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Wildkirsche

Schauriges · Kurzgeschichten · Experimentelles
Bo schlitzte Ken mit einem schnellen Schnitt die Kehle auf, und Ken verstummte mitten im begonnenen Satz. Die Handlung hatte etwas so Abruptes, etwas dermaßen Obszönes (der Schnitt verlief geradlinig vom rechten Ohr abwärts bis knapp unterhalb des Kehlkopfs – er sah aus wie das verunglückte Nagelmal einer Geliebten), dass die Szene fast schon surrealistisch wirkte, wäre das alles nicht so erschreckend real gewesen.

Jedes Detail pulsierte in den buntesten Farben, Kens Tod vollzog sich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sein Leben ergoß sich in einem sehr dunklen, fast schwarzen Rot sturzbachartig in Bos schalenförmig gefaltete Hände, von dort in dessen Mund, in dessen Kehle. Kens Leben wechselte innerhalb von Minuten von einem Körper zum anderen.

Es war das perfekte Opfer, das älteste Ritual der Welt.

Wirklich obszön aber war, dass Ken Aldritch nicht in irgendeinem Dschungel geschlachtet wurde, nicht in irgendeiner dunklen Zeit vor dreihundert, vierhundert oder zweitausend Jahren.
Ken blutete mitten in einer belebten Fußgängerzone aus – und niemand war da, der ihm hätte helfen können.

Bo aber war stark.
Die Sonne schien in sein Gesicht.


Wildkirschen tropften von seinem Kinn.
Wildkirschen klebten in seinem Haar, trockneten auf seinen Lippen.
Wildkirschen tanzten in seinen Gedanken.

Wildkirschen beendeten den Sommer.
Wildkirschen beendeten den Winter, den Frühling und den Herbst.
Wildkirschen waren alles, was zählte.





* Visuelles Verbrechen von Louis Cyphre *
 
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Kommentare  

Jetzt bekommst du auch einen von mir :-).

"Wildkirsche" hab ich lange nicht so richtig verstanden, aber als dann irgendwann Louis' teuflisches Feedback im BdT kam, wurde es mir ein bißchen klarer, und dann habe ich's nochmal und nochmal gelesen und immer besser verstanden. Eine bessere Illustration für deine Geschichte hättest du nicht bekommen können, und da kannst du dich geehrt fühlen!


Sabrina Andres (30.12.2004)

@ Louis: Jetzt stell dein Licht mal nicht zu sehr unter den Scheffel! Deine Fotografien sind Weltklasse, und das weißt du. Über deinen Kommentar freue ich mich natürlich trotzdem wie ein Schneekönig. Danke.

BeautifulExperience (28.12.2004)

Wie wird man einer Geschichte gerecht, die einen scheinbar monatelang und beinahe Tag und Nacht beschäftigt hat? Solange kenne ich die Geschichte nicht, aber in meßbarer Zeit sind es Wochen, die mir im nachhinein nur viel länger vorkommen. "Wildkirsche" war eine der ersten Geschichten, die ich im Buch der Träume gelesen habe, aber verstanden, richtig verstanden (vielleicht, denn ich kann nicht sicher sein) habe ich sie erst jetzt, nachdem ich einen Teil der Bilder gesehen, gefunden und interpretiert habe, die mich immer wieder zu dieser Geschichte zurückgeführt haben.


Alles, was ich darüber hinaus an Feedback geben kann, habe ich vor
ein paar Minuten in meiner visuellen Vorhölle geschrieben:

Die Serie "Wildkirsche" fand ihre Inspiration in der gleichnamigen Geschichte von BeautifulExperience, deren immanente Ambivalenz von Grausamkeit und Schönheit mich von Anfang an faszinierte. Ich kann nicht behaupten, dass ich die Geschichte nach dem ersten Lesen verstanden hatte, denn BeautifulExperience verwendete die Metapher der Wildkirschen dermaßen mehrdeutig, dass ich zunächst nur über die offensichtliche, vordergründige Bedeutung stolperte. Aber ich fing an zu rätseln, Zusammenhänge herzustellen, die Geschichte wieder und wieder zu lesen, und mit jedem neuen Versuch, "dahinter" zu steigen und über den Klang der Sprache, die Anordnung der Worte das Geheimnis der Geschichte zu entschlüsseln, driftete ich tiefer in die Gedankenwelt eines Serienmörders, der von seinem Gefühl für makellose Schönheit und Göttlichkeit in sich selbst und den Dingen geradezu besessen war. Ich betrachtete erst den bildlichen Aspekt, doch dann sah ich auch den inhaltlichen, den zeitlichen und den absoluten Aspekt der Metapher, und erst da wurde mir die Tiefe dieser makellosen Geschichte bewußt.

Wie konnte ich diese Bilder in Fotografien umsetzen? Wie konnte ich einen Teil der Wirkung, die diese Geschichte auf mich hatte, auf die Weise visuell umsetzen, die mir möglich war?
Die entstandenen Verbrechen kommen ganz sicher nicht an die Tiefe der Geschichte heran, aber sie spiegeln einen Teil der Lebendigkeit, einen Teil der Schönheit und einen Teil der allem Schönen immanenten göttlichen Bedrohung wider.


The Dark (24.12.2004)

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