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The Night Before Christmas

Romane/Serien · Schauriges · Winter/Weihnachten/Silvester
„Ist es schon wieder soweit?“, fragte der altehrwürdige Greis im silbernen Gewand mit einem tiefen Seufzer.
Die fast zwei Meter große Gestalt im blutroten Mantel war sich bewusst, dass es sich hier um eine rein rhetorische, rituelle Frage handelte, die jedes Jahr kam, deshalb verzichtete sie auf eine Antwort und nickte nur stumm.
„Hast deine Liste auch bei dir?“
Wieder ein Nicken.
„Nun denn...“ Der Alte seufzte. „Öffnet die Tore!“ Das war an niemand Bestimmten gerichtet, dennoch öffnete sich der mächtige Wirbel aus blauer Energie wie von Geisterhand.
Der Rotmantel schwang sich umständlich auf den Kutschbock und ergriff die schwere Beinpeitsche.
„Ho!“
Mit einem mächtigen Ruck setzte sich das schwere Gefährt in Bewegung, nahm erst schwerfällig, dann jedoch immer schneller Fahrt auf und verschwand in dem blitzenden blauen Wirbel.


Tadock.... Tadock.... Tadock...

Marlies Dornseifer schüttelte den Rest von Schläfrigkeit ab und richtete sich auf. Sie war nass geschwitzt, und ihr Herz pochte, als wolle es jeden Moment zerspringen. Ihr Schlaf war von furchtbaren Albträumen erfüllt gewesen, wie fast jede Nacht. Jede Nacht, seid vor zwei Monaten die Polizei an ihrer Türe erschienen war und ihr die Nachricht vom Unfalltod ihres geliebten Sebastian überbracht hatte.

Tadock... Tadock... Tadock....

Da war es wieder, dieses Geräusch, das sie geweckt hatte. Sie war wach, eindeutig, aber das Geräusch war immer noch da. Es klang wie Stampfen, Klopfen, Pochen. Ein Presslufthammer? Mitten in der Nacht?
Nein, es klang eher wie Hufgetrappel. Als galoppiere eine Horde Pferde durch einen riesigen, menschenleeren Raum. Hallendes Echo. Unheimlich.
Sie trat an das Schlafzimmerfenster und zog die Gardinen zurück.
Nichts zu sehen, alles ruhig, kein einziges Licht brannte noch in dieser Nacht. Nur hoch am Himmel zog gerade eine gigantische Sternschnuppe eilig über den Himmel, ein mächtiger Brocken Schwarz, so düster, dass er sich sogar vom Nachthimmel abhob, und zog einen Schwanz organgeroter, schweflig aussehender Flammen hinter sich her.
Darf mir was wünschen, dachte Marlies bitter. Sternschnuppen bringen doch angeblich Glück!
Sie ließ die Gardine fallen und schlurfte in die Küche, um sich eine Tasse Kamillentee aufzubrühen. Mit Schlaf war es für diese Nacht wieder einmal vorbei, wie schon so oft in letzter Zeit.

Das eigenartige Echo verklang hallend in der Ferne.


Tadock... Tadock... Tadock...

Philipp Breitenbach, acht Jahre alt, schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch.
Er konnte hören, wie seine Mutter im Nebenzimmer das Baby beruhigte. Seine kleine Schwester. Sie sangt, und sie wiegte es, und langsam kehrte nebenan wieder Ruhe ein. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern wurde leise geöffnet und wieder geschlossen.
Nach ihm sah niemand.

Philipp hasste das Baby. Seit es im Hause war, schienen die Eltern Philipp zu hassen.
„Pass doch auf, wo du ein Spielzeug liegen lässt. Möchtest du, dass Mutti stürzt, während sie Amelie auf dem Arm hat?“, hieß es beispielsweise, wenn er Rennen mit seinen Matchbox-Autos veranstalten wollte.
Und: „Dreh’ sofort die Musik leise. Möchtest du, das Amelie aufwacht“, wenn er eine CD seiner Lieblingsgruppe BroSis auflegen wollte.
„Phil, bitte, ich bin hundemüde. Kannst du dich nicht mal eine halbe Stunde allein beschäftigen?“, sagte seine Mutter oft, wenn sie wieder einmal mit der zahnenden kleinen Schwester die halbe Nacht durch die Wohnung gerannt war.
Und wie war das neulich, als er den ersten Platz beim Buchstabierwettbewerb gewonnen hatte? Aufgeregt hatte er seinem Vater an der Wohnungstür aufgelauert, als dieser vom Büro nach Hause gekommen war, und zeigte ihm als erstes die Medaille aus Goldblech. „Schön, brav, mach’ weiter so“, hatte der Vater zerstreut geantwortet und ihm im Vorbeigehen wie einem Dackel über den Kopf gestreichelt. Dann war er ins Wohnzimmer weitergegangen mit den Worten: „Hallo Liebling – na, was macht denn unser kleiner Schatz heute?“

Philipp wusste, dass es gemein war. Doch er konnte nichts dafür: Er wünschte einfach, Amelie würde sterben. Er wünschte es sich, wünschte es sich, wünschte es sich so sehr...

Jede Nacht. Auch heute.

- Während Philipp die Augen fest zukniff und seinen Wunsch wie ein Mantra wiederholte, tat sich im Zimmer der Kleinen Seltsames.
Ein dunkler Schatten hatte sich über dem Bettchen gebildet, ballte sich über dem kleinen, puppenhaften Gesicht zusammen, füllte den kleinen, rosigen Mund, verstopfte die winzigen Nasenlöcher. Hilflos begann das Baby mit Armen und Beinen zu rudern, doch kein Laut entwich der kleinen Kehle. Amalias Augen traten weit aus den Höhlen hervor, das kleine Gesicht lief blaugrau an, die winzigen Lungen begannen zu bersten, das Herzchen stolperte... dann war es vorüber.
„Plötzlicher Kindstod“, würde der Arzt am nächsten Morgen diagnostizieren. Keine Seltenheit, leider.

Das eigenartige klopfende Geräusch setzte wieder ein und verklang in der Ferne, während Philipp langsam wieder in den Schlaf glitt.



Tadock... Tadock... Tadock...

In der winzigen Stube des kleinen süditalienischen Dorfes Brancaleone lag Luisa Nucera auf den Knien und betete den Rosenkranz. Sie konnte sich nicht besonders gut konzentrieren, das Lallen und Schreien von Antonio verhinderte das. Heute war er wieder einmal besonders unruhig, es schien, als sei er von der Aufregung, die alle anderen in dieser besonderen Nacht ergriffen hatte, angesteckt worden.

Wie gern wäre auch Luisa in die Christmette gegangen. Sie träumte von dem lichtstrahlenden Altar, von der wunderschönen Madonna, die, erleuchtet von tausend Kerzen und einem Schleier aus Weihrauch umgeben, heute in der Krippe stehen würde. Wie gern hätte die frühzeitig gealterte Witwe der Heiligen Mutter ihr Herz ausgeschüttet, ihr ihre Sorgen dargebracht – doch sie konnte Antonio in diesem Zustand nicht alleine lassen.

So ging es schon seit dem vergangenen Winter. Seit ihr Mann Angelo mit Antonio in die Lawine geraten war. Als Bergführer hatte er gearbeitet, und er war der Meinung gewesen, dass Antonio mit sechzehn alt genug sei, das Handwerk des Vaters zu erlernen. Die Bergwacht hatte beide geborgen. Angelo tot. Antonio hatte monatelang im Koma gelegen.
„Irreparabler Hirnschaden“, hatte der Dottore aus der Stadt dazu gesagt, „verursacht durch den Sauerstoffmangel. Scusi, Signora...“

Luisa war müde, so müde. Einmal nur ausruhen, einmal eine Stunde Zeit für sich, einmal nur einkaufen gehen können ohne Hetze, ohne die schreckliche Angst im Nacken...

„Heilige Jungfrau, Mutter Gottes, lass ein Wunder geschehen. Du bist doch auch Mutter – schau auf mich herab und bitte für mich bei Deinem Sohn“, betete sie inbrünstig. „Ich bitte doch nicht für mich – nur für mein Kind...“

Das war eine Lüge, und Luisa wusste es, und deshalb lief sie auch sofort rot an.

„Mutter Jesu, Heilige, Reine, vergib mir, bitte, es tut mir Leid, vergib mir meine Sünden...“, weinte sie.

Das Aneurhysma in Antonios Gehirn platzte im selben Augenblick, in dem das unheimliche Klopfen und Pochen am Himmel in der Ferne verklang...


Tadock... Tadock... Tadock....
M’bele Natonga fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Er saß auf der geflochtenen Matte im Hauptraum seines Krals und starrte verbittert in das verlöschende Feuer. Seine Gedanken waren bei Katana. Der schönen Katana, mit ihrem bewunderungswürdigen Körper, den hohen, festen Brüsten, die manchmal, wenn sie vom Schweiß bedeckt waren, glänzten wie poliertes Ebenholz. Katana mit den lachenden Augen. Katana, die morgen heiraten würde.

Die seinen Erzfeind Otonga Marumbi heiraten würde.

Otonga war reich. Er hatte dem Häuptling eine Herde von zweiundzwanzig Rindern für seine Tochter geboten.
Da kam M’bele natürlich nicht mit. Wie auch? Er war arm, das winzige Stück Land, das er im Schweiße seines Angesichts bestellte und dem kargen Boden die lebenswichtigen Süßkartoffeln abzwang, gehörte dem Schamanen. M’beles Anteil war bloß der zehnte Teil davon.

Er wusste, das Katana ihn ebenfalls liebte. Sie hatte es ihm gesagt, am Wasserfall, in der rauschhaften Stunde, in der sie einander hingegeben und ihre Liebe gestanden hatten. M’bele war davon überzeugt, dass Katana gerade jetzt seinen Sohn in ihrem Schoße trug, doch Otonga hatte das nicht abgeschreckt. Eine Frau, die ihre Fruchtbarkeit bereits unter Beweis gestellt hatte, galt als begehrenswerte Partnerin, um so mehr, als sie die schönste und stolzeste Frau des ganzen Dorfes war.

Wer fragte schon nach Gefühl, wenn es um das Wohlergehen des ganzen Stammes ging?

Wie alle Bewohner des Dorfes war auch M’bele getauft und Christ. Seit vielen, vielen Generationen waren seine Familie Christen – seit die ersten weißen Missionare in dieses Land gekommen waren und den Einheimischen die frohe Botschaft verkündet hatten. Der Priester des Dorfes war inzwischen schwarz – ein Massai, ebenso wie M’bele und alle anderen. Aber M’bele wusste, dass er bei ihm weder Verständnis, noch Mitgefühl erwarten durfte. Der Priester würde bloß von Gottes Vorsehung predigen, und davon, dass der Vater im Himmel ihn prüfe. Wie Hiob. Von Vergebung würde er sprechen, und dass man das Schicksal, das Gott jedem Menschen zuteile, ungefragt annehmen müsse. Dass kein Mensch, gleich ob weiß oder schwarz, das Recht habe, sich gegen den Willen des Himmlischen Vaters aufzulehnen. Dass Jesus, dessen Geburtstag man jetzt feiere, ein Beispiel für jeden wahren Gläubigen, gegeben habe, denn das Schicksal des Messias sei ja nun alles andere als leicht gewesen.

Und dann würde er Otonga und Katana verheiraten.

Verächtlich spuckte M’bele ins Feuer. Er hätte sonst was dafür gegeben, wenn er die Beschwörungen der Alten Götter noch gekannt hätte. Aber er kannte sie nicht – schon seine Eltern und seine Großeltern waren Christen gewesen.

So betete er notgedrungen zum Weißen Christus – betete um ein Wunder...

- Viele Hütten weiter fand auch Otonga keinen Schlaf.
Morgen endlich war es soweit. Morgen würde Katana endgültig ihm gehören. Wie lange hatte er darauf gewartet.
Morgen nacht würden sich ihre seidigen, muskulösen Schenkel um seinen Rücken schließen.
Sie würde tun, was sie tun musste. Was ihre Pflicht war als gehorsame Frau, die dem Manne untertan zu sein hatte.

Er verspürte das Verlangen nach einer Zigarette.
Der Priester würde das nicht gutheißen. Er hasste Zigaretten ebenso wie Alkohol.
Besonders in der Nacht von Christi Geburt, wo jeder anständige Christ zu fasten hatte.

Doch hier wie überall galt: Wo kein Kläger, dort kein Richter.
Also schlich sich Otonga aus dem Dorf, ein Stück weit in den Busch hinaus. Seine Zigaretten und seine Flasche Schnaps hatte er bei sich. So christlich war er nun doch nicht, dass er sich seine Hochzeitsvorfeier kaputt machen lassen würde.

Da war etwas am Himmel, ein seltsamer, pochender Hall, dem Schlag seines aufgeregten Herzens nicht unähnlich. Er lauschte dem Klang nach, und so überhörte er das Rascheln zu seiner Linken.

Die Katze spannte ihre mächtigen Muskeln zum Sprung. Schon lange hatte sie sich mit den verrottenden Überresten anderer Jäger begnügen müssen und lechzte nun nach frischer Beute. Das Wesen vor ihr war schwach, unaufmerksam und dünstete Hilflosigkeit aus.

Otonga konnte nicht einmal mehr schreien, als das mächtige Raubtiergebiss ihm den Kehlkopf aus dem Hals riss. Nur ein ersticktes, nasses Gurgeln war zu hören, zu schwach, als dass jemand davon aufgewacht wäre.

Das letzte, was er hörte, war der sich entfernende pochende Klang, der direkt aus dem Himmel zu kommen schien...


Tadock... Tadock... Tadock....

Mary Abernathy hatte sich eine Tasse heißer Milch mit Honig bereitet. Vielleicht würde die ihr helfen, den Schlaf einzufangen, der sie nun schon so lange und so hartnäckig floh.

Ihr Haus war dunkel. Kein Kranz, kein Weihnachtsbaum schmückte die staubigen Räume des düsteren Hauses. Und doch war sich Mary eigenartig intensiv bewusst, dass diese Nacht keine andere als die Heilige Nacht war.

Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit, eine Vergangenheit, in der Percy noch lebte und die Kinder klein gewesen waren.

Maureen hatte vor einigen Tagen angerufen und sich entschuldigt.
Es täte ihr schrecklich Leid, hatte sie gemeint, aber sie könne am Heiligabend unmöglich vorbei kommen. Chris erwartete seinen Chef und dessen Frau zum Weihnachtsdinner, und davon hinge soviel ab, wirklich, das müsse sich doch verstehen... – Nicht, dass sie ihre Mutter nicht liebe, aber...

Mary verstand.

Und Tom? – Nun, Tom würde in diesem Jahr mit seiner Frau und den beiden Kindern über die Weihnachten zum Skifahren verreisen. Seine letzte Chance, seine Ehe noch zu retten, meinte er. Eine Aussprache in entspannter, glücklicher Atmosphäre – seine letzte Chance.

Mary verstand.

Ach, wie sie sich nach Percy sehnte. Der liebe Percy....
Wenn sie überhaupt einen Wunsch hatte, dann den, bei ihm zu sein. Doch sie wurde älter und älter, ihre Organe und ihre Muskeln versagten, doch der Tod schien eine Abneigung gegen sie entwickelt zu haben. Sie schien dazu verurteilt zu sein, alt wie Methusala zu werden, ohne jemals Erlösung zu finden.

Seufzend ließ sie sich in ihren Treppenlift sinken und drückte auf den Knopf. Mühsam ächzend setzte sich das uralte Gerät in Bewegung und hievte den Stuhl samt seiner schwergewichtigen Insassin die Treppen hinauf.
Merkwüdig – der Motor machte auf einmal ein so seltsames, pochendes Geräusch.
Sie würde nach den Feiertagen den Mechaniker anrufen müssen...

Es knallte, zischte, blaue Funken stoben.
Mary wurde mit einem Ruck aus dem Stuhl geschleudert, die Milch schwappte über ihr altmodisches weißes Nachthemd, das Glas zersprang in tausend Scherben.
Sie schrie, als sie die Treppen hinunterpurzelte. Ihr Genick brach mit einem trockenen, kleinen Knacken...



Tadock... Tadock... Tadock...

“Bitte schließen Sie die Tür, wenn Sie gehen. Und sorgen Sie dafür, dass ich heute nicht mehr gestört werde“, sagte er.
Die Haushälterin verbeugte sich demütig. „Hai, Yamamoto-san“, meinte sie ehrerbietig, entfernte sich rückwärtsgehend und zog die Shoji-Tür lautlos hinter sich zu.

Endlich war Yoshi Yamamoto allein.

In einem mitternachtsblauen Kimono kniete er vor seinem Shinto-Schrein. Silbriger Weihrauch stieg auf und umhüllte die Schrifttafeln, die er seinen Ahnen zu Ehren auf dem kleinen Hausaltar errichtet hatte.

Obwohl getaufter Christ, legte Yoshi sehr viel Wert auf Tradition. Sein Haus war nicht, wie bei vielen anderen erfolgreichen Geschäftsleuten, eine Dreißig-Zimmer-Villa aus Stein, sondern ein Haus, erbaut nach den alten Traditionen, inmitten eines Steingartens, ein Rahmen aus leichtem Balsaholz mit Türen und Fenstern aus Reispapier.

Starr richtete sich sein Blick auf die Ahnentafel.
Er hatte Schande über seine Familie gebracht. Der Name Yamamoto war auf ewig entehrt.
Fast meinte er, die Stimmen der Altvorderen in seinem Kopf zu hören, pochend, pulsierend... Sie forderten Wiedergutmachung von ihm.

Sein Ur-Ur-Urgroßvater hatte das Familienunternehmen gegründet. Mit Fleiß, Disziplin und ehrlicher Arbeit hatte er es zur Blüte gebracht. Sein Sohn hatte es übernommen, den Betrieb noch ausgebaut, das Vermögen der Familie vermehrt. Dessen Sohn wiederum hatte angefangen, die Erzeugnisse der Fabrik dem europäischen und amerikanischen Markt zuzuführen, hatte ein gigantisches Exportimperium aus dem florierenden Familienunternehmen gemacht. Und dessen Sohn, Yoshis Vater, hatte den Erfolgskurs unbeirrbar weiterverfolgt.

Kurz vor seinem Tode hatte er ihm, Yoshi, das Unternehmen in die Hände gelegt im Vertrauen darauf, dass er das Seine dazu tun möge, den Glanz des Namens Yamamoto, einen der ersten Namen des Landes, nach Kräften zu mehren.

Und nun?
Der Konkurs.
Der Ruin.
Kikosawe würde das Unternehmen schlucken.
Schon sehr bald.

Wie ferngesteuert erhob sich Yoshi Yamamoto, betrat das Nebenzimmer.
Alles war ganz, ganz weit weg... er bewegte sich wie im Traum.
Nahm das scharfe Schwert von der Wand, an der es schon seit Generationen hing.
Kehrte zum Altar zurück.
Seine Augen weiteten sich. Er hatte keinerlei Kontrolle über das, was er tat, als er seinen Kimonogürtel löste und das Gewand bis zur Hüfte aufriss.
Die rasiermesserscharfe, silberne Klinge des Samuraischwertes bohrte sich, von seinen eigenen Händen gesteuert, bis zum Heft in seinen Bauch. Yamamoto stöhnte.
Seppuku, ich begehe Seppuku, raste es durch sein fiebriges Hirn. Selbstmord. Todsünde.
Fremde Hände schienen sich über die seinen gelegt zu haben, als er das Schwert quer über seinen Leib riss. Mit wachsendem Entsetzen starrrte er auf die Darmschlingen, die ihm entgegenquollen, als hätten sie seit Urzeiten nur darauf gewartet, dem engen Gefängnis des Bauchfells zu entfliehen. Sie dampften. Sie dampften, und sie stanken.
Die ferngesteuerten Hände drehten den Schwertgriff herum, rissen ihn nach oben. Rrrratsch, machte die Klinge, als sie das Gewebe zwischen den Rippen durchtrennte.
Tadock, tadock, pochte sein Herz.... oder war das gar nicht sein Herz....?
Dunkelheit....



Vorsichtig blies Marlies Dornseifer in ihren Tee. Er war noch zu heiß, um ihn zu trinken.
Merkwürdig sah er aus. Milchig.
Marlies hasste Milch.
Nein, die Trübe kam von den dreißig Schlaftabletten, die sie wie durch ein Wunder in ihrer Hausapotheke gefunden und in der Kamille aufgelöst hatte.
So, jetzt müsste er aber trinkbar sein.
Bald, Sebastian, bald....

Eine unheimliche Kraft schien ihr Handgelenk zu packen. Schob sie Tasse von ihren Lippen fort. Sie versuchte, dagegen anzugehen. Vergeblich. Die unsichtbare Hand war stärker.

Sei kein Narr, schrie eine Stimme in ihrem Kopf. So läuft es nicht. Du kommst nicht dorthin, wo ich bin. Nicht, wenn du glaubst, dich um deine Verantwortung drücken zu können!

Sebastian....?

Das konnte doch gar nicht sein. Wollte er sie nicht....?

Noch einmal versuchte sie, die Tasse an ihre Lippen zu führen. Und diesmal gelang es ihr.

Der Tee schwappte heiß gegen ihre Unterlippe...

„Nein!“

Krachend flog die Tasse gegen die Wand. Der Tee hinterließ einen hässlichen Fleck auf dem weißen Verputz.

„Nein“, wiederholte sie.

„Ich will leben. Leben! – Hörst du? Du kriegst mich nicht. Ich will leben!!!“

Tadock, Tadock, Ta....

Der unheimliche Klang brach ab. Einfach so. Wie abgeschnitten.

Im Osten färbte sich der Himmel rosa. Der Weihnachtstag war angebrochen.


„Ho... brrrr!“

Geduldig wartete der Silbergewandete, bis das Gefährt endgültig stille stand. Das Leittier stampfte noch einmal kurz auf und verursachte eine Explosion von orangefarbenem Feuer; dann warf es sein mächtiges Geweih in den Nacken, schnaubte und wurde ruhig. Lautlos schloss sich das Dimensionstor.

„Du hast auch dieses Jahr wieder die geheimsten Wünsche der Sterblichen erfüllt?“ fragte der Alte den Mann in dem roten Kapuzenmantel, der aus Blut zu bestehen schien. Blut, das wirbelte und stillestand, gerann und wieder flüssig wurde... eine unablässige, niemals zur Ruhe kommende Bewegung in Rot.

Der Angesprochene klappte den Kiefer seines mächtigen Totenschädels hinunter und zeigte nach hinten. Jetzt konnte der Silbergewandete hinter den getönten, mit Kreuzen und Lorbeerkränzen geschmückten Rauchglasscheiben des kufenbewehrten Leichenwagens die wirbelnden, sich umeinander windenden Säulen aus Lebensenergie erkennen, und nickte.

„Nur einmal, da war es anders“, erwiderte das große Skelett im roten Mantel. „Nur ein einziges Mal hat die Hoffnung den Tod besiegt.“

Der Silbergewandte nickte.

„Du weißt, was unser Herr sagt. Solange es auch nur eine einzige Seele unten auf Erden gibt, die der Hoffnung den Vorzug vor der Verzweiflung gibt, kann Armageddon nicht stattfinden.“

„Ich weiß es, Petrus. Ich kenne die Prophezeiung“, erwiderte der Rotgewandete.
Er sprang vom Kutschbock und betrachtete sein Gespann. Es bestand aus Rentieren... riesigen, schwarzen Exemplaren, deren Widerrist gut und gerne die Schulterhöhe eines erwachsenen Mannes erreichte, und aus dessen Fell blaue Energiefunken stoben.
Alle kannte er mit Namen, und jetzt tätschelte seine skelettierte Hand das schwarze Fell: „Gut gemacht, Thunder. Brav, Blitzen. Dancer..., Prancer.... – Hast dir die Ruhe echt verdient, Rudolf.“ Er berührte das mächtige Leittier, dessen Nase ebenso mit flüssigem Feuer gefüllt schien wie die riesigen, roten Augen. Es bockte kurz, stampfte eine Feuerlohe aus dem Boden und blies eine Wolke schwefligen Atems in die Luft.

„Du kannst jetzt gehen. Ich lasse abschirren“, sagte Petrus. „Bis zur nächsten Nacht der Prüfung hast du Ruhe. Gehab’ dich wohl, Weihnachtsmann.“
 
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Kommentare  

Wow!
Da blättert man ein wenig in den Storys rum und ist ganz unerwartet mitten im Februar wieder in der Nacht vor Weihnachten*g*

Das ist ja mal eine ungewöhnliche Sichtweise des Weihnachtsmanns.
Nicht der nette Geschenkebringer, sondern ein Prüfer ob die Menschheit weiter vor sich hin exestieren darf.
Nicht schlecht, aber sehr beängstigend.
Wenn ich mir vorstelle wie die Menschen leichtfertig mit ihren Wünschen umgehen und sich doch nicht im klaren sind was sie wirklich wollen, dann schweben wir nach deiner Weihnachtsversion jedes Jahr in der Gefahr des Weltuntergangs.
*Brrrr*
Echt unangenehme Vorstellung.
Aber andererseits...
Jeder einzelne kann durch seine eigene Entscheidung über sein Leben alles verändern.
Das ist wiederum eine sehr beruhigende Vorstellung.
Auch wenn deine (Horror)Version vom Weihnachtsmann nicht umbedingt etwas für Kinder unter dem Weihnachtsbaum ist, mir hat es gefallen.
Regt mal wieder zum (nach)denken an.

Ich muss wirklich mal sagen, an dir ist ein echter Philosoph verloren gegangen.
Oder wohnst du doch irgendwo in einer Regentonne, wie gewisse Vorbilder aus dem alten Griechenland? *g*
(Lustige Vorstellung wie du da in deiner Tonne mit Internetanschluss sitzt *giggel*)

Auf jeden Fall vermerke ich mir mal privat zu Weihnachten immer nur positiv zu denken und dir vermerk ich hier noch schnell fünf Punkte.


Drachenlord (25.02.2003)

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