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7 Seiten

Der Koffer ( 2002 )

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
Die Woche ist schon wieder fast herum und ich möchte euch nicht einfach so in die Neue lassen, ohne euch wenigstens meinen persönlichen Wochenrückblick aufzudrücken und euch an meinem unglaublichen Erlebnis vom Dienstag teilhaben zu lassen. Mir ist da nämlich etwas ganz Ungewöhnliches passiert, was ich eigentlich bis heute noch nicht so richtig fassen kann, und dabei bin doch gerade ich, als Kaufmann ja so Manches gewohnt. Aber was da geschehen war, war so unglaublich - eine wirklich verheerende Situation, in die ja auch nur ich gelangen konnte.

Am vergangenen Dienstag, musste ich zu einer Vertragsunterzeichnung nach Stuttgart. Da ich kein Auto, geschweige Führerschein besitze, blieb mir nichts anderes übrig, als mich für eine Zugfahrt zu entscheiden. Und so kam es, dass ich an diesem Morgen, gegen 09.30 Uhr am Gleis 5 des Mannheimer Hauptbahnhofs stand. Laut Fahrplan hatte ich noch exact 21 Minuten Zeit, bis mein Zug eintreffen würde; also noch genug Zeit für mich, um einer meiner Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen, nämlich Menschen beobachten - gerade an Bahnhöfen macht mir das besonders viel Spaß. Ihr werdet es euch wahrscheinlich nicht vorstellen können, wie doof und nahezu kitschig, stressig und nervig, oder unheimlich witzig, fast kindisch sich erwachsene Menschen sich doch benehmen, selbst wenn sie nur in eine gewöhnliche Alltagssituation hineingeraten.
Okay – ich begann also, mich umzuschauen.
Mein Blick schweifte langsam, aber bestimmt, solange über die Menschenmenge hinweg, die sich an den Gleisen tummelte, bis ein seltsam gekleideter Herr, der einige Meter von mir entfernt an einer Werbesäule stand, meine ungeteilte Aufmerksamkeit erregte.
Mein Opfer .
Aufgefallen war mir dieser Mann vor allem wegen seiner wulstigen, extrem buschigen Augenbrauen, Glaubt mir, meine Lieben, ich übertreibe nicht, wenn ich euch sage, dass diese Augenbrauen sogar die Haarpracht über den Augen von Max Mutzke weit in den Schatten stellten. Wie ein dichter Urwald wucherten sie hinter der dunklen Porschesonnenbrille des Mannes hervor. Diese war übrigens ein weiterer Grund für die Wahl. Denn wie ich schon anfangs erwähnte, war es kalt und nass. Die Sonne hatte sich an diesem Morgen noch gar nicht sehen lassen, sie verdrückte sich lieber hinter einer dieser großen dicken schwarzen Wolken, wo sie vermutlich noch ein Nickerchen hielt. Jedenfalls drängte sich in mir berechtigterweise die Frage auf :
" Aus welchem Grund trägt der Mann wohl diese Sonnenbrille? "
Ich überlegte kurz und hatte dann auch gleich mehrere Theorien. Die Erste und gleichzeitig auch Absurdeste:
er hatte Glubschaugen. Diese waren ihm unangenehm, was durchaus verständlich gewesen wäre. Also benutzte er eine Sonnenbrille, damit er sich in der Öffentlichkeit nicht schämen mußte.
Mein zweiter Gedanke :
blind. Oder gar keine Augen. Blödsinn, denkt ihr ? Dachte ich dann auch und verdrängte den Gedanken auch rasch wieder.
Froschaugen. Eigentlich genauso absurd , wie die erste Theorie, deshalb gleich weiter zur Nächsten und gleichzeitig auch die Letzte, die mir auch am Wahrscheinlichsten vorkam :
eine Allergie. Oh, es musste bestimmt eine schlimme Allergie sein, die die Augen reizte und ein sehr unangenehmes Jucken verursachte. Diesem entsetzlichen Jucken musste er mit Reiben an den Augenlidern entgegentreten, womit er das Ganze allerdings verschlimmerte, fast zum Verrücktwerden. Er verstärkte das Reiben , das widerum verstärkte den Juckreiz, immer mehr und immer weiter - jucken - reiben - jucken -reiben, bis
Schwupss !
Da passierte es. Seine Augäpfel blähten sich auf und traten aus den Augenhöhlen hervor
Grauenvoll ! Er musste zu einem Spezialisten, aber in diesem entstellten Zustand konnte er sich doch nicht auf der Straße sehen lassen. Als dann auch noch seine Frau das Bad betrat, wo sich die Tragödien zugetragen hatte, und sofort erschrocken mit den Worten:
"Schatz, Michael Jackson ist in unserem Badezimmer!"
ohnmächtig auf den Teppichboden sank, kam ihm die rettende Idee:
eine dunkle Sonnenbrille. Sieht cool aus und die Menschen auf der Straße, vor allem die Kinder, die unterwegs waren, würden bei seinem Anblick nicht erschrecken und somit würden ihnen auch sich die davon entwickelten seelischen Schäden erspart bleiben.
Zweifelos ein sozialer Zug.
Doch was auch immer sich hinter dem wahren Grund der schwarzen Porschesonnenbrille verbirgt, herausfinden werde ich das wohl wahrscheinlich nie.
Um jetzt mal wieder auf meine Geschichte zurückzukommen; der einzig noch markante Punkt im Gesicht meines " Opfers" war diese unwahrscheinlich große Nase, deren seltsame unbeschreibliche Form mich an einen Hinkelstein erinnerte. Der Rest des Gesichts war wegen seines dichten vollen Bartwuchs verdeckt.
Nun begann ich, ihn mir intensiver anzusehen und während ich ihn also von oben bis unten genau musterte, fiel mir erst auf, wie groß dieser sonderbare Mensch doch war. Ich schätzte ihn auf mindestens zwei Meter. Ein echter Riese - aber er war sehr dünn. Viel zu dünn für seine Größe. Er erinnerte mich daher irgendwie an eine rießige Hundehütte- die hat auch in jeder Ecke einen Knochen.
Jetzt zur Kleidung, angefangen bei den Schuhen. Sie waren schwarz, zweifelsfrei aus Leder und glänzten wie ein neuer Penny. Wahrscheinlich waren sie gerade erst poliert worden. Und anhand der ernormen Schuhgröße konnte ich schließen, dass der Mann unheimlich große Füße hatte. Ich erinnere mich lebhaft, dass ich an dieser Stelle dachte, dass wenn man ihm als Kind Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte, er dann halb nackt war.
Auf seiner hellbraunen seidenen Hose trug er ein beigefarbenes kariertes Hemd - darüber ein Sakko in dezentem weinrot. Eine äußerst merkwürdige Kombination, wie ich finde. Aber es kam noch besser. Denn bei der Krawatte wurde sogar mir schlecht:
ein Traum in popelgrün, meine Freunde, stellt euch das mal vor. Und als ob das nicht schon die letzten Grenzen des guten Geschmacks schon ausdehnen würde, zierte ein weißer Cowboyhut den großen Ballon, auf dem seine Haare wuchsen.
Also – ziemlich seltsam, der Gute.
Neben ihm stand ein großer schwarzer Koffer, der aus Metall zu sein schien - und während ich darüber sinnierte, was wohl da drin war, merkte ich, dass sich der Mann, den ich liebevoll von nun ab Hinkelsteinnase nenne, zu mir umgedreht hatte. Es sah so aus, als würde er mich direkt anschauen, durch seine schwarze Brille genau in meine Augen.
Ein wenig erschrocken darüber, bekam ich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend und tausende von Gedanken rasten wild im meinem Kopf :
" Oh mein Gott, war ich zu auffällig? Habe ich zu lange gestarrt ? Hat er was gemerkt - fühlt er, dass ich ihn beobachte? Das wäre peinlich . . . oje, oje ! " Geschockt sah ich, dass Hinkelsteinnase seinen Metallkoffer schnappte und in kleinen knappen, jedoch zügigen Schritten auf mich zukam Bei mir angekommen, grüßte er mich mit einer tiefen, männlichen, jedoch sehr freundlichen Stimme mit einem knappen " Grüß Gott ! ", während er dabei seinen Koffer vor mir abstellte.
Ich fühlte mich in diesem Augenblick gar nicht wohl – ich erwiderte den Gruß nur mit einem Nicken.
" Nehmen sie zufällig auch den nächsten Zug nach Stuttgart ? "
Ich runzelte ein wenig die Stirn und dachte noch, wie unnötig diese Frage war. Würde ich dann an diesem Gleis stehen? Dennoch antwortete ich in meiner gewohnt netten Art mit einem höflichen " Ja."
Hinkelsteinnase lächelte nur und meinte dann:
" Das ist gut, das kommt mir sehr gelegen. Dann könnten sie mir vielleicht einen Gefallen tun, junger Mann? "
" Das kommt ganz darauf an, worum es sich handelt. ", erwiderte ich prompt - ich muss gestehen, ich war etwas misstrauisch. Außerdem war meine Nervösität leicht angestiegen, denn mir gingen mal wieder tausende von Theorien durch den Kopf, worum mich der Riese nun bitten würde. Am Schlimmsten war allerdings die Vorstellung, er würde mich vor all den Leuten laut ermahnen, ihn bitte nicht auch noch während der Zugfahrt so auffällig zu beobachten. Wäre das nicht peinlich? Vor all den Leuten? Was würden die dann von mir denken?
" Steht am Bahnhof und beobachtet andere Männer. . . " - was würde ich da denken. Ich schüttelte den Gedanken schnell wieder ab und versuchte wenigstens nach Außen hin ganz locker zu wirken.
Vermutlich gelang es mir.
Ich machte mir auch zu viel Gedanken, denn im Endeffekt bat mich Hinkelsteinnase nur darum, einen Augenblick auf seinen Koffer aufzupassen, da er dringend auf die Toilette müsse und er nicht noch den schweren Koffer schleppen wollte.
Ich schaute auf die große Bahnhofsuhr. Es dauerte noch knapp fünfzehn Minuten, bis der Zug eintreffen würde; ich sah also keinen besonderen Grund, dem Mann die Bitte abzuschlagen und sagte zu.
Ich Blödmann!
Hinkelsteinnase bedankte sich knapp bei mir und eilte dann zur Rolltreppe, die ihn zur Unterführung brachte, wo sich auch die Toiletten befinden.
So wartete ich also am Gleis fünf, zu meiner Linken mein eigener bescheidener kleiner Aktenkoffer, zu meiner Rechten der große schwarze Metallkoffer, auf Hinkelsteinnase. Schon nach wenigen Minuten schaute ich auf die Uhr - noch 11 Minuten, also noch genügend Zeit und kein Grund zur Beunruhigung.
Die Zeit verstrich, der große Zeiger der Uhr bewegte sich immer näher auf halb zehn. Als dann eine nette weibliche Stimme durch die Lautsprecher verkündete:
" Meine sehr verehrten Damen und Herren, es fährt ein in fünf Minuten an Gleis 5 der IC Regional über Heidelberg nach Stuttgart, Ulm und Augsburg. Der Aufenthalt dauert eine Minute. ", da wurde ich wieder ein wenig unruhig und begann auf und ab zu gehen. Ich spürte wieder meine Nervösität in mir ansteigen. Ich blickte nun immer abwechselnd von Bahnhofsuhr auf Rolltreppe. Inzwischen war es 09.28 Uhr - von Hinkelsteinnase keine Spur. Jetzt wurde ich schon hektischer. Der Zug würde gleich eintreffen. Was sollte ich tun, wenn der Mann bis dahin noch nicht aufgetaucht war? Ich konnte ja wohl kaum den Koffer einfach so am Gleis stehen lassen. Aber andererseits - warum eigentlich nicht ?
Naja, noch zwei Minuten – also keine Panik. . .
Aus den Lautsprechern erklang erneut die Durchsage von der Ankunft meines Zuges und da hörte man auch schon das Hupen eines anfahrenden Zuges. Gleich war es also soweit. Ein verzweifelter Blick zur Rolltreppe. Keine Hinkelsteinnase. Der Zug rollte an.
" Oje oje, was mache ich nur! ", dachte ich, während ich dabei immer schneller auf und ab ging und mit meinen Händen wild umher gestikulierte. Jemand, der mich in diesem Augenblick beobachtete, würde mich glatt mit einem Fozzie Bären auf Extasy vergleichen.
Ein Pfeifen.
Der Zug bremste und kam nach wenigen Metern zum Stillstand.
Die Türen wurden geöffnet.
Menschen stiegen aus.
Ich schaute noch einmal in Richtung Rolltreppe - und da kam meine Rettung. Es war zwar nicht Hinkelsteinnase, der auf der Rolltreppe stand, sondern zwei Polizeibeamte, die sich gerade unterhielten. Ich würde denen die Situation kurz erklären, ihnen den Koffer überlassen und mich mit ruhigem Gewissen in meinen Zug setzen.
Gerade wollte ich auf den Beamten zugehen und da passierte es!
Vor lauter Hektik und Aufregung übersah ich Hinkelsteinnase´s Koffer und stolperte darüber, was zur unerfreulichen Folge hatte, dass mein Kinn den harten Steinboden unsanft küsste. Dann ging alles ganz schnell.
Zuerst hörte ich um mich herum nur spottendes Gelächter, welches dann abrupt endete. Ich nahm stattdessen ein Raunen, Flüstern und Tuscheln wahr, mitunter ein Gemisch von fassungslos klingenden Metaffern wie, " Oh mein Gott ! " , oder " IIH ! " , bis zu schockierten Ausrufen wie " Ist das krank ." , und " Ist der pervers ?"
Während der eine Polizist mir aufhalf, hörte ich schon den anderen entsetzt sagen:
" Was zum Henker ist denn das?"
Ich rieb meine Hand noch an mein schmerzendes Kinn und drehte mich dabei um. Erschrocken realisierte ich dann, was geschehen war.
Ich konnte es nicht fassen. Es mag vielleicht unglaubwürdig klingen, aber durch meinen Sturz hatte sich Hinkelsteinnase´s Koffer geöffnet, und nun lagen da haufenweise große und kleine Knochen überall auf dem Bahnsteig verteilt. Viele starrten mich an, als hätte ich gerade erst gelernt, aufrecht zu gehen.
" Ist das dein Koffer, mein Junge? " , fragte mich einer der Polizisten streng .
Mein Herz pochte schneller und sehr laut gegen meine Brust. Heftig schüttelte ich den Kopf.
" Nein, nicht doch, ", stammelte ich, " das ist nicht mein Koffer. Ich habe nur auf ihn aufgepasst. Der eigentliche Besitzer sitzt auf der Toilette."
Die Polizisten schauten sich gegenseitig mit hochgezogenen Augenbrauen an .Sie schienen mir nicht zu glauben.
Ich versuchte, die Situation zu erklären – und hoffte natürlich auf Hinkelsteinnases Rückkehr, was natürlich nicht geschah.
Einer der beiden Polizisten war sogar gegangen , um meine Aussage zu überprüfen, doch als er von der Toilette zurückkam, schüttelte er nur mit dem Kopf.
" Junger Mann, du begleitest uns erstmal. " , befahl der Polizist und schwups – schon hatte ich die Handschellen an.
Ihr könnt euch vorstellen, wie verzweifelt ich war.
Die Menschenmenge um mich herum hatte sich aufgelöst. Sie waren bereits in den Zug gestiegen, der sich nun in Bewegung setzte - ohne mich.
Durch meine Hilfsbereitschaft war ich mal wieder in eine Katastrophe verwickelt worden, eine Situation, die aber bald noch unangenehmer für mich wurde, als sich dann nach einem schier unendlich langen Verhör auf der Polizeiwache und einigen Untersuchungen an den sichergestellten Beweismaterial herausstellte, dass die Knochen - und nun haltet euch fest, von einem Bären abstammten. Ja, wirklich von einem Bären.
Es wurde sogar festgestellt, dass es sich hierbei um die Knochen eines ganz besonderen Bären handelte; und das gab mir entgültig den Rest.
Die Knochen stammten nämlich von dem Bären, den ich euch nun mit dieser Geschichte aufgebunden habe

In diesem Sinne wünsch ich euch eine schöne Woche, liebe Grüße
Euer Sascha
 
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Kommentare  

Danke schön, freut mich, dass es euch gefällt. Die Idee zu dieser Kurzgeschichte hatte ich bereits 1999, da habe ich es als Briefversion verfasst, 2002 wurde dann eine Kurzgeschichte daraus. Dies hier ist die gekürzte Fassung, die ungekürzte Version wird als Vorwort in meinem Buch " Gedankengänge" zu lesen sein, an dem unter anderem gerade arbeite.

Sascha Gries (27.11.2009)

Gefällt auch mir. Schöne fantastische witzige Geschichte.

Jochen (27.11.2009)

Hihi, Sascha, köstlich! Toller flüssiger, Schreibstil, sehr gelungen.

doska (25.11.2009)

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