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3 Seiten

Ich blute, also lebe ich

Trauriges · Kurzgeschichten
© Mandala
Die schwarzgeschminkten Augen und das leichenblasse Gesicht wirken düster, doch ihre Augen funkeln lebhaft. Ihren Namen möchte die Sechzehnjährige nicht nennen. "Meine Eltern dürfen nichts wissen". Die Schülerin erzählt, dass sie sich regelmäßig die Arme und Beine aufschneidet, als sei es das Normalste der Welt, so normal wie Zähneputzen und Beinerasieren. Wobei das Beinerasieren für das selbst ernannte Punk-Gothic-Mädel mit den buntgefärbten Haaren mehrfach üble Folgen hatte: "Wenn ich mich dabei aus Versehen schneide und das Blut sehe, ist das wie ein Rausch. Dann schneide ich einfach immer weiter." Ihre Freunde, die die Narben an ihrem Körper entdeckten, reagierten mit Vorwürfen. Doch sie bleibt unbeirrt. "Wenn man Teebaumöl auf die Wunden tut, brennt es zwar, aber es bleiben keine Narben!" Eine Expertin, was Selbstverstümmelung betrifft. Aber warum? "Ich mache das, seit ich 14 bin. Ich fühlte mich nicht gut und versuchte damit, meine inneren Schmerzen zu überspielen - und das schaffe ich auch."
Nicht nur sie. Tausende fügen sich selbst Schmerzen zu, die meisten davon sind Mädchen oder Frauen. Auch Prominente wie Lady Di oder Angelina Jolie bekannten sich dazu. Während Jungen ihre Aggressionen eher an anderen auslassen, greifen viele Mädchen zur Rasierklinge, um sich in den linken Unterarm zu ritzen. In der Fachsprache nennt man das Selbstverletzendes Verhalten (SVV), für die Betroffenen ist es einfach nur "schnippeln" oder "ritzen" - und in den meisten Fällen eine Sucht.
Die 16 Jahre alte Dagmar, die mit Vorliebe schwarz trägt und gerne lächelt, auch wenn sie selten Grund dazu hat, sagt: "Das Ritzen schafft eine Erleichterung, die an Masochismus der Selbstbestrafung grenzt. Ich will nicht sterben. Im Gegenteil - ich will leben!" Dieses Paradox steckt wahrscheinlich hinter vielen Schnipplern und Selbstmördern. Der Hunger nach Leben wird so quälend, das man es beendet, um nicht miterleben zu müssen, dass man nicht wirklich leben kann. Auch manche Experten wie der Psychotherapeut Gerhard Paar von der psychopatischen Klinik in Gelden betonen: "Selbstverletzung dient nicht dazu, sich zu vernichten, sondern sich zu bewahren."
Trotzdem sind viele Ärzte noch immer mit der Diagnose überfordert und halten Schnittverletzungen in der Regel für Suizidversuche.
Dagmar, die in einem Dorf in Bayern lebt und wie viele Betroffene der Gothic-Szene angehört, wollte sich nie umbringen. Und doch begann sie vor einem halben Jahr, sich selbst zu verletzen, obgleich sie noch vor einem Jahr schockiert reagiert hatte, als sie bei ihrer besten Freundin ein ins Handgelenk geritztes Kreuz entdeckt hatte. Das hübsche Mädchen berichtet, wie alles anfing: "Das war in einer meiner ganz üblen Phasen, wo ich nichts weiter tun konnte als rumsitzen und heulen. Ich hasste mich, ich wollte mich dafür leiden lassen, dass ich so ein Versager war." Die Bastelschere aus Kindertagen wurde zum ständigen Begleiter. Aus einem Kreuz am Handgelenk wurde ein Flittermuster. "Einige Schnitte habe ich mir nur aus ästhetischen Gründen zugefügt." Die Reaktionen waren die Altbekannten: alles von Unverständlichkeit bis Ekel. "Meine Mutter stand dem total verständnislos und hilflos gegenüber. Sie wollte mich in die Psychatrie einweisen lassen." Zwar wollte Dagmar Hilfe, aber eine Therapie kam für sie nie in Frage. Ihre stummen Hilfeschreie wurden immer verzweifelter. "Ich schlief absichtlich zu wenig, aß ungesund oder gar nichts mehr, trank dafür zuviel."
Sascha hat mittlerweile vier Selbstmordversuche hinter sich. Der 22-Jährige ist einer der wenigen Männer, die sich absichtlich physischen Schmerz zufügen. "Es find damals an, als ich zwölf war und wir in der Schule Sexualkunde hatten", berichtet er zögernd. "Da kam in mir hoch was mir als sechsjähriges Kind passiert ist. Vergewaltigung. Ich fing an zu heulen und rannte aus dem Klassenzimmer zum Klo, wo ich mich einschloss und weinte. Wie aus einem Reflex heraus griff ich da zum ersten Mal zum Messer." Am selben Tag noch brach Sascha den Kontakt zu allen männlichen Freunden ab und bestrafte sich mit dem Messer fortan täglich dafür, ein Mann zu sein.
Zora, ein quirliges Punkmädel, hingegen behauptet, niemals auch nur geschlagen worden zu sein. "Ich habe sehr viele Freunde, die ritzen. Die wenigsten davon wurden vergewaltigt, aber sie alle haben Probleme mit dem Leben." Obwohl die 18-Jährige panische Angst vor Blut hat und bei jeder Blutabnahme einer Ohnmacht nahe ist, griff sie aus Verzweifelung zum Skalpell, das nun immer einsatztbereit auf ihrem Schreibtisch liegt. Die täglichen Heulanfälle brachten sie dazu. Mit einem zögerlichen Blick auf ihren linken Unterarm flüstert sie: "Es war von Anfang an eine Sucht und wurde gleich zu einem Ritual." Für die Narben schämt sie sich nicht, möchte sogar, dass sie gesehen werden und zieht Blicke auf ihren linken Arm, indem sie das Handgelenk mit Handschellen schmückt. "Es ist für mich auch eine Art Solidaritätszeichen", berichtet die politisch engagierte Musikerin mit ein wenig Stolz in der Stimme. "So viele Menschen auf der Welt müssen leiden. Ich füge mir selbst Schmerzen zu, weil ich es für ungerecht halte, dass andere soviel Schmerz von außen zugefügt bekommen und ich nicht. Außerdem halte ich es für besser, meine Aggressionen gegen mich selbst zu richten als gegen andere."
Ob sie das Leben liebt?- Das Leuchten in ihren Augen erlischt. "Das Leben an sich liebe ich schon, aber nicht das Leben in dieser Welt. Ich mag die Menschen nicht. Ich bestrafe mich dafür, dass ich selbst einer bin."
Dagmar führt diesen Gedanken noch weiter: "Es waren weniger die Schmerzen, die ich spüren wollte, sondern es war ein symbolischer Akt der Purifikation. Ich gab mir dadurch eine Art Absolution von meinen Verfehlungen, für die ich mich so hasste." Hass spielt bei allen eine Rolle - doch ebenso die Liebe. Die Liebe zum Leben. Was symbolisiert das Leben besser als Blut? "Ich fand es sehr ästhetisch zu sehen, wie diese kleinen roten Perlen über meine glattrasierte Haut rannen", beschreibt Sascha, der eine Therapie abgebrochen hat, seine Empfindungen. Der physische Schmerz dient dazu, den psychischen zu verdrängen.
"Blutende Arme sind besser als ein blutendes Herz", lächelt Zora.
 
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Kommentare  

ich finde es auch nicht unpassend, weil es keine geschichte, sondern mehr ein artikel ist. hast du dir die leute ausgedacht oder sie wirklich befragt?
lg darkangel


darkangel (23.03.2007)

Ich finde es gut, dass du die "Geschichte" hier reingestellt hast. Ich hätte mir gewünscht in unserer Schülerzeitung so etwas zu lesen. Das hätte mir gezeigt, dass es vielleicht nicht normal ist, aber dass es vorkommt. Dass es auch anderen so geht. Und dass es die unterschiedlichsten "Gründe" oder besser Ursachen gibt, wenn man sich selbst verletzt. Es gibt so viele Menschen, die absolut gar nichts verstehen. Sie hören "Selbstverletzung", sehen schnitte und Wunden und denken sofort an Selbstmordversuche. Dass die Verletzungen ein Schrei nach dem Leben sind, ein Versuch, das Leben zu ertragen und nicht, es zu beenden, darauf kommen sie nicht. Und das wollen viele auch nicht hören.
Dein Text ist anders als die anderen. Nicht so gfühlsbetont und emotional. Er ist gerade deshalb geeignet um Nicht-Betroffene aufzuklären, was es überhaupt bedeutet, wenn jemand so etwas macht.


Regina (19.10.2006)

Ich finde diesen Bericht wirklich gut! Ich bin selbst SVV`lerin und kann sehr gut nachempfinden, was die Betroffen denken und fühlen...!!! Und ich finde dieses Thema sollte auch nicht mehr länger tabutisiert werden!!

Liebe Grüße


Sandra (03.12.2004)

Hallo Gudrun,

diese "Geschichte" wurde von mir vor ein paar jahren für eine Schülerzeitung geschrieben.
Ich habe auch überlegt und gedacht, es passt hier nicht so recht hin.
Dann habe ich es aber zum besseren Verständnis der Thematik doch eingestellt.

Gruss
*M*


 (15.11.2004)

Eher ein journalistischer Bericht als eine Geschichte. Als Geschichte schlecht, weil kein Handlungsablauf vorhanden ist. Als Bericht recht gut, sollte vielleicht in einem anderen Kontext veröffentlicht werden? Deshalb von mir keine Bewertung nach Punkten.

Gudrun (13.11.2004)

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