Jetzt dämmerte es ihm. Er kannte dieses Mädchen mit dem Fliegenpilzkleid. Er kannte Nadine. Er kannte die Juwelendiebin.
Gedankenverloren stand Kommissar Sedemünder auf dem Scheitelpunkt der Auffahrt zum Innenhof des Schlosses. Den Blick gen Süden gerichtet. Über den Großen Plöner See.
Noch lagen die kleinen Inseln im Morgendunst. Im Osten kroch gerade die Sonne über den Horizont. Sein Blick ging in die Weite. Bis hinter den Horizont. Über dreißig Jahre zurück.
Sie waren damals für einen kurzen Sommer Freunde gewesen.
Noch spürte er den Abdruck des grauen, kugeligen Kopfsteinpflasters unter seinen Füßen. Jenes, das ihn die letzten einhundert Meter begleitet hatte. Das ihn gemahnte, dass es Beständigkeit gab in dieser sich so rasant wandelnden Welt. Das Pflaster trug seit hunderten von Jahren Menschenfüße, Räder der Kutschen, Reifen der Automobile. So wie sein Herz sein Leben lang dieses Kind mit dem Fliegenpilzkleid in sich herum getragen hatte.
Es war ein sehr heißer Sommertag. Damals im August. Auf meinem kleinen Kinderrad war ich mehrfach die Seestraße hoch und runter gefahren. Aber mein Kumpel Andreas ließ sich auf dieser Seite der Häuser nicht blicken. Sicherlich musste er wieder zusammen mit seinen Eltern am Wasser sitzen und mit seiner kleinen Schwester langweilige Sandkuchen backen.
Da hatte ich die Eingebung bekommen, zu dem großen Spielplatz zu fahren. Jener auf der Insel zwischen Stadt- und Schwanensee. Wo heute Lidl residiert.
Meine Eltern hatten es zwar verboten. Am Milchladen war mein Revier zu Ende. Nach ihrer Auffassung. Nach meiner fing es dort erst an. Das Verbotene zu ergründen war immer schon reizvoller für mich gewesen, als mich im Erlaubten und Vertrauten gemütlich einzurichten. Und langweilig zu werden.
Natürlich hatte ich die Gefahr der vielen Autos auf der Johannisstraße erkannt. Doch an der kleinen Nikoleikirche gab es einen Überweg, der mir das sichere Überqueren der Straße zusicherte. Die Sorge meiner Eltern war meiner Meinung nach grundlos gewesen.
Bis zu der kleinen Stichstraße Am Moore radelte ich wie ein kleiner Wirbelwind. Auf dem Fußweg der Ausfallstraße nach Kiel war ich sodann sehr vorsichtig. Dann rüber über den Zebrastreifen, neben dem Gebäude der Stadtverwaltung den Schotterweg bergab. Von links und rechts rankte das Gebüsch in den Weg. Über die erste hölzerne Brücke, worunter sich hunderte an Stichlingen im Wasser der Schwentine tummelten. Und dann hatte ich links mein Ziel erreicht: Der weit ausladende Spielplatz, wo im hinteren Ende die große Doppelschaukel stand.
Ich musste damals gerade sieben gewesen sein.
Eine Schaukel war noch unbesetzt.
Wie wild trat ich in die Pedalen.
Fast fliegend kam ich meinem Ziel näher. Meine Augen angezogen von dem Wesen, das in der vorderen Schaukel schon in voller Fahrt war.
Ein etwa fünfjähriges Mädchen.
In einem luftigen, kurzen, roten Kleid mit weißen Punkten.
Ein schaukelnder Fliegenpilz im Sommerwind.
Ich sah ihre Freude, hörte ihr Lachen und ihr lautes Aufjauchzen, wenn sie immer hinten den höchsten Punkt erreicht hatte und es mit Karacho wieder in die Tiefe ging. Der Saum ihres Kleides schlug hoch. Kurz konnte ich ihren Schlüpfer sehen, als sie mit gestreckten Beinen knapp über dem Erdboden nach vorne durch tauchte. Fast waagerecht über dem Boden in der Luft hängend. Und erst als sie wieder den höchsten Punkt erreicht hatte, klappte sie die Beine ein und richtete ihren Oberkörper senkrecht auf. Festgekrallt in den Ketten ging es auf die Rückreise.
Ich hatte vollkommen vergessen, selber zu schaukeln. Stand einige Meter vor der Schaukel, das Fahrrad noch zwischen meinen Beinen, und schaute ihr einfach nur zu.
Eine kleine Schwester, immer hatte ich mir eine gewünscht. Nicht, um auf sie aufpassen zu müssen, wie es mein Freund Andreas immer machen musste. Nein, ich wollte sie, um ihren anderen Körper erkunden zu können.
Hier nun hatte ich einen Ersatz gefunden.
Neugierig schaute ich auf die Stelle, wo sich immer wieder ihr Kleid hob. Ich war fasziniert von dem mit kleinen, verwaschenen, Blümchen geschmückten Schlüpfer. Wie es darunter wohl aussehen würde?
Dieses Thema beschäftigte mich genau so, wie die Frage, was mein Vater letzte Woche mit seinem Kopf unter dem Kleid meiner Mutter gemacht hatte. Ich hatte gar nicht vor, sie heimlich zu beobachten. Es kam rein zufällig dazu. Der Schlafzimmerschrank war mein Raumschiff. Weil es im Weltall dunkel war, ließ ich einen kleinen Schlitz der Schranktür offen. Ein kleiner Sternenschimmer, der mir die Angst vertrieb.
Schlagartig wurde es mir in meinem Raumschiff zu eng, nachdem meine Eltern die Galaxie betreten hatten. Ich wollte nur noch eines: Weg von diesen Aliens. Weg aus dieser Situation, die mir irgendwie peinlich geworden war.
Die kleinen Scharniere der Schranktür knarzten, als ich sie vorsichtig öffnete. Sofort kroch mein Vater unter meiner Mutter hervor. Wütend riss er mich aus dem Schrank und verpasste mir eine heftige Jagdreise.
Heulend hastete ich die Stufen zu meinem Kinderzimmer herauf.
Konnte nicht verstehen, warum ich bestraft worden war. Schließlich hatte ich nichts Böses gemacht. Aber viel stärker als diese Ungerechtigkeit hatte mich die Tage darauf beschäftigt, was mein Vater unter dem Kleid meiner Mutter wohl gemacht haben konnte. Allem Anschein nach hatte es beiden sehr gefallen. Es musste also etwas Schönes sein, wenn sich eine Frau mit ihrem Schoß über den Kopf eines Mannes stellte.
Nun sah ich das kleine Mädchen auf der Schaukel. Ob sie es mit mir vielleicht ausprobieren wollte?
„Ich heiße Basti. Und Du?“
„Naddi“, war ihre knappe Antwort.
„Bist Du oft hier?“
„Wenn ich meinen Eltern mal ausbüchsen kann, ja. Schaukel auch!“, forderte sie mich auf. Froh, einen Freund gefunden zu haben.
Lange schaukelten wir nebeneinander.
Erkundeten zusammen die Klettergerüste.
Gingen hinunter zum Schilf.
Kämpften uns bis zur Schwentine durch.
Stapften mit unseren Schuhen einfach hinein.
Sofort standen wir bis über die Knie im Wasser und lachten.
Bevor Naddi in die Knie ging, um einen schön funkelnden Stein aus dem Wasser zu ziehen, raffte sie den Saum ihres Kleides. Wieder stierte ich auf ihren Schlüpfer.
Ihr machte das gar nichts aus.
Sie fischte ihre Steine.
Da sah ich einen. Grün leuchtend, mit schwarzen Streifen durchzogen. Oval geschliffen vom Wandern im Fluss. Etwas größer als eine Walnuss. Für mich ein Stein, für sie ein Juwel. Es war mein Herz, das sie umschloss, als sich ihre Finger um mein Geschenk legten.
Noch viele Steine klaubten wir aus dem Wasser. Aber keiner war so schön wie mein erster. Diesen nahm Naddi mit nach Hause.
Wieder aus dem Wasser, blieben wir unter einem weit verzweigten und hohen Holunderbusch stehen. Er sollte für die nächsten Wochen unser „Haus“ in diesem langgezogenen Auwald werden.
Wir kletterten in ihn hinein. Gemütlich auf unterschiedlichen Ästen sitzend erzählte ich ihr von meinem Erlebnis im Schlafzimmer meiner Eltern. Natürlich schmückte ich es für mich heldenhafter aus. Am Ende fragte ich sie. Sie war sofort bereit für das Experiment.
Flink wie Eichhörnchen kletterten wir herunter. Ich setzte mich auf den Boden. Sie stellte sich über mich und drückte ihren Unterleib auf meinen Scheitel.
Ich war enttäuscht. Vom Gefühl her hatte ich etwas ganz Anderes erwartet. Dieses jedoch war nichts Besonderes. Und das hatte meinen Eltern so gefallen?
Nun gut, die Vorstellung, dass ein Mädchen den Körperteil auf meinen Kopf rieb, den anzugucken geschweige denn anzufassen tabu war, erregte mich schon ein ganz klein wenig.
Nach einer Minute beendeten wir dieses Spiel. Es war einfach nur langweilig.
Kommissar Sedemünder steckte sich einen zweiten Zigarillo an. Noch hatte er Zeit, auf diesem adligen Podest stehen zu bleiben. Vor ihm fraß die Sonne den Morgendunst. Sie stand schon kräftig am Himmel, etwas rechts vom Wasserturm.
Er erinnerte sich, wie er damals nach diesem Tag nicht hatte einschlafen können. Anscheinend hatten Naddi und er etwas falsch gemacht? Kurz vor dem Einschlafen sah er dann wieder das Bild seiner Eltern im Schlafzimmer: Sein Vater unter dem Kleid seiner Mutter, Mutter mit einem glücklichen Gesichtsausdruck, mit ihren Händen in ihr eigenes Haar gegriffen, Vater seine Hände unterm Kleid an den Seiten Mutterns. Auf der schwarzen Personenwaage lag der weiße Schlüpfer von Mutter.
Plötzlich erkannte der Junge seinen Fehler.
Am nächsten Morgen, schließlich waren die großen Ferien schon voll im Gange, raste ich sofort wieder zum Spielplatz. Keine viertel Stunde später kam meine neue Freundin in ihrem Fliegenpilzkleid.
Wie am Tag zuvor schaukelten wir erst sehr viel, bevor wir in unser „Haus“ gingen. Sofort kam ich auf gestern zu sprechen und was wir falsch gemacht hätten. Mit großen Augen sah ich ihr zu, wie sie sich vor mir ihren Schlüpfer auszog. Da, wo ich meinen Pimmelmann hängen hatte, hatte sie einen kleinen Schlitz. Ich konnte gar nicht genug bekommen, das anzusehen.
„Willst Du nicht?“, fragte sie mich, weil ich mich nicht nach unten gesetzt hatte. Und ob ich wollte. Schnell saß ich unten. Gleich darauf rieb sie wirklich ihren nackten Schoß auf meinem Haupt. Schade nur, dass ich es nicht sehen konnte. Denn das Gefühl war wieder nicht prickelnd gewesen. Wieder erregte mich wie tags zuvor lediglich die Vorstellung, was sie mit mir machte.
Naddi hingegen gefiel dieses Experiment. Plötzlich forderte sie mich auf: „Lasse uns Pferdchen spielen. Zieh Dir aber vorher Dein Hemd aus.“
Mit freiem Oberkörper kniete ich mich vor ihr hin. Schnell kletterte sie auf meinen Rücken. Dann musste ich loskrabbeln. Ihre nackten Schenkel klemmten sich an meine Seiten, ihr nackter Schoß drückte auf meinem Rücken. Mit ihren Händen hielt sie sich an meiner Schulter fest. Wir ritten bis zur Schaukel und zurück. Erst in unserem „Haus“ zog sie sich mit einem Lächeln wieder ihre Unterhose an.
Am Nachmittag holte ich sie von zuhause ab.
Sie freute sich genauso sehr wie ich, wieder auf den Spielplatz zu gehen.
Ich nannte sie meine kleine Schwester, sie mich ihren großen Bruder.
Nach dem Schaukeln spielten wir erneut Pferdchen. Zurück im „Haus“ bat ich sie, mir ihren Schoß genauer zu zeigen. Nur, wenn der große Bruder ihr ebenfalls zeigen würde, wie er an dieser Stelle aussähe, stellte sie mutig ihre Bedingung. Im ersten Moment wollte ich nicht. Ein wenig schämte ich mich. Erkannte gar nicht, dass sie ein genauso großes Interesse hatte, die geheimen Stellen eines Jungen zu sehen, wie ich die ihren angucken wollte. Letztendlich überzeugte sie mich.
Lange erkundeten wir die Unterschiede unserer unteren Regionen in äußerster Konzentration. Es gab einfach zu viel Neues zu entdecken. Weder kicherten wir, noch schämten wir uns. Für uns war es plötzlich vollkommen normal, uns anzuschauen. Hingegen trauten wir uns in diesem Augenblick nicht, diese Stellen zu berühren.
Das machten wir erst am nächsten Tag, als ich aus dem Auto meines Vaters den Verbandskasten stibitzt hatte. Die unterschiedlichsten Verletzungen hatten wir. Mal mussten wir uns verbinden, mal verpflastern, mal mit Salben einschmieren.
Erst wenn wir diese Sachen ausgekostet hatten, gingen wir zum gewöhnlichen Spielen über: Schaukelten, kletterten, tollten über die Wiese, buken Sandkuchen, fuhren Fahrrad oder jagten Fische in der Schwentine.
Es waren drei rauschvolle Wochen.
Und dann war sie plötzlich weg.
Noch einmal spürte Kommissar Sedemünder den Schmerz des Verlassenwerdens. Unbarmherzig schlug damals die Macht der Erwachsenen zu. Seine heimliche kleine Schwester verschwand von einem Tag auf den anderen. Und er hatte zuvor keinen Begriff davon gehabt, was Umziehen bedeuten würde. Für ihn kam eine Zeit des Grauens. Seine Eltern boten ihm keine Hilfe an, seine Freundin wieder zu finden.
Die ersten Jahre dachte er noch sehr viel an seine faszinierende Freundin im Fliegenpilzkleid. Als er Jugendlicher war, kam die Erinnerung nur noch sehr selten zurück. Jetzt hatte er seit vielen Jahren nicht mehr an sie gedacht.
Bis gestern.
Bis Nadine ihm von dem Fliegenpilzkleid erzählt hatte.
Naddi, Nadine. Mein Gott. Der Magen des Kommissars zog sich grauenhaft zusammen. Tränen rannen ihm aus den Augen. Nach fast dreißig Jahren hatten sie sich wieder gefunden. Jetzt waren sie sogar ein Paar geworden. Wenn ihn nur nicht diese bösen Vorahnungen plagen würden. Er, der Kommissar, und sie, das Mädchen mit den langen Fingern.
Wie sollte das ein gutes Ende nehmen können?
Und verflucht noch mal, eines war er sich gewiss: Ein zweites Mal von seiner Nadine getrennt zu werden, würde er nicht überleben.
Und Nadine?
Er wusste, sie hatte an ihm, an Basti, keine Erinnerung mehr. Dafür war sie zu jung gewesen. Lediglich den grün-schwarzen Stein hatte sie gegenüber ihren Eltern mit schärfsten Krallen verteidigt. Sie wusste jedoch nur noch, dass er für etwas Schönes stand. Und dieses Schöne ganz tief in ihrem Herzen wohnte.
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