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6 Seiten

Lilly (Kapitel 12)

Romane/Serien · Fantastisches
An diesem Abend setzten sich Tanja und Mark sehr spät zum Abendessen zusammen. Draußen war es bereits dunkel geworden, aber die Nachtluft war noch lange nicht abgekühlt. Sie kamen zwar schon am Nachmittag aus dem Krankenhaus nach Hause, schafften allerdings nicht wirklich viel. Die besondere Situation mit Lilly sorgte dafür, dass sie zwar viel taten, aber nicht viel schafften. Wäsche waschen, Küche putzen und Lillys Zimmer aufräumen standen auf dem Programm, doch schien nichts davon erledigt zu sein. Alles, was offensichtlich fertig war, war das Abendessen. Es gab Nudeln mit einer simplen Tomatensoße, aber für den Moment reichte es vollkommen. Wenn sie ehrlich gewesen wären, dann hatte keiner von ihnen großen Hunger, aber die Gewohnheit trieb es rein. Es war auch die einzige Gelegenheit des Tages, in ein Gespräch zu kommen.
„Und, wie war die Arbeit heute?“ unterbrach Tanja die Stille, die sich bereits eine lange Weile am Esstisch ausbreitete. Mark war sichtlich von der scheinbar unwichtigen Frage überrascht. Wieso stellte sie ausgerechnet jetzt eine so überaus unpassende Frage?
„Ähm, ganz okay. Es waren wieder viele Anrufe der Mandanten.“
„Ah“, machte sie darauf, als wollte sie etwas damit aussagen. Mark arbeitete bei „Genff, Jenssen und Dorfmaier“, einer mittelgroßen Anwaltskanzlei. Wie der Name schon sagte, war Mark Mitbegründer des Unternehmens, das sich hauptsächlich auf Strafrecht spezialisiert hatte. Mark hatte dabei oft die etwas skurrileren Fälle von vereinsamten Ehemännern, die wegen sexuellem Missbrauch ihres Haustieres angeklagt wurden oder junge Frauen, die sich mittels Kosmetikartikeln auf unrechte Weise ihrer Liebhaber entledigten. Diesmal hatte er einen etwas leichteren Mandanten, der seine Urgroßmutter umgebracht haben soll, die dummerweise vermögend war und bei der er im Testament stand. Das warf kein gutes Licht auf den Angeklagten und brachte ihm zumindest ein schlüssiges Motiv ein. Leider war sein Alibi alleine zu Hause ferngesehen zu haben, als die Tat begangen worden war, nicht besonders überzeugend. Trotzdem glaubte Mark aus einem Bauchgefühl heraus, dass der Mann unschuldig war und bisher konnte er sich gut auf sein Gefühl verlassen. Jener Mandant unterließ es heute nicht, ständig sein Telefon heiß laufen zulassen, was Mark kaum dazu brachte, seiner Arbeit nachzugehen. Ein Termin mit der Staatsanwältin, die die Klage gegen den Mann erhob, stand heute an und nun wollte er Neuigkeiten erfahren. Schon beim ersten Mal teilte ihm Mark mit, dass die Frau nicht bereit war, der Forderung nach Akteneinsicht zu entsprechen, da die Ermittlungen noch am Anfang standen und keinerlei Beweise hieb- und stichfest untermauert wurden. Erstmal war das ein gutes Zeichen, dass man ihn zwar in den Kreis der Verdächtigen aufnahm, aber noch keinerlei Beweise gegen ihn vorliegen hatte. Trotzdem nahm sich der Mann einen Anwalt, nur um sich abzusichern. Bis dahin war alles in Ordnung, nur rechnete Mark nicht mit der Verbissenheit eines Mannes, der am besten noch gestern gesagt bekommen wollte, dass er unschuldig war. Solche Mandanten hatte Mark zwar nicht oft, aber wenn sie kamen, wurde es immer ein Kampf, diesen Leuten die Maschinerie einer Strafverfolgung zu erklären. Immer wieder kamen ihm die Leute mit Beispielen von "Tatort" bis "CSI: Miami", wo die Fälle doch innerhalb von Stunden oder allenfalls Tagen aufgelöst wurden. Jedes Mal konnte Mark sich ein Lächeln nicht unterdrücken, denn dieser Vergleich hinkte total. Es ging bei diesen Serien, ganz besonders bei CSI, diesen amerikanischen Modellen einer Krimiserie, oft nur um die forensische Untersuchung eines Falles, nicht um den Prozess. In der Realität dauerten solche Untersuchungen mehrere Wochen, meist eher Monate, denn anders als im Fernsehen, werden meist viele Fälle simultan bearbeitet. Die Leute schienen das nicht wirklich zu verstehen, akzeptierten aber und begannen mit Telefonterror Neuigkeiten aus den Anwälten zu quetschen.
Seit acht Jahren arbeitete Mark bereits bei dem Unternehmen. Davor hatte er mit seinem Freund Thomas Genff eine kleine Kanzlei gehabt. Als sie sich mit Henry Dorffmaier zusammenschlossen, öffneten sie unter gemeinsamer Flagge ein größeres Anwaltshaus. Mit mehr als 30 Mitarbeitern und einigen weiteren freien Arbeitern im Außendienst, war die Kanzlei eines der größten der Stadt. Durch seinen Beruf und die Seniorpartnerschaft der Firma brachte es ihm auch genügend Geld ein, um das Haus abzubezahlen, in dem Mark und Tanja seit beinahe zehn Jahren wohnten.
„Was wolltest du denn sonst wissen?“ fragte Mark nach einem sehr langen Schweigen. Das „Ah“ seiner Frau deutete er als eine hohle Antwort, die genauso viel wie „wollte ich eigentlich nicht wissen“ bedeuten konnte.
„Ach, nur so. wir hatten heute kaum Zeit uns zu unterhalten.“
„Ich musste ja noch was erledigen. Durch die ganze Sache habe ich meine Arbeit etwas vernachlässigt. Aber wirklich viel geschafft habe ich auch nicht.“
„Tze!“ machte Tanja. Sie musste sich gehörig auf die Zunge beißen um nicht in Tränen auszubrechen. Nicht viel geschafft!? Genau das konnte sie sich auch vorwerfen, wo sie doch den halben Tag im Haus herumwirbelte. Trotz der Ablenkung musste sie dennoch ununterbrochen an Lilly denken, die sie ihrem Empfinden nach im Stich gelassen hat.
„Ich werde mich krank melden“, meinte dann Tanja plötzlich. Mark wollte erst einlenken und nach dem Grund fragen, wusste es aber bereits, als er unwirsch den Kopf hob.
„Lilly braucht jemanden. Sie braucht mich.“ Mark war einverstanden. Jemand musste bei ihr sein um ihr die Hand zu halten oder auch um den Ärzten, dem Mendelbaum über die Schulter zu schauen. Irgendwie fühlte er seine Tochter nicht gut behandelt, auch wenn oberflächlich gesehen nichts auf eine böse Absicht des Doktors hindeutete. Aber sein Bauchgefühl, das ihm bei seinen Mandanten immer zur Seite stand, wies ihn auch in diesem Fall auf eine Abnormität in des Arztes Verhalten hin.
Tanja spürte dies auch, sie ging nur offensiver damit um. Sie war mehr diejenige, die gerne das Reden übernahm. In ihrem Beruf war das auch nicht von Nachteil, wenn sie redegewandt war. Tanja war seit Beginn ihres Berufslebens Friseuse. Wenn man sich gut mit der Kundschaft unterhalten konnte und die Wartezeit bis zur fertigen Frisur verkürzen oder zumindest unterhaltsamer gestalten konnte, kamen diese Leute auch gerne immer wieder zurück. Dabei griff sie auch gerne auf althergebrachte Methoden zurück und lenkte das Gespräch aufs Wetter oder die Familie. Wenn ihnen die Leute sympathisch vorkamen, redete sie auch gerne über sich selbst. Ihr Lieblingsthema war seit Längerem schon Lilly gewesen, die sie wie eine Kaiserin in den höchsten Tönen lobte. „Sie ist so klug, sie ist erst 2 kann aber schon bis acht zählen…“, mussten die Kunden dann staunend erfahren. Gestaunt hatten sie wirklich alle. Lilly war ihr ein und alles und sie war sogar wirklich sehr klug und weit für ihr Alter. Das war nicht nur ein Fall von überzogenem Stolz auf ihr eigenes Kind, das sowieso viel hübscher, klüger und größer war, als alle anderen Kinder auf der Welt. Eltern, vor allem Mütter neigten manchmal dazu, einen Konkurrenzkampf über das beste Kind zu führen. Erst vor zwei Wochen hatte Tanja eine etwa gleichaltrige Kundin, die sich blonde Strähnen in ihre braunen Haare machen lassen wollte. Während der nächsten zwei Stunden unterhielten sie sich zunächst über Belangloses wie das Wetter oder den neuen Verkehrskreisel in der Backhausstrasse, wo kaum ein Auto durchfuhr und somit mal wieder Steuergelder verprasst wurden, die man sicher woanders dringender gebraucht hätte. Später dann, erfuhr Tanja von der neunjährigen Tochter der Kundin und es begann ein erbitterter Kampf um das beste Kind. Niemand sah es wirklich als einen Kampf an, denn die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb gut und führten nur eine sehr lebhafte Unterhaltung. Zu keinem Zeitpunkt handelte es sich um einen Streit.
Tanja berichtete von den Unglaublichkeiten, die Lilly in ihrer frühesten Kindheit brachte, wie der erste sichere Gang mit zehneinhalb Monaten oder die erste gebundene Schleife an ihrem vierten Geburtstag. Die Frau gähnte scherzhaft und hielt die erste Dusche mit drei Jahren und das erste Mal Glas einschütten mit anderthalb dagegen. Tanja gab sich dann wenig beeindruckt und gab gleich an, dass Lilly ihren Namen schon mit zwei schreiben konnte, was die Kundin wiederum mit Kenntnissen in Englisch toppte. Die beiden hatten enorm viel Spaß dabei. Tanjas Kollegen waren sich nicht sicher, ob sie eine beste Freundin gewonnen oder eine gute Kundin verloren hat. Nebenbei haben sich die zwei recht gut kennen gelernt und als die Frau den Laden verließ, schwor sie beinahe wiederzukommen. Vielleicht würde sie das nächste Mal Sarina, ihre Tochter mitbringen.
„Wenn Ihre Tochter so komisch aussieht, dass sie eine neue Frisur nötig hat, dann sollten Sie sie mitbringen“, warf sie ihr beim Verlassen hinterher. Die Frau drehte sich um und blickte sie grinsend und spitz an. „Ich sag nur eins: Sarinas Frisur ist top und das war sie schon immer. Sie werden schon sehen, meine Liebe, meine kleine Sarina ist in einem hervorragenden Zustand, was man der guten Erziehung zusprechen kann, die sie genoss.“
Ohja, die beiden wortgewandten Frauen, die es ausgezeichnet verstanden einander mit spitzzüngigen Bemerkungen anzustacheln, haben sich gesucht und gefunden. Daraus könnte eine gute Freundschaft werden und nebenbei könnten Lilly und Sarina vielleicht auch miteinander spielen. Lilly hatte kaum Freunde, ja vielleicht sogar niemanden. Daran musste Tanja die ganze Zeit denken und an die ungewisse Zukunft. Immer wieder kreisten die Gedanken um dieses kleine Mädchen, dass alleine im Krankenhaus der Verdammnis entgegen sah. Sie musste dringend da raus und Tanja wollte wenigstens bei ihr sein, so lange sie noch dort verweilen musste. Sie beschloss gleich morgen nach dem Frühstück, nachdem Mark das Haus verließ, zu ihrer Tochter hinzufahren. Morgen sollten die Ergebnisse vorliegen und es interessierte Tanja dringend, ob etwas gefunden wurde. Irgendwas könnten sie ganz bestimmt finden, dachte sie, aber ich werde es ihnen nicht gestatten, sie weiter zu untersuchen. Ganz egal was sie fanden, sie hatte als Mutter das Recht, ihr Kind wieder mit nach Hause zu nehmen. Außer Lilly war so schwer krank, dass der Arzt ihr Urteil außer Kraft setzen konnte um das Kind medizinisch zu versorgen. Aber in Lebensgefahr schwebte Lilly nicht, auch wenn sie vorhin vom Sterben sprach.
Das Abendessen war schnell gegessen. Tanja wollte eigentlich nur essen, um mit Mark die verstrichene Zeit am Tag wieder einzuholen, indem sie mit ihm redete. Aber viel geredet hatten sie nicht. Lilly war zentrales Thema in der kleinen Familie geworden und egal worüber sie sprachen, es führte stets zu ihrer Tochter zurück. Deswegen vermied es jeder, weiteres zu besprechen, denn sie malten sich gleich aus, wie die Diskussion enden würde. Mark würde verzweifelt in die Hände seufzen, die er sich vors Gesicht hielt, während Tanja schwer zu atmen begann und plötzlich die Teller abräumte, um sich von ihrem Schmerz abzulenken. In der Küche würde sie dann trotzdem in Tränen ausbrechen. Davon hatten beide mehr als genug. Wenn sie nicht wirklich eine Aufgabe bekamen, drehten sie womöglich noch durch. Sie brauchten Lilly jetzt bei sich, so wie Lilly sie brauchte.
Der Abend neigte sich langsam dem Ende entgegen. Mark und Tanja saßen auf dem Sofa und sahen fern. Die Nachtluft hatte sich während der letzten beiden Stunden rapide abgekühlt, von knapp über 20 Grad auf vierzehn. Es war noch ziemlich heiß geworden für September. Der Sommer war im Grunde schon Ende August vorbei gewesen, die heißen Temperaturen reichten gerade mal bis in die letzte Augustwoche. Danach nahmen die Temperaturen stark ab, es regnete viel und man zog wieder leichte Pullover über. Doch dann kam der so genannte Altweibersommer, der kurz vor der frösteligen, aber sehr schönen Herbstzeit noch einmal so richtig hochsommerlich daher kommen konnte. Dieses Jahr überraschte er die Jenssens genau am Wochenende von Lillys sechstem Geburtstag und bescherte ihnen 36 Grad. Im Wetterbericht wurde aber ab Dienstag wieder niedrigere Temperaturen prophezeit und das Ende des Sommers. Einen milden Herbst versprach man.
Tanja ging früh zu Bett. Es war erst halb elf, Mark blieb noch im Wohnzimmer sitzen und ließ eine CD mit klassischer Musik laufen. Beethoven war genau das, was er jetzt brauchte. Die schnellen, spanischen Rhythmen, die seine Frau bevorzugte, waren ihm nicht angemessen für seine jetzige Stimmung. Obwohl einige der Melodien ihm melancholisch und irgendwie stimmungsverschlechternd vorkamen, konnte er sich prima darauf einlassen und schloss die Augen. Seine Gedanken waren leer, er entspannte ganz einfach. Konzentrierte sich mit der ganzen Seele auf die Musik. Obwohl es ein sehr friedlicher Augenblick war, ertrug Mark es nach einer Weile nicht mehr. Er dachte dann plötzlich wieder an Lilly, wie an eine verflossene Liebe, als wäre sie bereits fort. Kurzerhand entschloss er es seiner Frau gleichzutun und begab sich ins Schlafzimmer.
In dieser Nacht schlief er wie ein Stein. Nicht so tief, sondern so schwer. Wie ein Bauarbeiter nach einer harten Woche auf der Baustelle fühlte er sich und doch war er nicht richtig müde. Er lag schwerfällig im Bett und spürte in aller Deutlichkeit, wie er die Matratze bis auf den Lattenrost durchdrückte. Seine Frau dagegen schlief schon, als er zu ihr stieß. Ob sie schwer einschlafen konnte oder nicht, konnte er nicht sagen, sie war schon seit einer Stunde hier und schlief meist vor ihm ein. Wann Mark dann endlich einschlief wusste er nicht, aber er konnte sich an seinen letzten Gedanken erinnern: Lilly!
 
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