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Unser Facteur

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
In der Stadt sind sie in dieser Art längst ausgestorben. Auf dem Lande fristen die Letzten ein gutwillig belächeltes Dasein. Sie sind meist mittelwüchsig, tragen einen Angstgeruch, auf den selbst die gutmütigsten Hunde aggressiv reagieren, und haben allesamt flinke Augen, um in Windeseile Postkarten und offene Briefe überfliegen zu können und rufen dem Empfänger eines schwarzumrandeten Briefes schon von Ferne zu: „Sie haben einen Todesfall in der Familie,“ womit sie durchaus gutwillig ihre Anteilnahme bekunden wollen. Mittags sind sie meist erheblich heiterer als zu Beginn des Vormittags.

Ihr ahnt natürlich, um wen es sich hier handelt. Der aussterbende Postbote in seiner ursprünglich menschlichsten Form, ohne den die ländliche Gemeinschaft unvollständig wäre, und der für eine gewisse Leere am Sonntag verantwortlich zu machen ist.

Unser Postbote - hier im Süden nennt man ihn „Facteur“ - entspricht dem o. g. Bild aufs Haar, nein, er übertrifft es.
Seine tägliche Erscheinungszeit schwankt nicht unerheblich, was nicht von der Menge der auszuliefernden Post abzuhängen scheint, wie Eingeweihte lapidar zu berichten wissen. Es hängt auch nicht von dem jeweiligen Straßenzustand etwa im Winter ab, wenn schon mal verschneite Straßen ihrem jungfräulichen Zustand überlassen bleiben. Denn dann setzt er sich erst gar nicht hinters Lenkrad, zumal es dafür auch keinen Gefahrenzuschlag gibt. Eine gewisse Ahnung von Straßenglätte genügt übrigens, denn sie gilt hier anders als im Norden als eine Art von höherer Gewalt.

Nein, es hängt wohl mehr davon ab, wie vielen Menschen er auf seiner Route von seinen Sorgen, seiner Überarbeitung, von der Hitze oder der Kälte im Postauto berichten muß, kurzum von den hartnäckigen Quärelen eines beruflich, vielleicht auch privat geforderten Menschens. Und dabei ergibt es sich natürlich zwangsläufig, daß er im Gegenzug auch mal bei den Sorgen der anderen hinhört. Da bietet es sich dann regelmäßig hier und dort an, den Facteur mit einem Gläschen Rotwein aufzuheitern, wobei sich der Zeitfluß dehnt und relativ wird, um nicht zu sagen unbedeutend. Natürlich wird er auch schon mal absichtlich festgehalten. Will man doch die Neuigkeiten im Umkreis erfahren. Ob er beispielsweise wisse, warum die Frau vom Nachbarn verschwunden sei, oder ob er in Erfahrung gebracht habe, wer die junge, wohlbehütete Tochter vom Bürgermeister geschwängert habe. Und der Wissbegierige wird dann selten enttäuscht.

Neulich rief er uns vom Hauptpostamt an und teilte mit, daß er einige Säcke mit Hundefutter für uns habe. Warum er sie nicht bringe, wollte ich wissen. Eine klägliche Stimme am anderen Ende der Leitung antwortete daraufhin, daß die Säcke für ihn zu schwer seien, denn er habe es im Rücken. Da habe ich ihm erst einmal mein Mitgefühl ausgesprochen, zumal ich es auch im Rücken habe, und auch alle anderen, die ich kenne. Ob er denn keinen kräftigen Kollegen auftreiben könne, erkundigte ich mich. Er wollte sich mal umsehen, war seine Antwort. Doch die Säcke blieben fern. Er fand wohl keinen hilfsbereiten Kollegen. Denn als notorischer Streikbrecher ist er bei der Post ein trotziger Einzelgänger, was sich in seinem Gesicht widerspiegelt. Als ich diese Geschichte gelegentlich eines Briefmarkenkaufs unserer Postiere erzählte, also unserer Freundin, die die Poststelle unseres Dorfes verwaltet, da empörte sich diese derart über diesen Kollegen, daß ich vom Postschalter etwas mehr Abstand nahm. Dazu muß man wissen, daß sie in erster Linie Gewerkschaftsmitglied und in zweiter Linie Patriotin ist. Ersteres heißt, daß sie besagten Kollegen für einen Verräter hält, zweiteres bedeutet, daß die staatliche Post zu funktionieren hat, wenn nicht gerade mal wieder gestreikt wird, versteht sich.

Sie muß wohl bei der Leitung des Hauptpostamtes ordentlich Dampf gemacht haben, denn kurz darauf fuhr unser Facteur mit dem Hundefutter vor. Er erklärte uns seinen Rückenärger nun etwas ausführlicher, aber nicht seinen Ärger mit seinem Vorgesetzten; und blieb im Wagen sitzen, während wir die 15-Kilo-Säcke ausluden.

Sein Verhalten hatte dann übrigens zur Folge, daß meine kleinen Lieferungen von deutschem Bier an ihn erst einmal ausblieben. Auch in der darauf folgenden Weihnachtszeit litt meine Großzügigkeit noch unter den jüngsten Erfahrungen mit ihm.
Bleiben wir noch beim Bier. Ich hatte ihm mal wieder einige Dosen davon geschenkt, als er mir am nächsten Tag mit betrübter Miene die Post übergab. Auf meine Nachfrage nach seinen Sorgen antwortete er zerknirscht, daß man ihm die Dosen Bier aus dem Postauto geklaut habe. Als ich dann sofort Ersatz heranschaffte, hellte sich seine Miene schlagartig auf.

Man kann sagen, was man will, er ist irgendwie ein liebenswertes Original, wenngleich er für die Männerzunft kein unbedingt starkes Beispiel abgibt. Und manchmal versuche ich, mir seine Frau vorzustellen – und überhaupt.

Aber der wahre Wert unseres Facteurs stellt sich erst heraus, wenn er im Urlaub ist. Dann nämlich ist es oft dem Zufall überlassen, wer welche Post im Kasten vorfindet. Das liegt vornehmlich an der hiesigen Besonderheit, daß die ländlichen Straßen und Wege oftmals keine Namen haben, sondern nur die verstreuten Häuser. Und weil zudem die Vertretung dann ständig wechselt, wird man mit diesem Übel wohl weiterhin leben müssen.
Und wenn sich danach unser Facteur wieder blicken läßt, dann ist die gegenseitige Freude groß, und fürs erste ungetrübt.
Und wenn man ihn fragt, wie der Urlaub war, dann erhält man die einschlägige Antwort: „Viel zu kurz.“



5.III.2005
 
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Kommentare  

sehr amüsant.
merci.


achim kaul (22.03.2005)

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