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4 Seiten

Ramir, der Glöckner

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Irgendwo, ganz tief im Landesinnern Brasiliens, gibt es ein kleines Dorf namens Paya, wo einst ein einfacher ungebildeter Mann lebte, der für die Kirche des Dorfes als Glöckner arbeitete. Sein Name war Ramir Colandez, ein kleiner, jedoch kräftiger Mann, der trotz vieler Schicksalsschläge, die er in seinem Leben hinnehmen musste, ein glücklicher, zufriedener Mensch war. Seine Arbeit in der Kirche bestand darin, die große alte Glocke, in dem fast schon ruinenartigen Kirchturm, zu den vom Pfarrer vorgegebenen Zeiten zu läuten. Es war eine körperlich schwierige, vor allem sehr kraftaufwändige Arbeit, für den knapp Vierzigjährigen. Dennoch liebte er seinen Beruf, den er immerhin schon Jahrzehnte lang gern ausübte.
Eines Tages wurde Ramir überraschend in das Haus des Pfarrers bestellt. Etwas zurückhaltend betrat er das kleine Amtsbüro, wo ihn der Pfarrer bereits erwartete. Er bedeutete Ramir Platz zu nehmen. Ramir nickte dankbar und setzte sich auf einen der klapprigen alten Holzstühle.
" Ramir. ", begann der Pfarrer in seinem gewohnten, ruhigen, sanften Ton, " Ramir, mein Sohn, ich habe leider eine traurige Nachricht für dich. Wie du ja weißt, hat unser ehrenwerter Bischof gestern unserer kleinen Gemeinde einen Besuch abgestattet, um uns eine Veränderung mitzuteilen, die unter anderem auch dich betrifft."
Der Pfarrer, ein großer, sehr beleibter Mann, machte eine Pause und schritt zu dem kleinen Fenster, verschränkte die Arme auf seinem Rücken und schaute ernst durch die zerkratzten Scheiben auf die staubige Gasse, wo einige Kinder mit einem Ball spielten.
" Ramir, der Bischof hat entschieden, dass zumindest in seiner Region alle ihm unterstellten Gemeindemitglieder mindestens einen Grundschulabschluss haben müssen."
Der Pfarrer drehte sich wieder zu Ramir um und blickte ihn durchdringend an. Ohne jegliche Mimik im Gesicht hielt Ramir den fast schon strengwirkenden Blick des Pfarrers stand.
" Wir wissen beide, was das nun für dich bedeutet - auch wenn ich das nicht gerne tue, schließlich dienst du unserer Kirche schon seit dreiundzwanzig Jahren treu und sehr gewissenhaft."
Ramir nickte stumm.
" Ich habe versucht, mit dem Bischof zu reden, denn ich mag dich sehr, Ramir. Das tue ich wirklich. Aber unser Bischof ist der Meinung, er würde durch seine Entscheidung mehrere Menschen zum Schulbesuch bewegen."
Ramir stand auf und sagte ruhig und gelassen: "Herr, für einen Schulbesuch bin ich wohl etwas zu alt. Also ist das somit auch das Ende meiner Arbeit in ihrer Gemeinde, nicht wahr?“
Der Pfarrer nickte und holte einen kleinen braunen Geldbeutel aus seiner Robe hervor.
" Du bekommst von mir den doppelten Monatslohn voll ausgezahlt, als kleine Entschädigung. Mehr kann ich leider nicht für dich tun, mein Sohn."
Stumm nahm Ramir den Geldbeutel entgegen und lauschte noch den üblichen Dankesworten des Pfarrers, bevor er das Haus endgültig verließ.

Ramir atmete tief durch, seufzte leise vor sich hin und ging langsam zu dem alten ausgetrockneten Brunnen des Dorfes, wo sich meist Ramir´s Freunde aufhielten und sich nach den anstrengenden Arbeitstagen ausruhten und bis in die späten Abendstunden Neuigkeiten austauschten.
" Ramir, alter Junge - na schon Feierabend? Setz dich zu uns, mein Freund." rief Pacco erfreut, ein langjähriger Freund von Ramir.
Ramir erwiderte den Gruß und ließ sich auf der schattigen Seite des Brunnens nieder, ehe er seinen Freunden von der Kündigung erzählte. Fassungslos und sehr überrascht von der Entscheidung des Bischofs, begann nun eine heftige Diskussion über Arbeit, Kirche und den sozialen Markt.
Ramir hörte nur zu, er wollte sich nicht an dem Meinungsaustausch beteiligen, da dieser schon ohnehin vom eigentlichen Thema abgeschweift war. Nur Pacco setzte sich neben ihn und fragte besorgt:
" Und, mein Freund, was machst du jetzt ? "
Ramir antwortete nicht, zuckte nur kurz mit den Achseln. Er griff in seine Hosentasche und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. Er hatte plötzlich ein großes Verlangen nach einer Zigarette, um wieder klar zu denken, doch er musste feststellen, dass seine Schachtel leer war.
" Auf jeden Fall, " seufzte Ramir leise, " werde ich erstmal nach Abda gehen, um mir Tabak zu kaufen."
Abda ist die nächstliegende Stadt des Dorfes, die nur zu Fuß oder mit dem Bus zu erreichen ist, der allerdings nur an Vormittagen alle zwei Stunden seine Route fährt – zu Fuß ein sehr weiter Weg.
" Hey Ramir! " , rief einer der Männer plötzlich , " Du hast jetzt ja viel Zeit. Wenn du schon nach Abda gehst, dann bringe uns doch Tabak mit, wir werden dir auch eine kleine Kommsion dafür bezahlen."
" Das ist eine gute Idee, Raishard.", sagte ein anderer, " Sei so nett und besorge mir auch zwei Einheiten Tabak, bitte."
Ramir hatte nichts dagegen einzuwenden und nahm noch weitere Bestellungen entgegen, ehe er sich auf den Weg nach Abda machte.

So kam es, dass der ehemalige Glöckner sich von nun an regelmäßig in die Stadt begab, um Tabak zu kaufen. Dabei stellte er fest, dass auch noch viele andere Dinge in seinem Dorf benötigt wurden und so brachte er nach und nach auch Feuerzeuge und Zeitungen mit. Schließlich nahmen die Bestellungen derart überhand, dass er einen kleinen Laden eröffnete - mit Erfolg. Denn Ramir war ein guter Verkäufer, dem vor allem viel daran gelegen war, die Wünsche seiner Kunden zufriedenstellend zu erfüllen. Seine Geschäfte blühten richtig auf, so dass er sie ausweitete und innerhalb kürzester Zeit zu einem der angesehensten Unternehmer der Region wurde. Deshalb wurde es eines Tages unumgänglich, ein Bankkonto zu eröffnen, da sehr viel Geld durch Ramir´s Hände ging. So betrat er eines Tages mit mehreren Geldsäcken voller großer Banknoten die Bank von Abda, wo er sofort persönlich vom Direktor mit offenen Armen empfangen wurde.
" Einen wunderschönen guten Tag, werter Herr Colandez, ich bin der Geschäftsführer dieser Bank, Direktor Fedderson.", sagte der dicke Mann im schwarzen Leinenanzug freundlich und schüttelte Ramir die Hand.
Ramir erwiderte den Gruß mit einem leichten Nicken und sagte:
" Ich möchte gern ein Bankkonto bei ihnen eröffnen und gleich eine größere Summe einbezahlen."
" Aber gewiss doch, verehrter Herr, das ist gar kein Problem. Wenn sie bitte noch einige Anträge ausfüllen möchten . . ."
Ramir schaute den Bankdirektor etwas verlegen an und sagte dennoch gelassen:
" Das geht leider nicht so einfach, ich fürchte, dass sie das für mich tun müssten. Ich kann nämlich nicht schreiben, auch das Lesen habe ich nie gelernt."
Der Bankdirektor war verblüfft.
" Das heißt, sie haben all das geschafft, obwohl sie im Grunde ein Analphabet sind?“
Ramir nickte und antwortete:
" Ich habe all das geschafft, weil ich mich stets bemüht und eingesetzt habe. Für Menschlichkeit braucht man keinen Schulabschluss."
" Meinen Glückwunsch, " meinte der Direktor sichtlich beeindruckt, " all das, ohne eine Schule besucht zu haben - alle Achtung. Stellen sie sich mal vor, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie dementsprechend auch noch einen Schulabschluss gemacht hätten?! "
Ramir lächelte und sagte sanft:
" Das kann ich mir sehr wohl vorstellen, Herr Direktor. Wäre ich zur Schule gegangen, würde ich immer noch Tag für Tag die Glocken unserer Kirche läuten."
 
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Kommentare  

Eine tolle Metapher. Du hast völlig Recht. Wichtig ist in allem ist die Tüchtigkeit und der richtige Blick für die Situation. Das bewundere ich manchmal echt an den Leuten, die Erfolg haben, und diese Ankennung sollte ihnen auch nicht genommen werden.

Petra (06.12.2009)

"für menschlichkeit braucht man keinen schulabschluss."
das ist absolut richtig, und ich wünschte mir, es würde immer so gut ausgehen wie in deiner geschichte. ;)
lieben gruß


Ingrid Alias I (02.12.2009)

Eine Geschichte zum Schmunzeln und zum Nachdenken. Wirklich toll geworden!

doska (01.12.2009)

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