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5 Seiten

Ein letzter Augenblick

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Sie schritten hintereinander einen steilen Hang hinauf, der Alte vorweg, mühsam und keuchend. Er trug eine unverzierte weiche Lederbluse, die über einen Lederrock fiel. Die Füße bedeckten einfache Ledermokassins. Seine grauen Haare fielen auf die Schultern. Die Gesichtszüge waren ernst. Unzählig viele tiefe Falten hatten sich eingegraben und bezeugten ein uraltes und entbehrungsreiches Leben. Seine dunklen Augen jedoch sprachen von Güte und Wissen. Auch schien sich ihnen ein seltsam fernes Feuer bemächtigt zu haben. Das eine übers andere Mal hielt der Alte inne und schaute über das weite Land, das in leuchtend gelbe und rote Farben getaucht war, Indian Summer, die Zeit der Besinnung und auch des Abschiednehmens.
Der junge Mann folgte ihm in gebührlichem Abstand. Er hatte die Mannbarkeitsrituale bereits hinter sich. Auch hatte er die Prüfungen zum Medizinmann bestanden, wobei drei Tage und drei lange Nächte allein in den Bergen, stehend an einen Felsen gelehnt und fünf Fuß vor sich einen tiefen Abgrund, ohne Wasser und Nahrung, die ganze Zeit wachend, die schlimmste Prüfung war. Drohte er einzuschlafen, war ihm das Singen erlaubt. Bei seiner Rückkehr erkannten seine Leute an der Art seines Ganges, dass er diese Prüfung bestanden hatte. Aber er nahm niemanden wahr, als er zu seinem Zelt schritt, um sich dort nun auf die Zeremonien der Schwitzhütte vorzubereiten. Selbst das Strahlen einer jungen Frau bemerkte er nicht, die als einzige an diesem Tag ihr buntes Festtagsgewand trug, was außerhalb der offiziellen Feste ungewöhnlich war. Doch hatte ihre Großmutter sie gewähren lassen.

Auf seinem heutigen Gang hinter seinem Großvater kamen in ihm diese Erinnerungen hoch, stand er doch im Begriffe, dessen Nachfolge anzutreten.
Auch er war wie sein Großvater in schmuckloses Leder gekleidet mit Ausnahme des bunt bestickten Gürtels, der sein Lederhemd um die Taille schnürte. Diesen bunten Gürtel hatte er nur deshalb umgelegt, weil ihn eine Frauenhand vor seinem Aufbruch unter der Zeltplane in sein Zelt geschoben hatte. Auch dies war ungewöhnlich an einem Tag wie dem heutigen. Doch der junge Mann liebte ihre selbstbewusste Art, die sie nicht selten Sachen machen ließ, die dem Brauch widersprachen. Bei dem Gedanken an sie erhellte ein flüchtiges Lächeln seine Gesichtszüge, um aber sofort einem traurigen Ernst Platz zu machen. Seinem federndem Gang merkte man nicht an, dass er auf seinem Rücken ein schweres Bündel trug.

Beide hatten frühmorgens die Ansammlung der Zelte verlassen, wobei die Krieger auf der einen und die Frauen und Kinder auf der anderen Seite schweigend ein Spalier bildeten. Gegen Mittag erreichten dann beide ihr Ziel, das nur der Großvater kannte. Dieser hielt plötzlich auf einem kleinen Plateau an, das nach Westen mit Blick über die Ebene frei war, im übrigen durch wuchtige Felsen eingerahmt war. Der Großvater zeigte wortlos auf eine Stelle inmitten dieses Platzes. Sein Enkel legte dort sein Bündel ab. Er wusste offensichtlich, was zu tun war. Während er Reisig und Brennmaterial zusammentrug, setzte sich der Großvater dorthin nieder, wo das Bündel lag und schaute wie abwesend über die Ebene.
Sein Enkel schichtete sodann Reisig zu einer Lagerstatt unter einem Felsenvorsprung auf, wobei das Kopfende nach Osten zeigte und so erhöht war, dass man über die Ebene blicken konnte. Sodann breitete er darüber eine grobe Pferdedecke, die er dem schweren Bündel entnahm. Und darüber legte er eine feine Wolldecke mit vielfältigen Verzierungen. Danach entfachte er vor seinem Großvater ein kleines Feuer. Dieser beugte sich zu dem Bündel und entnahm ihm eine lange verzierte Pfeife, an deren Kopf zwei Adlerfedern baumelten. Er stopfte die Pfeife und legte sie behutsam neben sich ab. Sodann bedeutete er seinem Enkel sich neben ihn zu setzen. Beide schauten eine Weile wortlos über das Land. Dann entzündete der Alte die Pfeife und reichte sie seinem Enkel, der einen langen Zug aus ihr tat und sie dem Großvater zurückgab. Dieser stand auf und blies den Rauch in alle vier Himmelsrichtungen. Er setzte sich, legte seine linke Hand auf sein Herz und begann aus tiefster Seele zu singen. Seiner Kehle entströmten Laute, die sein Enkel noch nie vernommen hatte. Großvater entnahm sodann einem feinen Lederbeutel Pulver und streute es über das Feuer, das grell leuchtend aufloderte. Danach beugte er sich tief zur Erde herunter und murmelte etwas Unverständliches, wonach er sich aufrichtete und seinen Blick wie erstarrt auf den Horizont gerichtet hielt. Nachdem so eine halbe Ewigkeit verstrichen zu sein schien, erwachte er aus seiner Starre. Er entnahm einer Tasche aus dem Bündel eine feine Lederschnur und bedeutete seinem Enkel vor ihm zu knien. Diesem band er die Lederschnur um die Stirn und wies ihn auf seinen Platz zurück.

Großvater richtete den Blick sodann auf eine sich hoch auftürmende blendend weiße Wolke, die sich plötzlich am Himmel gebildet hatte. Er begann wieder zu singen, wobei der Gesang an- und abschwoll, und sein kehliger Ton immer fordernder wurde. Plötzlich stieß aus dieser Wolke ein großer Vogel hervor und zog über den beiden mit seinen mächtigen Schwingen immer engere Kreise. Als das Rauschen seines Fluges schon vernehmbar war, segelte eine Feder hernieder und fiel vor dem jungen Mann zu Boden. Großvater nahm die Feder auf und strich lächelnd damit über beide Schultern seines Enkels. Sodann befestigte er sie in dessen Stirnband, übergab ihm die lange Pfeife und begann wie folgt zu sprechen:

„Singender Wolf, Du trittst nun meine Nachfolge an. Unser Volk hat Dich für würdig befunden. Du bist der Hüter unseres Wissens und somit der Garant für den Fortbestand. Du wirst bei Entscheidungen maßvoll und umsichtig sein. Ich werde über Deine Taten wachen. Du kehrst nun zurück und wirst Deinem Volk die heilige Pfeife überbringen. Blicke Dich nicht mehr nach mir um. Gehe nun in Frieden und bewege die folgenden Worte einer unserer Vorfahren in Deinem starken Herzen:




Steh nicht an meinem Grab und weine
Ich bin nicht dort. Ich schlafe nicht.
Ich bin wie tausend Winde die wehen.
Ich bin das diamantene Glitzern des Schnees
Ich bin das Sonnenlicht auf reifem Korn.
Ich bin der sanfte Herbstregen
Wenn Du aufwachst in des Morgens Stille
Bin ich der flinke Flügelschlag
friedlicher Vögel im kreisenden Flug
Ich bin der milde Stern
der in der Nacht leuchtet
Stehe nicht an meinem Grab und weine
Ich bin nicht fort. Ich bin nicht tot.“















Nachwort

Singender Wolf wurde schon in jungen Jahren weit über sein Volk hinaus als ein bedeutender Medizinmann verehrt. Er war still und verschlossen, zumal er mit seinen schrecklichen Visionen sein Volk nicht ängstigen wollte. Visionen, die ihn bereits in seiner Jugend heimgesucht hatten, und die ihn nun nicht mehr verließen, und die mittlerweile in ihm zur bitteren Gewissheit gereift waren. Diese Visionen trugen wohl auch dazu bei, dass er seinen Wigwam mit keiner Frau teilte und auch keine Kinder haben wollte, was sich mit seinem Status als Medizinmann durchaus vertragen hätte. Die Frau, die für ihn einst den bunten Gürtel gestickt hatte, „Schwarze Feder“, war dann später auf das Werben des Sohnes des Häuptlings nicht eingegangen, was für großen Unwillen im Volk gesorgt hatte. Auch sie lebte allein, stolz in ihrer stattlichen aber abweisenden Schönheit. Ihr einziger ständiger Begleiter war ein grauer Steppenwolf, den sie als Welpe großgezogen und auf den Namen „Traumtänzer“ getauft hatte. Traumtänzer wich nicht von ihrer Seite. Und es ging das Gerücht, dass sie mit ihm ihr Lager teilte. Beide stiegen auch in besonders mondhellen Nächten auf einen hohen Felsen, wo sie langgezogene Laute hervorstießen, die weder tierischen noch menschlichen Ursprunges zu sein schienen und ihr Volk erschreckten. Kein Mann durfte sich Schwarzer Feder nähern, ohne dass Traumtänzer dann die Zähne gefletscht hätte. Wenn sich jedoch gelegentlich die Wege von Schwarzer Feder und Singender Wolf kreuzten, sich ihre Blicke begegneten, und Singender Wolf den Kopf von Traumtänzer streichelte, dann winselte dieser. Hinzu kam, dass Schwarze Feder das Wildbret der Krieger und Jäger verschmähte und stattdessen selbst auf die Jagd ritt. Wenn sie nicht unter dem unausgesprochenen Schutz von Singender Wolf gestanden hätte, wäre sie wohl aus dieser von Männern beherrschten Welt fortgejagt worden.

Nach Jahren des Wartens hatte sich Singender Wolf sodann aufgemacht und die Sterbestätte seines Großvaters aufgesucht, die außer ihm keiner kannte. In einer stillen Zeremonie ehrte er den Toten, wobei er ein kleines Feuer anzündete, dieses mit dem Pulver zum Auflodern brachte, die heilige Pfeife rauchte, den Rauch in alle Richtungen blies und sodann ein Lied sang, das selbst er zum ersten Mal vernahm. Sodann bestattete er die gebleichten Gebeine seines Großvaters und vergoss dabei die ersten Tränen seines Lebens, die ihm sein Großvater zur Linderung seiner jahrelangen inneren Qualen schickte.


25.10.04

*Das Gedicht am Ende der vorstehenden Geschichte habe ich dem Buch von Penelope Smith "Gespräche mit Tieren" als anonymes Zitat entnommen.
 
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Kommentare  

hallo, penelopeeine wunderbare geschichte von traumtänzer und schwarze feder. man möchte ihnen alles glück der welt wünschen. und sehr anrührend, wie traumtänzer seinen großvater besucht.
fünf punkte
lg
rosmarin


rosmarin (18.07.2005)

Wunderschöne Geschichte. Das dazu ausgesuchte Gedicht passt sehr gut.

Grainne O'Malley (10.01.2005)

NACHDENKLICH MACHEND UND SEHR LESENSWERT!
DANKE!
ACHIM


achim (28.10.2004)

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