst!“
Ike schlug mit den Zügeln auf die Pferde, spuckte zur Seite in den Schnee und schüttelte unauffällig mit dem Kopf. Wie konnte die TTA solch einen ahnungslosen Mann bloß bedenkenlos in die vergangene Welt schicken, fragte er sich. Das gehört verboten! Dieser Kerl könnte mich mit seiner Unwissenheit in Schwierigkeiten bringen, befürchtete Ike.
Charles zuckte mit der Backe. „Woher soll ich wissen, wie das hier so abläuft? Anne hat die 20er Lizenz erworben, nicht ich“, antwortete er grimmig. „Meine Frau und ich … Wir reden nicht viel über solche Dinge. Wir haben zurzeit andere Sorgen. Was dich und deinen Verein aber absolut nichts angehen!“, schnauzte Charles sogleich.
Ike schüttelte bloß mit dem Kopf. Von seinen privaten Angelegenheiten wollte er hier und jetzt wirklich nichts wissen. Später jedoch gewiss.
„Dein zugeteilter Vorarbeiter, Mister Carl Clark, ist äußerst streng und penibel. Also verrichte deine Arbeit stets gewissenhaft und wenn er etwas von dir verlangt, dann antwortest du gefälligst: Jawohl Sir, wird sofort erledigt, Mister Clark, Sir. Ist das verständlich? Kannst du dir das merken?“
„Ja, hab`s begriffen“, antwortete Charles knurrend.
„Und noch etwas …“
Ike erläuterte ihm, dass er sich unbedingt aus der Konfrontation zwischen den Protestanten und Katholiken heraushalten solle, wenn ihm sein Leben lieb wäre. Eine neutrale Einstellung und Verhaltensweise gegenüber beiden Parteien wäre äußerst ratsam. Ike warnte ihn außerdem vor fanatischen katholischen Arbeitskollegen, die ihn wahrscheinlich anstacheln wöllten, dass er bei gewissen Demonstrationen mitwirken solle. Nur mit einfühlsamen und geschickten Ausreden sei dies zu umgehen, denn es darf wiederum auch nicht der Eindruck erweckt werden, er würde sich den Protestanten unterwerfen. In dieser Zeit, warnte Ike, kann man schnell voreilig zum Verräter ernannt werden und dies würde ebenso fatale Folgen mit sich ziehen. Eventuell würde er sogar Anschläge erleiden, woraufhin er ewig arbeitsunfähig werden würde oder es sogar sein Leben kosten könnte.
Charles aber sagte, dass er weder katholisch noch evangelisch, noch sonst irgendeiner Religion angehöre. Für ihn gäbe es keinen Gott, das alles würde ihm scheißegal sein. Ike unterrichtete ihn, dass er ebenfalls keiner Religion zugehöre, aber die UE-Regierung dies nun mal so beschlossen hatte, dass beide katholisch sein sollten. Es war für die Belfast Mission nun mal wichtig. Ebenso für die Emigration der Owens. Denn wer sich damals als ein Atheist oder Heide zu bekennen gab, hatte sich sogleich beide Religionsanhänger zu seinem Todfeind gemacht.
„Verdammt nochmal, die TTA hat mir aber versichert, dass ich in kein Kriegsgebiet eingeschleust werde. Das ist eindeutig ein Vertragsbruch, falls dem so ist! Ich will nicht mit diesem beschissenen Krieg konfrontiert werden, ansonsten verlange ich Schadenersatz!“, motzte er plötzlich.
„Beruhige dich wieder, Charles. Alles wird gut. Ich habe nicht den Ersten Weltkrieg damit gemeint, sondern den bevorstehenden Home Rule Bill!“
Charles runzelte die Stirn.
„Bitte, was für einen Bill? Wieso Erster Weltkrieg? Steht dieser etwa noch bevor? Ich dachte, der wäre längst Geschichte und der Zweite Weltkrieg ist irgendwann in den Sechzigern ein Thema. Der Hiller oder wie dieser Knilch auch immer hieß, hatte doch diesen amerikanischen Präsidenten Kennedy erschossen, woraufhin die Russen eine Atombombe auf Vietnam geworfen hatten und … oder war es etwa auf Kuba, wo die erste japanische Atombombe explodiert ist? Ach, was weiß ich. Das alles interessiert mich sowieso nicht“, winkte Charles desinteressiert ab. „Wie gesagt, sobald hier in meiner Nähe irgendwas in die Luft fliegt, verlange ich von der TTA Schadenersatz!“
Ike schnaufte entnervt durch und hielt einen Augenblick inne, bevor er fortfuhr.
„Der Erste Weltkrieg beginnt erst in vier Jahren, aber Irland wird davon verschont bleiben, das ist garantiert. Und der Zweite Weltkrieg wird erst in dreißig Jahren geschehen. Dann ist die Garantie der TTA sowieso längst abgelaufen und wer weiß, ob du das mit deinen jetzigen neunundvierzig Jahren überhaupt erleben wirst. Also, mein Lieber, schlage dir einen Schadenersatz diesbezüglich gleich aus dem Kopf! Und was dem Home Rule angeht: Um es kurz zu fassen, es handelt sich dabei um einen Aufstand gegen das Königreich England, einen Konflikt, der hier direkt in Belfast ausgetragen wird. Die Katholiken streben nach einem unabhängigen Irland an, wogegen die Protestanten weiterhin von Großbritannien regiert werden wollen. Hast du das soweit kapiert? Wie auch immer, merk dir das, weil es für dich lebenswichtig ist!“
Plötzlich entdeckt Charles eine Gestalt zwischen einigen Birkenbäumen, dessen schattigen Konturen sich vor ihnen auftaten. Der Mond spendete genügend Licht, um deutlich eine menschliche Silhouette zwischen der Baumgruppe erkennen zu lassen. Regungslos stand diese Gestalt einfach nur da, im Dunkeln, eingehüllt in einem Mantel, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf und in seinen Händen hielt diese kindliche Person eine große Werkzeugtasche.
„Gib mir sofort das Gewehr. Da vorne steht einer! Ich knall das Arschloch ab, wenn der was von uns will!“
Ike schmunzelte. „Keine Panik, Charles. Das ist bloß Aaron. Sei ganz entspannt. Alles wird gut.“