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5 Seiten

Kreisverkehr

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Andre
Nehmen wir doch einmal an, die Handlung der nun folgenden Geschichte spielte in einer Stadt, irgendwo, ein Ort ohne Name, unser Hauptdarsteller wäre ein normaler Angestellter
und würde jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit fahren...

6.30 Uhr, der Wecker rappelte, das Wort Klingeln wäre in diesem Fall wohl weniger angebracht gewesen, so dachte jedenfalls Mr. Gordon. Dieses Ding kam aus einer anderen Welt, vermutlich aus einem ehemaligen Ostblockland, um den Leuten auf der anderen Seite der Mauer, den Gordons, den Smiths und den Millers die Freude an der Erhöhung des Bruttosozialproduktes schon am frühen Morgen zu vertreiben- diese und ähnliche Gedanken zogen dem Betrachter durch den Kopf und trugen nicht gerade dazu bei, den noch müden Körper aus dem Bett zu holen.

Gordon jedoch war ein achtsamer Mensch und vollzog den Aufstand bravourös. Wie jeden Morgen wusch er sich gründlich, kochte Kaffee, bereitete das Frühstück und war nach der ersten Tasse munter und gut gelaunt. Er war Büroangestellter, Hausfrau, Koch und Roboter zugleich. Bevor er seine Wohnung verließ, legte er sich den Schal um den Hals, denn im Herbst wurde es sehr kühl in der nebligen Stadt. Im Freien schlug er den Kragen gegen die aufsteigende Kälte hoch und kaufte an der Ecke die Morgenzeitung, die er ungelesen in seinem Mantel verschwinden ließ. Sein Atem ging regelmäßig und erzeugte in der kalten Luft immer wieder neue Nebelwolken. Obwohl die Sicht sehr beschränkt war, konnte er schon das Haltestellenschild, das Markenzeichen der Kreisverkehrtransportaktiengesellschaft, erkennen, die drei Affen, die nichts sahen, nichts hörten und nicht sprachen. Dementsprechend auch die Fahrgäste, sie verstanden es aufs Beste, diesem Zeichen Folge zu leisten. Ein kontrollierender Blick auf die Armbanduhr: Noch drei Minuten, bis der Bus kam.

Pünktlich wie immer kam der Fahrer mit seinem Per Pedes und stoppte. Ja, liebe Leser, Sie haben richtig verstanden, es war ein Per Pedes, nicht eines dieser stinkenden Dinger auf Rädern. Folglich war der Fahrer auch kein Fahrer, sondern ein leitender Läufer, an dem sich die Laufgäste wie bei einer Polonaise an den Schultern hielten. Der Einstieg bestand also aus einer Lücke in der Menschenreihe, derer, wie bei einem motorisierten Bus, sich auf beiden Seiten des Durchganges zwei Kolonnen befanden.

Obwohl er sich jetzt unter Menschen wähnte, ließ sich die Kälte in Gordons Gliedern nicht abschütteln, vielmehr wurde sie durch die Anwesenheit der gesichtslosen Masse noch verstärkt. Er entschied sich für den Platz neben der jungen Dame, die, wie jeden Morgen, im drittletzten Glied stand. Als er sich neben sie stellte, blickte sie ihn kurz an, wand dann jedoch das Gesicht zu der Schulter ihres Vordermannes. Gordon lüftete kurz den Hut, versuchte ein Lächeln, registrierte aber auch, dass es, wie jeden Morgen, von ihr ignoriert wurde. Von soviel Teilnahmslosigkeit ihrerseits enttäuscht, fasste er wohl ein bisschen zu hart nach der Schulter der vor ihm gehenden Frau, es ertönte ein empörter Schrei, der weniger von dem Gedanken des Schmerzes, als von dem der gespielten Überempfindlichkeit getragen wurde. Wieder lüftete Gordon seinen Hut und entschuldigte sich höflich bei der knurrenden alten Schachtel.

Endlich ging es los. Der Führer hob die Hand, und im Gleichschritt der Monotonie stapfte die Horde zur nächsten Haltestelle. Immer wieder blickte Gordon zu der jungen Dame und wartete auf eine Reaktion, auf ein Gespräch oder was auch immer. Nein, von ihr würde er wohl kein freundliches Wort hören, wie auch in den letzten fünf Jahren noch nicht geschehen.

Jetzt endlich waren sie mitten im Kreisverkehr, sie passierten die Haltestellen Queens Bridge, Hamiltons, Albert Church, Queens Bridge, Hamiltons, Albert Church, Queens Bridge, Hamiltons und Albert Church. Jede dieser Haltestellen weckte die Faszination der Fahrgäste:

Die Queens Bridge war eine hohe Brücke mit niedrigem Geländer. Hunderten von Menschen war sie der letzte, aber auch wirklich der allerletzte Zufluchtsort, der sie, natürlich im Fluge mit folgendem Aufprall entweder auf der betonharten Wasseroberfläche oder bei niedrigem Stand auf dem Flussbett zerschellen ließ, in ein anderes und hoffentlich besseres Leben führen sollte.
Hamiltons war die längste Theke der Welt, der Alkohol, der hier floss, schien aus einer nie versiegenden Quelle zu kommen. Tausende von gestrandeten Frauen und Männern gossen sich ein und füllten den Alkohol aus der Flasche in das Glas und aus dem Glas in ihren leblosen Körper.

Langsam wandte Gordon den Blick von der saufenden Horde, denn an der nächsten Haltestelle, der Albert Church, musste er aussteigen. Wenn man wie er schon fünf Jahre im Kreis lief, ließ einen die Substanz weniger widerstandsfähig erscheinen. Die Albert Church kam in Sicht, und Gordon fragte sich, wie die Menschen, die hier mit ihm jeden Morgen den gleichen Weg begingen, dieses Leben wohl aushielten. Nun denn, für heute konnte er nicht mehr, drei Runden waren ja auch genug. Er bahnte sich den Weg durch die kreuz und quer im Gang stehenden Menschen und wurde aus ihrer Laufgesellschaft herausgeschubst, was bei dem Gedränge nicht verwunderlich war.

Da stand er wieder vor der Albert Church, wie jeden Morgen war er hier ein- und auch ausgestiegen. Heute jedoch hatte er das flaueste Gefühl im Magen, das er je erlebt hatte. Vor lauter Schmerz und Isolation ging er zum ersten Mal in die Albert Church und wollte beten. Am Eingang betupfte er sich mit Weihwasser und kniete in einer Bank vor dem großen Altar und dem noch mächtigerem Kreuz Christi nieder. Und während er so betete, hörte er nicht dieses seltsame Knirschen, das von der Wand herrührte. Plötzlich schlug etwas hart und schrill auf dem Boden auf, und als Gordon in seiner Fürbitte zum Kreuz blickte, konnte ihm Jesus kein ermunterndes Lächeln und keinen Segen mehr schenken, denn von der Christusfigur hing dort nur noch die vom Rest des Körpers abgetrennte Hand. Der andere Teil des Corpus lag in Trümmern auf dem Boden. Entsetzt stand der Betende auf und verließ fluchtartig den Ort des abgelehnten Hilferufs.

Wieder vor der Tür angelangt, schaute er mit tränenverschleiertem Blick auf seine zitternden Hände. Ich muss was trinken, dachte er so bei sich und setzte sich auch prompt in Bewegung. Den Laufbus wollte er nicht nehmen, das bisschen konnte er wohl auch noch alleine bezwingen. Von Weitem konnte er schon das Klappern der Gläser, die Rufe der Kellner und das Rülpsen der saufenden Gesellschaft hören. „Einen großen Schnaps“, kam es ihm über die Lippen, und man stellte ihm eine Flasche auf den Tresen. „Gießen Sie sich selbst nach, und machen Sie die Striche auf Ihrem Deckel.“ Hastig bedankte er sich und wollte eingießen, doch sein Zittern war so stark, dass er nur noch aus der Flasche trinken konnte. Er setzte an und nahm einen großen hastigen Schluck. Ja, endlich kam Wärme auf, und sogar ein bescheiden zu nennender Humor fand sich in seinem Gemüt ein. Irgendetwas knisterte doch in seiner Manteltasche. Ein Griff, und schon hatte er die letzten zehn Ausgaben der „Dead Mad Morning“ in der Hand. Lachend erinnerte er sich, dass er diese Zeitung fünf Jahre jeden Morgen gekauft, und sie doch nie gelesen hatte. Wenn er nämlich morgens an der Albert Church einstieg und eine Stunde im Kreis lief, wieder an der Albert Church ausstieg, weinte er immer und warf dann die Zeitung am Kiosk, wo er sie eine Stunde vorher gekauft hatte, in den Mülleimer. Heute aber wollte er sich die Zeit nehmen, wenigstens einmal die Berichte zu lesen. Und während er immer wieder einen großen Schluck aus der Pulle nahm, las er die Berichte, besser gesagt, die Namen, denn die „Dead Man Morning“ Zeitung bestand nur aus einer langen, meistens fünfunddreißigseitigen Namensliste von denen, die sich tags zuvor die Queens Bridge hinuntergestürzt hatten. Er registrierte die gute Qualität des Papiers, nicht so grob und dunkelschattig, wie die anderen Morgenzeitungen, nein, das Papier war so blütenweiß und sauber wie ein Leichentuch. „Lei-chen-tuch“, plapperte er vor sich hin und amüsierte sich über die Pronounciation, die ihm lallend über die Lippen kam. Er kippte den Rest der Pulle hinunter und fasste den Entschluss, die große Selbstmörderei auf der Queens Bridge einmal näher zu betrachten. Den Laufbus nahm er auch diesmal nicht, die mochten keine Besoffenen, das wusste er aus Erfahrung. Also legte er den Weg allein zurück.

Schon als er den ersten Schritt auf die Brücke lenkte, nahm ihm die Atmosphäre den Atem. Hier ging es richtig brüderlich zu. Da stand einer, besoffen wie er, auf der Brüstung und wollte eine Rede halten. Doch dies wollte ihm nicht recht gelingen. Denn kaum hatte er die Worte „Liebe Mitbürger- und Mitbürgerinnen“ über die Lippen gebracht, da verlor er auch schon das Gleichgewicht, und man hörte nur noch das dumpfe Aufklatschen auf der Wasseroberfläche, begleitet von zahlreichen Wasser- und Blutspritzern. „Der Arsch hat doch glatt den Kopf zu weit nach vorn gestreckt und sich die Fresse auch noch aufgeschlagen, sogar zum Sterben ist der zu doof.“ Gordon schaute in das Gesicht des Sprechenden und nickte stumm wie all die anderen, die seine Worte gehört hatten. „Ich kann das besser“, sagte der Nörgler, „Ich springe da so hinunter, dass man meiner Leiche den Tod nicht ansehen kann.“, stieg auf die Brüstung und sprang. Wie dem auch sei, der große Schreier hatte sich verrechnet, seine Verrenkungen lenkten ihn nicht, wie behauptet, zum Wasser, sondern ließen ihn am Ufer aufschlagen, mit dem Kopf auf einen großen spitzen Stein, der nun einen Pelz von verlaufender Gehirnmasse trug.

Gordon schüttelte den Kopf über soviel Unzuverlässigkeit und zog sich den Mantel aus, den er sorgfältig über das Geländer hängte. Die Menge drehte sich zu ihm, wenigstens einmal in seinem Leben nahmen sie Anteil. Er stellte sich auf die Brüstung und spürte nur noch die kalte Luft des Fluges, bis ein markerschütternder Aufprall seinem Leben ein Ende bereitete.
 
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Kommentare  

Krass düster!
Und dabei so etwas wie perfekt. Hut ab. 5 Pts


Dr. Ell (28.01.2004)

Urrr!
Diese Geschichte ist wie zehn Tage alter traniger kalter Fisch mit einer Tasse Motoröl zum Frühstück! Ein Ding zwischen Leben und Tod und sehr häßlich. Genau wie das Leben, das die meisten von uns führen. Wir alle werden doch mehr gelebt, als das wir lebten!
Zu springen ist für manche Leute die einzige Chance, was zu ändern.


Stefan Steinmetz (23.11.2003)

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