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13 Seiten

Leseprobe: Good/evil Kapitel 2- Wer bist du, Fremder?

Romane/Serien · Spannendes
© JoHo24
Dunkles, tiefschwarzes Wasser umspülte meine Hüften. Es war so kalt, dass mein gesamter Körper von einem dumpfen Schmerz beherrscht wurde. Ich merkte, dass das Wasser stetig stieg, da es mir jetzt schon bis zum Bauchnabel reichte.
Verzweifelt suchte ich nach einer Möglichkeit dem sicheren Tod durch Ertrinken zu entgehen, aber alles um mich herum war genauso schwarz, wie das Wasser. Ich hörte nur sein ständiges, umbarmherziges Rauschen, sonst nichts. Ich musste unbedingt das Fließen des Wassers verhindern, doch woher kam es? Konnte ich es überhaupt stoppen? Musste ich sterben?
Kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und meine Hände zitterten unablässig, während das Wasser mir inzwischen bis zu den Unterarmen reichte. Verzweifelt paddelte ich, in der Hoffnung, so die Wassermassen zu stoppen und von mir wegzudrücken, doch natürlich war dieser Versuch vergebens.
Es stieg weiter und weiter. Auf einmal tauchte eine große, in der Dunkelheit hell leuchtende, Gestalt auf. Ungläubig weiteten sich meine Augen. Die unbekannte Gestalt bewegte langsam eine Hand auf mich zu. Wie in Zeitlupe kam sie immer näher.
Das ist meine Rettung, schoss es mir durch den Kopf. Nach der Erscheinung konnte es nur ein Engel sein, wenn ich den Illustrationen der Kinderbücher, die ich früher vorgelesen bekommen hatte, glauben schenken konnte. Erleichtert und voller Hoffnung streckte ich dem vermeintlichen Engel meine Arme entgegen, doch er fasste nicht zu. Panisch wedelte ich mit den Armen.
„Hilf mir!“, schrie ich dem Engel entgegen. Dabei gelangte eiskaltes Wasser durch meinen geöffneten Mund in meine Lunge. In meiner Luftröhre brannte es wie Feuer.
Ich bekam kaum noch Luft und versuchte tief einzuatmen, doch das verschlimmerte das Brennen nur noch.
Meine, in Panik aufgerissenen, Augen waren hilfesuchend auf den Engel gerichtet, der über mir am schwarzen Himmel schwebte. Seine Bewegungen waren nicht mehr langsam, sondern schnell und gleichzeitig geschmeidig und elegant.
Plötzlich schnellte seine Hand hervor. Er legte sie auf meinen Kopf und drückte mich mit aller Kraft nach unten. Ich strampelte mit den Beinen und versuchte an die sichere Oberfläche zu gelangen, aber ich war zu schwach, um mich gegen die starke Hand, die mich unten hielt, zu wehren. Meine Gliedmaßen wurden zunehmend schwerer und meine Bewegungen automatisch langsamer.
Bumm, bumm, bumm. Von Sekunde zu Sekunde wurde mein Herzschlag immer schwächer. Meine Augenlider flatterten wild vor meinen Augen, wie Schmetterlinge im Frühling. Und dann schlug mein Herz zum letzten Mal.
Schweißgebadet schreckte ich hoch und fand mich in vollkommener Finsternis wieder. Ich saß auf einer weichen Fläche. Unsicher tastete ich mit den Händen über die Fläche und bekam etwas Feinbesticktes und Flauschiges zwischen die Finger.
Ich schlug meine Augen auf. Mein Zimmer. Ich war in meinem Zimmer und nicht unter Wasser, um mein Leben kämpfend. Mein Atem ging unkontrolliert. Mein Herz schlug so schnell gegen meine Rippen, dass ich glaubte, es würde jeden Augenblick aus meiner Brust springen.
Ein heftiger Schmerz durchzog meinen Nacken und den Rücken. Ich musste wohl falsch gelegen oder mich während des Albtraums verkrampft haben. Mit den Händen hielt ich die Decke fest umschlungen, die ich eben noch blind ertastet hatte. Im Zimmer war es dunkel und die Uhr verriet mir, dass ich kaum geschlafen hatte.
Es war 4:30 Uhr. Ich stöhnte genervt auf und war schon im Begriff mich wieder hinzulegen, als ich erstarrte. Was, wenn ich wieder diesen schlimmen Traum haben würde? Die Angst vor dem steigenden Wasser und dem kaltherzigen Engel, der mich tötete, ließ mich nicht zur Ruhe kommen, sodass ich schließlich meine nackten Beine aus dem warmen Bett schwang und aufstand.
Wohl ein bisschen zu schnell, denn ich schwankte leicht und das Mobiliar vor meinen Augen gleich mit. Innerlich verfluchte ich meine ewigen Kreislaufprobleme, die ich vor allem am frühen Morgen bekam. Ich blieb stehen und zählte bis drei, ehe mich auf den Weg zum angrenzenden kleinen Badezimmer machte, das allein mir gehörte.
Ungeschickt klatschte ich mit der linken Hand über die kalten, harten Fliesen, bis ich den Lichtschalter gefunden und umgelegt hatte.
Das elektrische Licht, das die Deckenlampe ausstrahlte, brannte in meinen Augen. Reflexartig schlug ich sie zu, dennoch ließ das Brennen erst wenige Sekunden später nach. Ich öffnete wieder meine Augen, trat an den Spiegel und war schockiert. Schockiert über die Person, die mich aus dem Spiegel heraus anblickte und die ich sein sollte.
Die Haare standen in alle Richtungen wild und schweißgefeuchtet vom Kopf ab, unter den Augen lagen dunkle Ringe und die glatte Haut war durch die Aufregung leicht gerötet. Ich hob die Hand und fuhr vorsichtig über mein Gesicht. Es fühlte sich warm und trocken an, wie die Schuppen eines Reptils. Ich musste unbedingt duschen. Jetzt.
Aus dem Schränkchen unter dem Waschbecken kramte ich ein cremefarbenes Handtuch, zog meine Unterwäsche aus und stieg in die Dusche. Wenige Sekunden später floss heißes Wasser über meinen Körper. Ich hoffte, dass die Wärme meine Schmerzen lindern würde.
Ein Gefühl der Geborgenheit durchlief mich und so stand ich länger, als sonst, unter dem Wasserstrahl. Danach wickelte ich das Handtuch fest um mich und ging zurück in mein Zimmer, um mir etwas Frisches anzuziehen: neue Unterwäsche, eine verwaschene Jeans und ein einfaches grünes T-Shirt. Die Uhr zeigte nun 5:00 Uhr.
Die Schmerzen waren leider immer noch präsent und meldeten sich bei der kleinsten Bewegung. Ich ging noch einmal ins Bad, um Tabletten zu suchen, die mir hoffentlich helfen würden. Das einzig Brauchbare, was ich fand, war Aspirin. Ich ignorierte den Beipackzettel und warf gleich zwei auf einmal ein, um die Wirkung zu steigern.
Obwohl es noch zu früh zum Frühstücken war, ging ich die Treppe hinunter in die Küche. Die gesamte Einrichtung war in einem warmen Braunton gehalten, was dem Raum eine angenehme Atmosphäre gab. Der Boden war mit weißem Linoleum bezogen und durch das große breite Fenster an der westlichen Seite hatte man einen schönen Ausblick auf die Nachbarschaft. Ich beschmierte eine Scheibe Brot mit Erdnussbutter und setzte mich an den Buchenholztisch, der an der Fensterfront stand.
Draußen wurde es allmählich heller und man konnte unscharf die Umrisse der umstehenden Bäume und der benachbarten Häuser erkennen. Ich war froh, dass heute Samstag war. Dass hieß keine Schule und genug Zeit, den verpassten Schlaf nachzuholen und noch einmal gründlich über die Ereignisse der vergangenen Nacht nachzudenken.
Mir ging das alles einfach nicht aus dem Kopf und mich quälten Unmengen von Fragen. Dass ich sie jemals alle beantworten konnte, war eher unwahrscheinlich. Vielleicht sollte ich mir auch nicht zu viele Gedanken machen, denn womöglich steckte nichts Großartiges hinter dem, was gestern vorgefallen war. Wer weiß, ob die Aktion dieses fremden Typen nicht nur ein Scherz gewesen war, um mir, einem schreckhaften Mädchen, Angst zu machen. Wahrscheinlich waren die anderen Männer seine dämlichen Freunde gewesen, die sich ins Fäustchen gelacht hatten, als sie mich total verängstigt in der Nische haben stehen sehen.
Ja, so musste es sein. Aber dieser Junge mit den stahlgrauen Augen und dem dunkelbraunen Haar tauchte immer wieder vor meinen Augen auf. Auf unerklärliche Weise hatten mich seine Erscheinung und sein Auftreten fasziniert und obwohl er kein einziges Wort mit mir gesprochen hatte, hatte ich dennoch das Gefühl, ein Teil von ihm zu sein.
Ich schüttelte den Kopf. Moment, wie kam ich auf solche Gedanken? Seit wann war ich so gefühlsbetont und poetisch? Und wie um alles in der Welt kam ich auf die Idee, ein Teil eines anderen, mir völlig unbekannten Menschens zu sein?
Geräusche im Hausflur unterbrachen meine Gedanken. Die tiefe Stimme meines Dads drang an meine Ohren. Ich sprang sofort von meinem Stuhl, hastete mit vollem Tempo in den Flur und umarmte meinen Dad ungestüm und so fest ich konnte. Er ließ ein grollendes Lachen hören, das tief aus seiner Brust kam.
„Ich freue mich auch dich zu sehen, Holly, aber würdest du mich bitte kurz loslassen, damit ich die restlichen Taschen reinholen kann?“ Erst, als ich einen Blick hinter ihn warf, sah ich eine blaue Reisetasche und einen kleinen silbernen Koffer auf der Veranda stehen.
„Klar“, sagte ich entschuldigend und ließ meine Arme sinken. Während mein Dad sich umwandte und auf die Veranda trat, um die letzten Reiseutensilien reinzuholen, drehte sich meine Mom mit einem liebevollen Lächeln zu mir und nahm mich fest in den Arm. Ich sog ihren blumigen Duft ein und ihre Wärme gab mir sofort ein Gefühl der Geborgenheit. Leicht wiegte sie mich und fuhr mir durch die Haare.
„Schatz, ich habe dich so vermisst“, hauchte sie mir ins Ohr und ich konnte ihr Lächeln an der Wange spüren.
„Ich dich auch, Mom. Wie war es denn auf den Bahamas?"
Meine Mom trat einen Schritt zurück, um mir ins Gesicht zu sehen, ließ meine Hände jedoch nicht los.
„Es war traumhaft schönes Wetter, niemals unter 30 und das Meer war warm und klar.“ Während ihrer Erzählung strahlten ihre blauen Augen, die ich von ihr geerbt hatte, verträumt. Doch auf einmal machte sie ein besorgtes Gesicht.
„Warum bist du eigentlich schon wach?"
„Ach, ich hatte nur einen Albtraum, nichts besonderes“, antwortete ich in einem beruhigenden Ton.
„Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte meine Mom nach. Ich verdrehte die Augen.
„Jaa, Mom“, entgegnete ich genervt.
„Sicher?“
„Ja, Mom. Jeder Mensch auf dieser Welt hatte schon mal einen Albtraum, also reg dich bitte nicht auf“, bat ich eindringlich.
„Na gut“, gab sie widerwillig nach und begann, mit den Jacken an der Garderobe zu hantieren.
„Kann ich euch irgendwie helfen?“, fragte ich und nahm schon einen Koffer in die rechte Hand. Er war schwerer, als gedacht und so ließ ich ihn mit einem lauten Knall auf den Fußboden zurückfallen.
„Nein, Schatz, dein Vater macht das. Lass uns lieber in die Küche gehen, sonst stehen wir noch im Weg.“
Als ich meiner Mom folgte, sah ich aus den Augenwinkeln, wie mein Dad gerade die Tür mit dem Fuß zustieß, da seine Hände mit der Tasche und dem Koffer überladen waren. In der Küche setzte ich mich wieder auf den Stuhl, den ich vorhin verlassen hatte, während meine Mom die Kaffeemaschine mit Wasser füllte.
„Und, was hast du diese Woche gemacht? Hast du die sturmfreie Zeit genossen?“, fragte sie und kippte dabei Kaffeepulver in einen Filter. Schnell dachte ich nach und entschied, die letzte Nacht besser nicht zu erwähnen. Schließlich war sie überfürsorglich und wäre wohl nicht begeistert, wenn sie wüsste, dass ich von Quentin Jones belästigt worden, stundenlang nur mit einem Kleid bekleidet im Regen herumgelaufen war und mit einem Fremden in einer dunklen und menschenleeren Gasse gestanden hatte.
„Ähm... Nichts Weltbewegendes. Ich war brav in der Schule, hab am Montag mit Zack für die Biologieklausur gelernt und mittwochs war ich mit Linda im Kino."
Zwar war ich diese Woche nicht mit Linda verabredet gewesen, doch dass ich im Kino gewesen war, stimmte jedenfalls. Ich hoffte, dass meine Mom nicht bemerken würde, dass ich log. Zu meinem Glück fragte sie nicht weiter nach, sondern stellte die Kaffeemaschine mit einem Knopfdruck an und setzte sich mir gegenüber.
Ich schaute aus dem Fenster, dennoch spürte ich unentwegt den sorgenvollen Blick meiner Mom auf mir ruhen. Ich tat so, als ob ich ihn nichts bemerken würde, starrte nach draußen und beobachtete konzentriert den kleinen Chihuahua unserer Nachbarn von gegenüber.
Er spielte im Vorgarten mit einem quietschgelben Ball. Zuerst umkreiste er den Ball und dann, ganz plötzlich, sprang er auf ihn, biss kräftig hinein und schüttelte dabei seinen winzigen Kopf wie wild hin und her.
Einige Minuten schaute ich ihm zu, aber dann langweilte mich das sich wiederholende Verhalten und ich traute mich, wieder zu meiner Mom zu sehen. Mein Blick fiel auf einen leeren Stuhl, denn sie goss sich gerade frischen Kaffee in eine grüne Tasse.
„Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist, Schatz? Du bist ungewöhnlich still und außerdem habe ich das Gefühl, dass du mir ausweichst."
Sie hatte sich zu mir gewandt und ich konnte eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn erkennen. Ich schluckte leicht.
Verdammt, meine Mom kannte mich viel zu gut, als dass ich ihr hätte etwas vormachen können. Ich entschied ihr wenigstens die halbe Wahrheit zu erzählen, vielleicht würde sie dann aufhören ständig nach meiner Gefühlslage zu fragen.
„Da ist schon Etwas, was ich dir verschwiegen habe“, gab ich verlegen zu, da meine Mom mich beim Lügen erwischt hatte. Und wie erwartet, bedachte sie mich mit einem enttäuschten Blick, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn ich log, und machte mir damit ein schlechtes Gewissen. Sie nahm ihre Tasse in die rechte Hand und schaute mir direkt in die Augen, bevor sie sich ein Schluck Kaffee gönnte.
„Was ist los?“ Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum.
„Ich...ich hatte gestern Abend eine Verabredung mit einem Jungen aus meiner Schule. Ich hab dir mal von ihm erzählt. Sein Name ist Quentin Jones." Meine Mom nickte und nahm einen weiteren Schluck.
„Nun ja, anfangs lief es auch ziemlich gut. Er war höflich und zuvorkommend, doch im Laufe des Abends wurde er unmöglich. Er hat mich in seinem Auto festgehalten und wollte mit mir schlafen. Als ich ihm klar gemacht habe, dass ich das nicht will, hat er mich aufgefordert aus dem Auto zu steigen. Dann ist er weggefahren.“
Meine Mom verzog während meiner Schilderung des Dates fassungslos das Gesicht und die kleinen Fältchen um ihre Augen wurden sichtbarer.
„Und da sagst du mir allen Ernstes, dass nichts gewesen wäre? Wieso hast du mich angelogen?" Sie schaute mich vorwurfsvoll an. Ich stöhnte.
„Mom, ich kenne dich. Du hättest wieder einen Aufstand gemacht, weil du dir immer unbegründet Sorgen um mich machst und außerdem seid ihr höchstens seit zehn Minuten wieder zu Hause. Ich wollte, dass ihr in Ruhe ankommt."
„Aber anscheinend sind meine Sorgen doch begründet, wenn dir sowas passiert.“
„Es ist halb so wild. Mir ist ja nichts Schlimmes passiert, wie du siehst. Ich sitze noch heil am Küchentisch."
„Du brauchst den Vorfall nicht herunterzuspielen, Holly. Es ist vollkommen normal, wenn du in dieser Situation Angst hattest“, dabei nahm sie meine linke Hand, die auf dem Tisch lag und streichelte sie. Lächelnd schaute ich sie an.
„Ich hatte schon Angst, aber dass war vorbei, nachdem Quentin aus meiner Reichweite verschwunden ist. Der Typ ist nichts weiter als ein Idiot, der sich aufspielen wollte. Also, könnten wir vielleicht über ein anderes Thema reden?“, fragte ich sie hektisch.
„Gut“, entgegnete sie, aber an ihrem Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass für sie das Thema Quentin Jones noch nicht abgeschlossen war.
„Nur noch eine Frage: wo hat er dich abgesetzt?“ Abgesetzt ist eindeutig das falsche Wort für einen schmerzhaften Stoß aus dem Auto, dachte ich. Wieso wollte sie das wissen? Spürte sie etwa, dass ich sie erneut anlog? Ich wich ihrem bohrenden Blick aus und starrte auf die Tischplatte.
„Nur ein paar Blocks von hier entfernt“, murmelte ich.
Als ich aufsah, traf mich ein skeptischer Blick, doch sie sagte nichts. Stattdessen wechselte die Skepsis zu Neugierde.
„Was hast du denn für heute geplant?“ Ich dachte angestrengt nach. Eigentlich wollte ich zu Hause bleiben, aber dass würde meine Mom wahrscheinlich als Rückzug vor der Außenwelt wegen meines „traumatischen Erlebnisses“ interpretieren.
„Ich wollte zu Linda. Vielleicht gehen wir noch in die Stadt“, äußerte ich schließlich.
„Schön, aber komm nicht zu spät nach Hause, wir möchten auch noch was von dir haben. Immerhin haben wir dich zwei Wochen nicht gesehen."
Ich nickte. Meine Mom leerte mit einigen Schlucken ihre Tasse, stellte sie in die Spüle und blieb an der Küchenzeile stehen. Von draußen konnte man Vogelgezwitscher und vorbeifahrende Autos hören.
„Ich geh dann mal nach oben und räum mein Zimmer auf, bevor ich zu Linda gehe. Es ist eh noch zu früh, um sie zu besuchen."
Energisch sprang ich von meinem Platz auf, schritt an meiner Mom vorbei und sauste mit flatternden Haaren die Treppe hinauf in mein Zimmer.
Ich schlug die Tür zu und atmete, an die Wand gelehnt, tief ein und aus. Ich hatte das Verhör meiner Mom überstanden und dabei hatte ich ihr halbwegs die Wahrheit erzählt. Ich hasste es, wenn sie mich ausquetschte. Natürlich war ich auch froh, dass meine Eltern wieder da waren, da ich mich allein gefühlt hatte, doch auf die mütterliche Sorge konnte ich redlich verzichten.
Eilig schritt ich durch mein Zimmer und begann den Schreibtisch am Fenster aufzuräumen, sodass ich ihn später halbwegs für meine Hausaufgaben nutzen konnte. Ordentlich stapelte ich die Schulbücher und legte sie auf die Fensterbank neben einer vertrockneten Blume ab. Die Stifte stopfte ich unsanft in den Stifthalter und die losen Blätter schob ich in die Schublade. Dann widmete ich mich meinem Bett.
Da ich immer noch viel Zeit hatte, ehe ich zu Linda ging, schüttelte ich die zwei Kissen ausgiebiger, als gewöhnlich, und faltete die Decke akribisch. Die lilafarbene Tagesdecke warf ich locker darüber. Stolz betrachtete ich mein Werk. So ordentlich hatte mein Zimmer die letzten drei Jahre nicht ausgesehen.
Ich schaute auf die Uhr. Es war sechs Uhr. Die Zeit schien an diesem Tag langsamer zu vergehen, als üblich. Da ich nichts anderes zu tun hatte, legte ich mich aufs Bett und starrte an die Decke. Im Flur konnte ich die Schritte meiner Eltern hören, die sich hektisch hin und her bewegten. Vermutlich waren sie immer noch dabei ihr Reisegepäck auszupacken.
Und urplötzlich, ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, schossen Bilder des Fremden durch meinen Kopf und die unendlich vielen Fragen, die sich in mir angestaut hatten, kehrten zurück in mein Bewusstsein.
Warum ist er bloß in dieser Gasse gewesen? Weshalb hat er mich in die Nische gezogen und mir den Mund zugehalten? War es wegen der anderen Leuten gewesen, die ich in der Dunkelheit gehört habe? Wer sind die überhaupt? Sind es wirklich Freunde von ihm, die sich nur einen Scherz mit mir erlaubt haben oder gibt es andere Hintergründe?
Aber für mich war die wichtigste Frage, wer er war. Ich wollte es unbedingt wissen, doch ich hatte absolut keine Ahnung, wie ich das herausfinden konnte. Vielleicht traf ich ihn ja irgendwann zufällig in der Stadt.
Schon während ich darüber nachdachte, wurde mir klar, wie absurd diese Vorstellung doch war. Solche Zufälle gab es einfach nicht.
Ich würde ihn nie wiedersehen. Ihn und seine faszinierenden Augen. Traurig seufzte ich. Während ich weiter an die Decke starrte, wurden meine Augenlider immer schwerer, bis ich schließlich in einen traumlosen Schlaf fiel.
Als ich aufwachte, war es bereits 14:00 Uhr. Ich war wohl müder gewesen, als ich gedacht hatte.
Ausgiebig streckte ich mich, wobei vereinzelt Knochen ein Knacken verlauten ließen. Ich beschloss, dass jetzt die richtige Zeit war, um Linda einen Besuch abzustatten. Gut gelaunt verließ ich mein Zimmer und hüpfte die Stufen herunter.
Unten im Flur standen noch immer zwei Reisetaschen, die noch nicht ausgepackt worden waren. Aus dem Wohnzimmer hörte ich Gemurmel. Ich ging zur geöffneten Tür und blieb am Eingang stehen. Meine Eltern saßen auf der grauen Couch. Leise lief der Fernseher im Hintergrund, während sich die Beiden unterhielten. Ich räusperte mich. Die Köpfe meiner Eltern schnellten in meine Richtung.
„Was ist denn, Holly?“, fragte mein Dad und lächelte. Anscheinend hatte meine Mom ihm nichts von unserer Unterhaltung heute Morgen erzählt, denn sonst wäre er jetzt nicht so glücklich, sondern auf 180 und wahrscheinlich drauf und dran, dem Typen, der es gewagt hatte seine kleine Tochter zu belästigen, an die Gurgel zu gehen.
„Ich wollte jetzt zu Linda rübergehen. Ich denke ich bin bis zum Abendessen wieder da."
„Gut, viel Spaß“, sagte mein Dad und schenkte mir nochmals ein fröhliches Lächeln, bevor er und meine Mom sich wieder abwandten. Ich schnappte mir meine braune Jacke und verließ das Haus. Das Wetter war noch arg winterlich, obwohl es bereits Mitte März war.
Mit festem Schritt ging ich die Walnut Street entlang und nach nur acht Minuten stand ich vor dem Haus meiner besten Freundin. Auch dieses war klein mit einem blauen Dach, doch die Fassade war sonnengelb. Mir wurde innerlich gleich viel wärmer, als ich die Farbe betrachtete. Ich ging den steinernen Weg bis zum Haus entlang, sprang über zwei Stufen auf die Veranda und klingelte.
Im Inneren des Hauses ertönte ein glockenähnlicher Ton. Ich hoffte, dass jemand da war, denn manchmal machte Linda mit ihrer Familie am Wochenende einen Ausflug. Ich wartete, während der Wind meine Haare mächtig durcheinander und mich zum Zittern brachte.
Auf einmal wurde die Tür mit einem starken Ruck geöffnet und Linda stand vor mir. Sie hatte ein rundes Gesicht, das von lockigen blonden Haaren umrahmt wurde. Ihre warmen braunen Augen sahen mich freundlich, aber auch ein wenig überrascht an.
„Hi, Holly. Wir waren doch nicht verabredet, oder?"
„Nein, dass ist ein Spontanbesuch, oder, genauer gesagt, ein Alibibesuch, damit ich nicht mit meinen Eltern zu Hause hocken und mir nervige Fragen anhören muss. Hätte ich lieber anrufen sollen?“, erkundigte ich mich unsicher.
„Nee, ist schon in Ordnung. Meine Eltern und Eli sind sowieso nicht da. Sie sehen sich eine Kunstausstellung in der Stadt an, auf die ich keine Lust hatte. Aber, was viel interessanter ist, warum nerven dich deine Eltern schon wieder? Ich dachte, die wären noch im Urlaub?“
„Nicht mehr. Sie sind heute Morgen zurückgekommen. Ich erzähl dir drinnen was los war, denn es ist ziemlich kalt hier draußen“, meinte ich und rieb mir die Hände.
„Oh, na klar, komm rein.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, sodass ich an ihr vorbei ins Haus treten konnte.
Sogleich umhüllte mich die Wärme, die den Flur erfüllte. Hinter mir schloss Linda die Tür. Ich hängte meine Jacke an die Garderobe und folgte meiner Freundin in ihr Zimmer im ersten Stock. Es war etwas größer, als meins, und in einem hellen Blau gestrichen.
Während ich auf dem kleinen weißen Sofa gegenüber des Bettes Platz nahm, ging Linda ein weiteres Mal nach unten, um uns etwas zu trinken zu holen. Ich zog meine Schuhe aus, schwang meine Beine auf das Sofa und zog sie an meinen Körper. Hoffentlich half das, mich schneller aufzuwärmen.
Laute Schritte kündigten Lindas Rückkehr an. In der einen Hand hielt sie eine Flasche Orangensaft und in der anderen zwei Gläser. Beides stellte sie auf einen Beistelltisch, schüttete den Saft dann in die Gläser und reichte mir eines davon. Ich bedankte mich und nahm einen Schluck.
„Also, raus mit der Sprache, was war bei dir Zuhause los?“
„Meine Mom ist fast umgekommen vor Sorge, als ich ihr von meinem Date erzählt habe. Ständig hat sie mich gefragt, ob alles in Ordnung mit mir ist. Total nervig sag ich dir.“ Ich verdrehte die Augen.
„Ach ja, dein Date mit Quentin. Wie war es denn?“ Erwartungsvoll schaute sie mich an und hopste auf ihrem Platz auf und ab. In diesem Moment erinnerte sie mich an ein kleines Mädchen, das erpicht darauf war, ein Märchen zu hören. Nur leider gab es für dieses Märchen kein Happy End. Daher konnte ich über ihr Verhalten nur grinsend den Kopf schütteln.
„Reg dich erstmal ab, Linda.“ Mit einem entschuldigenden Blick hielt sie inne.
„Ich sag nur ein Wort: Albtraum.“ Entsetzt starrte sie mich mit großen Augen an.
„Ehrlich? Wieso denn?“
Und ein weiteres Mal an diesem Tag erzählte ich, was passiert war, nur jetzt berichtete ich ihr alles, nicht nur die halbe Wahrheit, wie ich es bei meiner Mom getan hatte. Es war ja nicht so, dass ich Linda mehr vertraute, als meiner eigenen Mutter, aber sie war nun mal nicht überfürsorglich und hatte ständig Angst um mich, da konnte ich ihr getrost von dem Fremden in der Gasse erzählen. Nachdem ich meine Schilderungen beendet hatte, schenkte sie mir einen mitleidigen Blick.
„Das mit Quentin tut mir echt leid, kein Wunder, dass deine Mom sich aufgeregt hat. Was für ein Arschloch.“ Die letzten Worte waren zornerfüllt.
„Ich weiß, aber die Zeit lässt sich nun mal leider nicht zurückdrehen.“ Ich nahm einen weiteren Schluck aus meinem Glas.
„Vielleicht war es auch besser so. Ich meine nicht, dass ich dir den Regen und den langen Fußweg gewünscht hätte“, sagte sie beschwichtigt mit erhobenen Händen, nachdem ich ihr einen wütenden Blick zugeworfen hatte.
„Ich will ja nur sagen, dass du ohne dieses miserable Date niemals den anderen Typen kennengelernt hättest, von dem du so geschwärmt hast.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich habe nicht von ihm geschwärmt. Ich habe nur bemerkt, dass er schöne Augen hat.“
„Du brauchst dich nicht zu verteidigen.“ Frech grinste sie mich an.
„Außerdem kennenlernen kann man das nicht gerade nennen.“ Ich schnaubte. „Gesehen trifft es wohl eher, Linda. Ich hab kein einziges Wort mit ihm gewechselt. Ich weiß rein gar nichts über ihn.“
Enttäuscht schaute ich in mein Glas, das ich immer noch in der Hand hielt. Linda schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und nahm mich fest in ihre Arme. In dieser Position verharrten wir einige Minuten.
„Womöglich triffst du ihn doch noch mal. Du kennst doch den Spruch: man sieht sich immer zweimal im Leben.“
Wieder einmal wunderte ich mich über ihren schier unendlichen Optimismus. Ich wünschte, ich könnte dasselbe glauben, ohne daran zu denken, wie unwahrscheinlich eine weitere Begegnung zwischen uns war. Anstatt ihr zu widersprechen, nickte ich kaum merklich und sie löste die Umarmung. Im weiteren Verlauf des Gesprächs ließen wir das Thema fallen.
Stattdessen redeten wir über unsere Eltern und warum sie uns manchmal auf die Palme brachten, die Schule mit den nervigen Pflichten und Lehrern und schließlich über unsere Mitschüler. Schnell war die Flasche Saft leer und Linda musste noch einmal nach unten gehen.
Flüchtig ließ ich meinen Blick durch ihr Zimmer schweifen und entdeckte auf Anhieb Bilder von uns beiden vom letzten Jahr. Eine Aufnahme stammte vom vergangenen Halloween. Wir waren als Brautpaar verkleidet, wobei ich den Bräutigam mimte. Auf dem Foto hielt ich Linda in den Armen, als wolle ich sie über die Schwelle tragen.
Dann sah ich auf die blaue Uhr, die gleich neben den Fotos hing, und mir wurde bewusst, dass ich nur noch drei Minuten hatte, um pünktlich zu Hause beim Abendessen zu erscheinen. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und sprintete nach unten in die Küche. Dort stand Linda vor dem geöffneten Kühlschrank.
„Ich muss sofort los. Ich hab meinen Eltern versprochen bis zum Abendessen wieder zu Hause zu sein. Tut mir leid, Linda“, erklärte ich hektisch und umarmte sie zum Abschied.
„Kein Problem“, nuschelte sie perplex. Ich ging nach unten, zog meine Jacke an und trat durch die Tür in einen windigen und kalten Abend. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich so überstürzt aus Lindas Haus gestürmt war und sie einfach hatte stehen lassen. Hoffentlich war sie mir nicht böse.
Ich legte noch einen Zahn zu. Meine Lippen bibberten und der unerbittliche Wind peitschte mir ins Gesicht.
Zu Hause angekommen, marschierte ich direkt in die Küche. Meine Jacke trug ich noch immer.
Völlig außer Atem setzte ich mich an den Tisch, an dem mein Dad bereits saß. Er schaute von einem Computermagazin, das er in seinen großen Händen hielt, auf und zog eine Augenbraue hoch.
„Hast du einen Marathon hinter dir oder warum bist du so aus der Puste?“
„Ich...“ Ich stoppte und atmete erstmal tief durch, bevor ich weitersprach.
„Ich hab bei Linda total die Zeit vergessen und dann hatte ich nur kümmerliche drei Minuten, um hierher zu kommen. Ich wollte nicht zu spät sein und habe deshalb einen Sprint hingelegt.“
„Und deswegen trägst du auch noch deine dicke Jacke. Wegen des Zeitdrucks.“ Amüsiert schaute mein Dad an mir herunter. Verlegen murmelte ich ein „Ja“, zog rasch die Jacke aus und hängte sie über meinen Stuhl.
Auf dem Tisch standen schon ein frischer Salat mit Pilzen und Paprika und dampfendes Kartoffelpüree.
Meine Mom kam herangerauscht und kümmerte sich um die Steaks, die in einer Pfanne fröhlich vor sich hinbrutzelten.
Sie legte die fertigen Stücke mit einer Gabel auf einen breiten Teller und drehte sich um. Ein überraschter Gesichtsausdruck erschien, anscheinend hatte sie mich vorhin nicht bemerkt.
„Seit wann bist denn wieder hier, Holly?“, fragte sie und setzte sich neben mich. Sogleich fischte sich mein Dad mit seiner Gabel ein Steak auf den Teller.
„Ich bin vor ein paar Minuten gekommen“, antwortete ich und nahm mir eine ordentliche Portion vom Salat, da ich erst jetzt merkte, wie hungrig ich war.
Während des Essens musste ich Auskunft über die Ereignisse in der Schule in den vergangenen zwei Wochen geben und mir detaillierte Berichte über ihren Urlaub anhören.
Nachdem wir gegessen hatten, entschuldigte ich mich bei meinen Eltern und ging in mein Zimmer. Langsam zog ich mich um und obwohl es gerade mal halb neun war, legte ich mich ins Bett und schlief auch bald ein.
 
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