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Die Taube

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Die Taube

Wenige Tage nach meinem Umzug in die neue Wohnung kam eine Meise auf den Balkon geflogen, setzte sich kurz auf die Leiter, blickte sich um und flog wieder davon. Sie gab mir zu verstehen: Da fehlt noch ein Vogelhaus mit Futter. Ich war vor dem Umzug schon öfters in dieser Gegend spazieren und merkte, dass in der unmittelbaren Nachbarschaft ein Vogelschutzgebiet war und es nahezu auf jedem Balkon Futterstellen gab. Haustiere wollte ich mir keine mehr anschaffen, freute mich aber umso mehr über diejenigen die „freiwillig“ kamen und dann wieder gingen. Jeden Morgen und Abend streute ich etwas Futter zuerst auf die Balkonbrüstung, dann in eine schwere Tonschale, aus der sich bedienen konnte wer und was immer angeflogen kam. Etwa ein viertel Jahr später kam eine grauweisse Taube mit zwei auffällig weissen Flecken am Hals, gefolgt von einem dunkelgrauen - je wie die Sonne auf´s Gefieder schien - blauschimmerndem Artgenossen und bald war zu erkennen; es handelte sich um ein Paar. Wo immer die hellgraue hinflog, folge ihr der Gefährte, wo immer sie saß, er saß neben ihr. Aus einer Laune heraus nannte ich die hellgraue Taube „Mathilda“, für ihren Gefährten fiel mir kein Name ein. Die Meisen - und Sperlingsgäste wurden weniger, dafür gesellten sich mehr und mehr Tauben zu dem Pärchen. Zweimal gab´s übrigens eine Stippvisite von einem Specht, der meinen Balkon aber lediglich als Abflugrampe auf den in der Mitte der Wohnsiedlung stehenden Ahornbaum nutzte.
Etwa ein halbes Jahr war ins Land gezogen – mittlerweile war´s Hochsommer, fand ich Mathildas Lebensgefährten im Gras sitzend. Ein netter Mensch hatte sich bereits bemüht und ihm ein Schälchen Wasser vor den Schnabel gesetzt.Am nächsten Morgen lag er mit dem Köpfchen zur Seite tot im Gras. Mir blutete das Herz ; ich trauerte für meine „Mathilda“ die sich eine ganze Woche nicht mehr sehen ließ. Die beiden waren, so schien ´s jedenfalls dem Auge des Betrachters, unzertrennlich gewesen und wer einmal den Albtraum eines Verlustes des Partners durch dessen Tod durchlebte, ahnt, welche Tortur das für die zurückbleibende Seele bedeutet, egal in welchem Leib sie steckt.
Zehn Tage später um die Mittagszeit; ich saß gerade draussen und trank Kaffee, gab´s plötzlich hektisches Geflatter links von mir und siehe da, Mathilda saß auf der Brüstung. Wie hab ich mich gefreut – und gewundert. Neben ihr saß eine Taube die ihr sehr ähnlich war. Es fehlten jedoch die weissen Halsflecken, die Flügel waren im Gegensatz zum hellgrauen Leib auffällig dunkelgrau und hatten eine weisse Umrandung. Das Köpfchen zierte oben eine schwarze Wellenzeichnung. Meine Trauer war also „für die Katz“, reine Zeitverschwendung, da sie sehr schnell einen Ersatz für ihren verstorbenen Gefährten fand. Die Leser dieser Geschichte mögen´s mir nachsehen, dass ich Mathilda einen wenig schmeichelhaften Beinamen gab. Die Beiden kamen für fast zehn Monate tagtäglich zu mir, zusammen mit vier jungen, äußerst ungestümen Tauben, welche ich die „Gang of four“ nannte. Regelrechte Rüpel waren und sind sie , alles andere als das Attribut „arglos“ ,welches ihnen der Evangelist Matthäus zuschrieb.
Seit zwei Monaten kommt Mathilda allleine – und sie wirkt still und einsam, oft sitzt sie, mit nur einer Armlänge Abstand bei mir, putzt sich das Gefieder, wirkt zutraulich und ignoriert neuerlich den Topf mit den Körnern. Dann fliegt sie wieder auf und davon, fliegt auf ihren Baum. Ich weiß mittlerweile; es ist die Buche vorne, am Eingang zum zweiten Wohnblock mit der Hausnummer 132 b, da gibt´s auch viele Balkone. Vielleicht hat sie dort auch jemanden, der auf sie wartet, der auch Futter für sie bereit hält, wahrscheinlich sogar besseres als meines. Mathildas Lieblingsast in der Buche ist der dritte, oben rechts. Es ist kein gerade gewachsener Ast. Er hat eine schiefe, kurvenartige Form; wirkt lustig. Sie sitzt immer in dieser Astkurve die ein bisschen an eine dieser 70er Jahre Sitzecken erinnert.

In der Stadt sehen wir sie, ständig laufen und hüpfen sie uns über den Weg, erschrecken uns wenn sie haarscharf über unsere Köpfe fliegen, manche weichen zu spät den herandonnernden Straßenbahnen aus und werden zerquetscht, andere bekommen Fußtritte von genervten Passanten, werden von Kindern gejagt. Sie treten oft in Gruppen auf, zanken und beharken sich energisch um ein weggeworfenes Brötchen. In Städten wie Berlin, Venedig, Neapel, London, Istanbul bilden sie eine einzige riesige, graue Masse. Sind´s fünfzig, hundert oder mehr, die da auf einmal aufsteigen und Dreck und Staub aufwirbeln und hinterlassen?

Wenn ich von der Stadt heimkomme, von der Straßenbahnhaltestelle runter laufe zu meinem Wohnblock, schaue ich hoch und sehe sie manchmal dort oben sitzen auf ihrem Ast. Manchmal auch nicht, dann denke ich, sie sitzt auf einem der Balkone bei jemandem, der auch weiß, wo sie wohnt, vielleicht ist es der Mensch, der ihrem verstorbenen Gefährten ein Schälchen Wasser hinstellte, bevor er starb.
Während ich diese Geschichte schreibe, fällt mein Blick raus auf den Balkon. Sieh mal, wer da rumläuft und Kerne aufpickt. Da ist sie wieder,meine Mathilda – den bösen Beinamen hab ich ihr wieder abgenommen ... eine grauweisse Taube mit zwei auffallend weissen Flecken am Hals, Augen, die mich unverwandt ansehen, die mir nichts über sich erzählen wollen und dennoch kennen wir uns. Sie ist eine Taube von so vielen, ja. Aber nicht einfach eben eine, sie ist meine ... Mathilda.
 
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