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5 Seiten

Phillip hat Urlaub

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten · Experimentelles · Sommer/Urlaub/Reise
Es soll ja Menschen geben, die ihren Urlaub mögen. Zwar hatte Phillip davon auch schon mal was gehört, nachvollziehen konnte er das aber nicht wirklich. Denn mit Urlaub verband er stets lediglich Nichtstun. Und es gab nur wenig, was er mehr verabscheute, als nichts zu tun. Vielleicht Schweinefleischstückchen in Aspik aus Höflichkeit essen müssen oder eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt ertragen müssen. Viel mehr gab es da für ihn aber nicht. Zumindest nichts, das ihm spontan hierzu einfallen würde.
Der Oktober hatte gerade erst angefangen und das Herbstwetter sich vollends in seiner neblig- und nieselregigkeit entfaltet gehabt, als er beschlossen hatte, in seinem Urlaub einfach mal statt nichts zu tun, etwas zu tun, auch wenn es unnötig war und er sich dabei mit Sicherheit auch genauso fühlen würde. Dennoch wollte er, nein musste er der ihn in seinem Urlaub alles umgebenen Langeweile irgendwie entfliehen. Hierzu hatte er sich einfach mal eine Spiegelreflexkamera gekauft, eine von diesen „Analogen“, wie sich der Fachverkäufer ausgedrückt hatte, der dann auf Nachfrage einigermaßen glaubhaft erklären konnte, dass gerade dieses Modell in seiner Zeit das absolut Beste war, das es damals zu kaufen gab und sowieso seiner Zeit weit voraus war und der niedrige Preis, den man nun dafür zahlen musste, lediglich der Tatsache verschuldet war, dass die meisten Käufer heutzutage, natürlich ausschließlich der Mode wegen, oftmals nur noch den „Digitalen“ hinterherlaufen würden, von der Qualität und vor allem vom Preisleistungsverhältnis her diese hier aber momentan die absolut beste Kamera sei, die es überhaupt nur irgendwo zu kaufen gab. Phillip hatte den Verkäufer, während dieser ihm all dies zu erklären versucht hatte, die ganze Zeit interessiert dreinblickend angeschaut, zwar nicht allzu genau zugehört, dafür aber hie und da zustimmend und vor allem auch verständnisvoll genickt, weil er vermutet hatte, dass dies von ihm in jenen Situationen, in denen er es getan hatte, erwartet worden war, und anschließend dann tatsächlich diese „analoge“ Spiegelreflexkamera, was dieses „analog“ auch immer bedeuten mochte, gekauft. Denn er hatte vor, in seiner aufgezwungenen Freizeit die sich Urlaub schimpfte mit seiner neuen Kamera einfach so vor die Türe zu gehen und drauflos Fotos zu machen, so als sei dies in irgend einer Art und Weise eine vernünftige Tätigkeit, was es aber in Wirklichkeit, das wusste er nur allzu gut, absolut nicht war.
Um fotografieren zu können musste er lediglich, das hatte ihm alles der überaus kompetente Fachverkäufer aufgezählt gehabt, diese wirklich tolle und wirklich preisgünstige Kamera haben, dazu passende Batterien besorgen, am besten gleich mit Vorrat, und natürlich brauchte er auch noch einen Kleinbildfilm. Er hatte daraufhin einfach wahllos irgendeinen dieser kleinen Pappkartonboxen gekauft, auf der irgendwas mit Kleinbildfilm draufgestanden hatte, und diesen jetzt, als er mit seinem neu erstandenen Gerät endlich wieder zuhause angekommen war, und nachdem er dieses ausgepackt hatte, diese irgendwie - natürlich ohne wirklich zu wissen, wie man das denn eigentlich so machte - in diesen wirklich tollen und auch wirklich preiswerten Apparat gestopft. Dann die Klappe wieder zugeklappt, die Kamera mithilfe eines kleinen Rädchens angeschaltet – wie das ging, hatte ihm zuvor der Fachverkäufer gezeigt gehabt – es war fast das Einzige, das er sich bei diesem zwar wirklich professionell durchgeführten, aber doch auch, das musste er zugeben, sehr lange dauernden Gespräch hatte einigermaßen dauerhaft merken können – und vernahm daraufhin plötzlich ein Summen und dann ein lautes Klick-Klack! – Geräusch, welche beide von seinem neuen Gerät auszugehen schienen. Danach kam die Kamera, wie er erleichtert feststellte, erst einmal wieder zur Ruhe. Allerdings schien sie jetzt auf irgendetwas zu warten, vermutlich auf ein geschossenes Foto von ihm, aber da war er sich noch nicht so ganz sicher. Dennoch beschloss er, es ganz einfach mal auszuprobieren. Also hing er sich den an der Kamera angebrachten Gurt um seinen ein ganz wenig zu lang geratenen Hals und verließ in der vollen Absicht sein trautes Heim, draußen in der jetzt so schönen Herbstatmosphäre die tollsten Fotos zu schießen, die je ein Mensch zuvor zu Gesicht bekommen hatte.
Als er dann vor seiner Türe auch tatsächlich stand, schaute er sich erst einmal nach einem hierzu geeigneten Motiv intensiv um. Dort war ihm natürlich alles sehr vertraut, weshalb ihm nichts, aber auch wirklich rein gar nichts, was es dort zu sehen gab, auch nur ein einziges Foto wert erschien. Aber was soll`s?, dachte er plötzlich für seine Verhältnisse fast schon erschreckend innovativ so bei sich. Schließlich hatte er ja Urlaub und er war nun einmal hier draußen, um ein Foto zu schießen. Also entfernte er übertrieben lässig die Kappe von seinem Objektiv – auch dieses Vorgehen war noch von dem Gespräch mit dem Fachverkäufer wahrscheinlich eher aus Versehen hängen geblieben – legte anschließend seine Kamera an seinem Gesicht an, sah durch den Sucher hindurch und forschte nach etwas wenigstens ansatzweise Interessantem und sei es auch nur so etwas banales wie ein Vogel. Interessantes gab es aber immer noch nirgends zu sehen, noch nicht einmal einen Vogel, weshalb ihm schlagartig bewusst wurde, dass es dann logischerweise auch völlig egal war, was er denn nun eigentlich fotografierte, schließlich war doch alles gleich uninteressant.
Plötzlich ließ ihn diese gerade gemachte Erkenntnis tief durchatmen und eine seltsame Form von „Hm, da bin ich mir jetzt aber wirklich überhaupt nicht mehr sicher, was es denn nun eigentlich ist, was ich da gerade fühle, wahrscheinlich deshalb nicht, weil ich so etwas noch nie zuvor in meinem Leben gefühlt habe“ verspüren. Dieses Gefühl wurde dann so stark in ihm, dass es ihn förmlich zu überrollen drohte. Er musste daraufhin seine Kamera erstmal wieder absetzen und nochmals tief durchatmen. Er versuchte dieser Sache nachzuspüren. Es fühlte sich irgendwie an, wie… sein Verstand versuchte hitzig, ja fast schon fiebrig wahnsinnig durch all die vielen heftigen Emotionen hindurch, von denen er gerade erschüttert wurde, diesen Zustand, in dem er sich gerade befand, irgendwie zu beschreiben, zu erfassen. Ging aber nicht. Deshalb versuchte er es erst einmal mit Worten, die ihm hierzu zur Verfügung standen. Also überlegte er: Er fühlte sich irgendwie seltsam leichtfüßig, gar ein wenig beschwipst und sein Bauch fühlte sich an, als habe er wild flatternde Schmetterlinge verschluckt. Er fühlte sich - er schaute mit etwas schief verdrehtem Kopf in den bewölkten Herbsthimmel hinauf – irgendwie – ja, wie denn nun?! Verdammt, er musste das jetzt irgendwie herausfinden!
Plötzlich bemerkte er in der dicken Wolkendecke über ihm einen winzig kleinen Riss, durch den die dahinter liegenden Sonnenstrahlen durchzudringen vermochten. Dieser winzige Riss war nur für einen Bruchteil einer Sekunde vorhanden, dennoch schien er ihm dabei irgendwie behilflich sein zu können, endlich darauf zu kommen, wie verdammt noch mal er sich denn eigentlich gerade fühlte. Er fühlte sich irgendwie… hmmmm, irgendwie… frei. Ja! Das war es! Er fühlte sich frei! Frei zu fotografieren, was er nur wollte. Denn er selbst war nun der Regisseur, der bestimmte, was fotografiert wurde und was nicht. Er selbst hatte nun die Deutungshoheit über sein Werk, denn ER konnte bestimmen, was es zu bedeuten hatte, ob es denn überhaupt etwas zu bedeuten hatte und falls ja oder falls nein ob es gerade deshalb gut oder schlecht war. Es war in gewisser Weise auch die Freiheit über das Schicksal, das nun einzig und alleine in seinen Händen lag. Er ganz alleine konnte darüber bestimmen. Er war der Schöpfer des Neuen, das durch sein höchstpersönliches Einwirken entstehen würde, oder eben auch nicht. Er war Gott; der Herrscher über sein Reich; sein Werk entstehe; sein Wille geschehe, und das Alles mithilfe dieses simplen Gerätes, das er erst seit kurzer Zeit sein Eigen nennen konnte. Kein Chef würde ihm sein Werk vermiesen können, niemand konnte es behindern, denn niemand hatte in irgendeiner Weise das Recht, ihm bei dieser Sache, die er zwar noch nicht begonnen hatte, die er aber jeden Augenblick begonnen haben wird, reinzureden.
Als er nach einer Weile diese Erkenntnis ein wenig verdaut hatte, schaute er sich das Gerät, das er jetzt fast schon krampfhaft in seinen Händen hielt, noch einmal etwas genauer an. Zwar immer noch mit den Selben, aber jetzt doch irgendwie mit ganz anderen Augen. Denn er schien mit seiner Erkenntnis ganz kurz den Nektar der Götter gekostet zu haben. Und dieser hatte so süß und geradezu unerschöpflich verführerisch geschmeckt, dass ihm diesem zu widerstehen in Zukunft wohl nur schwerlich gelingen wird. Welchem unbeschreiblichen, ja geradezu unermesslichen Geheimnis war er hier so plötzlich auf die Spur gekommen? Welchem Zauber? Welcher Kunst? War vielleicht genau dies die Faszination, die von der Fotografie, ja von der Kunst überhaupt auszugehen pflegte?
Phillip hob sein Gerät ein weiteres Mal empor, sah wieder durch den Sucher hindurch, diesmal zu der Hauswand eines der Nachbarshäuser hinüber, drehte seine Kamera ein kleines Stück zur Seite, so dass das Bild, das er nun sah, etwas schief stand und drückte dann auf genau den Knopf, durch den, das hatte ihm der Fachverkäufer erklärt, die Kamera angeblich ein Foto produzieren konnte. Als er daraufhin wieder dieses Klick-Klack! – Geräusch von vorhin vernommen hatte, war er sich ziemlich sicher, dass er gerade das erste Foto seines Lebens geschossen hatte. Sollte dies tatsächlich so sein, wird es mit ziemlicher Sicherheit nicht sein letztes Foto gewesen sein.
 
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Kommentare  

Da muss ich zustimmen - sehr gelungen. und man schließt ihn richtig ins Herz , deinen "Grummel"

Petra (29.09.2010)

Manchmal zu lange Sätze, dennoch ingesamt köstlich, wie dieser verschrobene Mensch, plötzlich einen Ausweg aus seinem introvertierten Dasein findet. Schön spitzfindig geschrieben.

doska (29.09.2010)

Ah so wird man also leidenschaftlicher Fotograph

Jingizu (28.09.2010)

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