315


10 Seiten

Ahrok - 22. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
© Jingizu
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Fieber

Der wild anstürmende Zwerg hätte Chris Phoenix beinahe kalt erwischt. Nach dem ganzen Hin und Her, welches sich die beiden Streithähne geliefert hatte, war ihm nicht bewusst gewesen, wie zielstrebig dieser Zwerg sein konnte, wenn es darum ging, jemanden um die Ecke zu bringen.
Mit der Geschwindigkeit, welche diese kurzbeinige Person an den Tag legte, hatte er nicht gerechnet. Viel zu hektisch musste er den Rückzug antreten und stieß dabei gleich mit dem ersten Schritt an einen Grabstein.
Prompt kam er ins Straucheln und fiel der Länge nach auf das überwucherte Grab. Der Spion nahm sich jedoch keine Zeit, um sich das schmerzende Schienbein zu halten oder sich über die jetzt völlig nasse Kutte zu ärgern, denn der Zwerg war schon bedrohlich nahe.
Jetzt galt es, dem Kleinen zu entkommen und ihn zu dem verfallenen Brunnenschacht zu locken.
Mit einer Rückwärtsrolle kam er wieder auf die Beine und spurtete los. Die lange, schwere Kutte, welche er trug, hatte sich schon mit Wasser vollgesogen und der schwere Stoff behinderte seine Schritte.
Chris verfluchte seine Kleiderwahl an diesem Abend. Der Zwerg würde ihn sicher bald einholen. Er wagte einen kurzen Blick zurück über die Schulter.
Die Distanz zwischen ihm und dem Zwerg hatte sich mittlerweile merklich vergrößert. In dem Schreckmoment vorhin hatte er den Kleinen also überschätzt.
Er orientierte sich schnell neu.
Da vorn war die umgestürzte Esche, welche er sich als Wegzeichen eingeprägt hatte.
In vollem Lauf holte er einen dieser hier einheimischen Leuchtquarze aus seiner Gürteltasche und brachte ihn zum Glühen. Das sollte dafür sorgen, dass der Zwerg ihm selbst bei der nun größer werdenden Entfernung noch folgen konnte.
Chris bog an dem gestürzten Baum scharf nach links und startete den finalen Sprint. Jetzt konnte er auch schon die Umrisse des Steinhaufens erkennen, welcher früher einmal der Brunnen dieser Friedhofsecke gewesen war.
Er lief direkt daran vorbei und warf den Leuchtquarz den Schacht hinab. Dann sprang er mit einer anmutigen Hechtrolle über die nächste Hecke, welche hier noch als Sichtschutz diente und duckte sich in die nasse Dunkelheit.
Kurz darauf erreichten seine beiden Verfolger seine Position.
Nur eine Armlänge von ihm entfernt stoppten sie ihren Lauf und rangen nach Atem.
Der Schein des Leuchtquarzes drang gespenstisch den Brunnenschacht hinauf und würde hoffentlich die Aufmerksamkeit der beiden auf sich ziehen.
„Wem laufen wir hier eigentlich hinterher?“, keuchte Ahrok zwischen zwei tiefen Atemzügen.
„Weiß ich doch auch nicht!“, blaffte ihn der Zwerg an und trat mit dem Stiefel gegen einen der Steinbrocken des alten Brunnens. „Irgendsoein Arsch in einer Kutte hat ´nen Stein nach mir geworfen!“
„Der scheiß Steineschmeißer war das also? Ist der jetzt da unten?“
Ahrok blickte über den Rand hinunter in den Schacht.
„Keine Ahnung! Schätze schon. Die Mistsau kann was erleben. Ich geh da jetzt aber sowas von runter und schnapp mir den.“
„Na und ich erst!“
Na also. Chris erlaubte sich ein zufriedenes Lächeln. Er war immer noch der Beste. Als er vorsichtig den Kopf aus seiner Deckung hob und durch die Hecke blickte, sah er, wie die beiden Holzköpfe ihren Abstieg begannen.
Langsam erhob er sich und lockerte die verspannten und ausgekühlten Glieder. Seine Arbeit hier war noch lange nicht getan.

Ahroks unbedachter Sprung, die letzten anderthalb Schritt hinab, endete auf einem losen Stein, der sich knapp unter der Wasseroberfläche befand. Der glitschige, kleine Brocken gab unter seinem Stiefel nach und er fiel nach hinten weg - obendrein auch noch mit den Hintern auf weiteres, durchnässtes Geröll.
Sein geprellter Steiß schrie nach Aufmerksamkeit und noch bevor das „Halt, Ragnar! Nicht!“, im Raum verklungen war, landete auch noch ein übergewichtiger Zwerg auf seinen Oberschenkeln.
„Oh, Scheiße. Auuu... Maaaann, pass doch auf, wo du hinspringst!“, fluchte Ahrok und erhob sich schwerfällig.
Als erstes hob er das fallengelassene Schwert aus dem Wasser, um Ragnar nicht schon wieder einen Grund zum Sticheln zu geben, dann blickte er sich hier unten um.
Die Luft hier unten war feucht und stickig. Moos wucherte die alte Brunnenwände hinauf und gab diesem engen Raum einen schauerlich grünen Anstrich.
Brackiges Brunnenwasser stand ihm bis zu den Knöcheln und umspülte schon seine Zehen in den undichten Stiefeln. Ihr Angreifer musste den Lichtquarz in seiner überhasteten Flucht fallen gelassen haben, denn er leuchtete friedlich zwischen Ahroks Füßen vor sich hin.
Ragnar stieß ihn beiseite und stapfte zielstrebig durch das Wasser.
Als Ahrok sich umdrehte, erblickte er einen kleinen Tunnel, welcher die Wand zum Brunnenschacht durchbrach. Sofort war es ihm, als ob ihn aus der Dunkelheit acht monströse Augen eines Schattenspinners anblicken würden. Schlagartig traten seine Rachegelüste in den Hintergrund.
„Ragnar... der Typ ist weg. Lass uns wieder hochgehen.“
Doch der Zwerg war schon aus seinem Sichtfeld in diesem schwarzen Nichts verschwunden.
Schnell fischte Ahrok den Lichtquarz aus dem Wasser und folgte dem Zwerg in den Tunnel.
Nach nur wenigen Schritten holte er den Valr ein, der gerade die Wände untersuchte.
„Diesen Weg hat man hier erst vor kurzem angelegt. Das ist ziemlich befremdlich.“
„Ist mir doch scheißegal, ob hier wer gebuddelt hat. Es ist kalt und nass und ich will wieder nach Hause.“
„Das hier ist alles erst kürzlich gegraben worden. Keine Träger, keine Stützen... das waren sicher keine Zwerge. Warum sollte man einen Weg zu einem alten Brunnen auf dem Friedhof graben?“
„Na ja... vielleicht hat einer...“, ihm fiel einfach kein Grund ein, „... nein, keine Ahnung. Ist ja auch mächtig egal.“
Ragnar schüttelte den Kopf und schritt schon wieder aus.
„Das iss nich gut, Menschling, das hier iss wirklich nich gut.“
Sie folgten dem Weg noch einmal dreißig Schritt weit und noch bevor sie die Kanalisation erreichten, verriet ihm der Gestank der Suppe, wohin dieser Tunnel führte.
„Ragnaaar...“, maulte Ahrok erneut, „lass uns umkehren. Dann ist das hier halt ´ne Bande organisierter, steinewerfender Leichenfledderer. Kann uns doch egal sein. Wir finden die hier nie.“
Aber der Zwerg reagierte gar nicht, drehte sich nicht einmal um. Dieser sture, kleine Kerl pflegte seinen Groll mit einer Hingabe wie andere Leute ihre Liebschaften.
„Ja, ja, von mir aus laufen wir eben die ganze Nacht hier unten rum, wenn´s dich glücklich macht...“
Also lief er wortlos dem Zwerg durch die Kanäle der Stadt nach. Manchmal hielt der Valr unschlüssig an einer Weggabelung, trottete dann aber ohne ein Wort der Erklärung in irgendeine Richtung weiter.
Ahrok hatte mittlerweile vergessenen, warum sie heute überhaupt losgegangen waren und es war ihm jetzt auch schon völlig egal. Das Ganze machte ihm schon lange keinen Spaß mehr.
Der Zwerg kommandierte ihn herum, scheuchte ihn von Ausbilder zu Gegner und wieder zurück und letzten Endes blieb sein ganzes Leben dabei auf der Strecke. Er konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal Spaß gehabt hatte. Immer gab es nur Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit.
Und was hatte er davon? He? Nichts! Gar nichts, um genau...
„Nya ko. Nuku im tsi hruuk?“, zischte es plötzlich rechts von ihm.
Die Stimme kam aus einem kleinen Schlitz in Augenhöhe einer unscheinbaren Tür, die Ahrok ansonsten gar nicht aufgefallen wäre.
Einen kurzen Augenblick lang starrten sich Ahrok und der Weiße gleichermaßen fassungslos an, dann schrien beide gleichzeitig los.
„Ragnaaaar!!! Hier sind sie!“ und „Tik tik! Tik tiiik!“ hallten schrill durch die Gänge der Kanalisation.
Das Gesicht der Echse verschwand von der Tür und Ahrok rammte seine Schulter gegen eben diese, um sie aufzubrechen. Nur Augenblicke später war der Valr an seiner Seite. Hammer krachte gegen Holz und sprengte die Tür aus den Scharnieren.
Der kleine Raum dahinter diente den Weißen als Zwischenlager für ihre Pflanzen. Als die beiden Krieger hineinstürzten, waren drei der Echsen immer noch damit beschäftigt, schnell alle Säcke und Körbe aufzuraffen und die Vierte rannte, laut um Hilfe rufend, den langen Gang entlang, der auf der anderen Seite aus dem Raum herausführte.
„Hol dir den da!“, brüllte der Zwerg und zeigte auf den Fliehenden.
Als Ahrok der feigen Schlange hinterher lief, verfolgte ihn das Knacken von Knochen und das hilflose Gewimmer der völlig überraschten Echsen.
„Halt endlich an, du da!“, rief er seinem Ziel hinterher, doch der Weiße blickte nicht einmal zurück sondern rannte die düsteren und glitschigen Wege mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit entlang, die Ahrok hier unten nie im Leben aufbringen konnte.
Er sah nur noch eine Chance.
Im Lauf hob er sein Schwert, zielte kurz und warf es, begleitet von einem lauten Kraftschrei, dem Weißen hinterher.
Die wirbelnde Waffe verfehlte ihr Ziel und rutschte klirrend über den Boden, bevor sie irgendwo außerhalb Ahroks Sichtfeld in die Suppe plumpste.
Er verdrehte die Augen und fluchte in sich hinein.
Ohne Waffe konnte er nicht einmal zurück zu Ragnar. Der Zwerg würde sich nur wieder bestätigt sehen, dass er nie auf seine Schwerter aufpassen konnte – und diese Genugtuung würde er dem Zwerg nicht gönnen. Also lief er weiter in die Richtung, in welcher er die verschwundene Echse vermutete.

Der oberste Pestbringer Vypos wanderte ziellos durch sein provisorisches Labor. Es gab zu wenig Platz, zu viel Feuchtigkeit und es haperte beständig an Nachschub. Ohne die tiefsitzende Unzufriedenheit nach außen zu tragen, nickte er den kleinen Säugetieren in ihren Käfigen zu. Sie quiekten fröhlich oder vielleicht auch ängstlich und breiteten ihre ledrigen Schwingen aus. Andere beachteten ihn gar nicht und knabberten nur begierig an den Feigen, welche der Pestbringer ihnen von Zeit zu Zeit in den Käfig warf.
Die gefiederte Schlange war ihm hold, denn ein Großteil dieser Wirtstierchen hatte die beschwerliche Reise aus dem weit entfernten, heißen Süden hierher überlebt.
Das war von enormer Bedeutung, denn diese kleinen Tiere waren der wichtigste Bestandteil seiner Arbeit. Sein Vorgesetzter Urguk wollte Ergebnisse und er wollte sie schnell. Natürlich wollte er sie schnell. Alle wollten immer sofort Erfolge sehen. Kaum jemand außerhalb des geweihten Zirkels verstand die filigrane Mechanik einer Krankheit. Wie viel Geduld und Leidenschaft die Erschaffung eines wirklich letalen Fiebers benötigte, sah dabei natürlich niemand. Von Immunitäten und Resistenzen brauchte er gar nicht erst zu reden. Nicht einmal ein Erleuchteter wie Urguk hatte davon gehört.
Vorsichtig stieß er mit der behandschuhten Kralle ein paar der Kal´tik beiseite und sammelte ihre frischen Ausscheidungen ein.
Das war er.
Der Kern seiner neuen Kreation. Unscheinbar und klein, aber doch so potent.
Vypos ließ die Exkremente in den hochheiligen Kessel fallen. Der Mundschutz bewahrte ihn davor, die Dämpfe einzuatmen, doch sie reizten immer noch seine Augen.
Eine Träne rann seine Schuppen entlang. Er wusste in diesem Moment nicht, ob es an den Dämpfen lag, oder ob er vor Freude weinte, denn nach Wochen der Vorbereitung war er nun fast am Ziel angelangt. Nun fehlte nur noch ein Name für seine neue Seuche.
Der „Schwarze Tod“ hatte einen guten Klang, aber dieser Name, so schön und voller Pathos er einst gewesen sein mochte, war mittlerweile viel zu ausgelutscht. Nahezu ein jeder Pestbringer wollte seine Kreation mit dem Namen „Schwarzer Tod“ versehen. Nein, das war heutzutage nichts Besonderes mehr.
„Blut zerberstendes Fieber“ kam nach näherer Betrachtung in die engere Auswahl. Schließlich starben die Opfer daran, dass ihnen ihr eigenes Blut in die Eingeweide hinein und in besonders lustigen Fällen aus Augen, Nase und Ohren und allen anderen Öffnungen aus dem Körper quoll.
Sie verbluteten, ohne dass man ihnen eine einzige Wunde zufügen musste.
Vypos deutete eine kleine Verbeugung gegenüber der Mutter Natur an, die ihm dieses herrliche Kindchen beschert hatte.
Einzig und allein die Zeit, welche zwischen Ansteckung und Ausbruch des Fiebers lag, bedurfte noch einer Korrektur. Acht Tage lang zu warten war nicht akzeptabel für ihren geplanten, blitzartigen Überfall und alle Pflanzen und Pilze, welche er in den letzten Wochen seinem Kindchen beigemischt hatte, konnten daran nichts ändern.
Vielleicht war die heutige Ernte jedoch endlich von Erfolg gekrönt.
Mit dem gesegneten „Löffel der schleichenden Epidemie“ verrührte er die frisch gesammelten Ausscheidungen im heiligen Kessel. Natürlich konnten die zwölf Tierchen kaum genug Exkremente produzieren, um einen Straßenzug zu infizieren, aber Vypos hatte herausgefunden, dass selbst eine stark verdünnte Probe die gewünschten Ergebnisse erzielte.
Er tätschelte liebevoll das schweißnasse Haupt seiner vorletzten Testperson. Dieses Männchen hatte sich lange gehalten. Es war stark und von herausragender Kondition. Erst elf Tage nachdem Vypos es infiziert hatte, war die Krankheit ausgebrochen. Bis dahin hatte es immer wieder kräftig an den Ketten gezerrt und um Hilfe gerufen. Ja, sogar einige Tage die Nahrungsaufnahme verweigert.
Doch jetzt, nach weiteren zwei Wochen im Fieber, war es dem Tode nahe. Es lag nahezu regungslos in seinen eigenen, blutigen Ausscheidungen. Ab und zu jagten ein paar Spasmen durch den Körper, aber das war es dann auch schon. Große, blaue Flecke bedeckten Arme, Beine und Torso. Selbst die Äderchen in den Augen des Männchens bluteten freudig rot.
Sein Atem ging flach und es schrie auch schon lange nicht mehr.
Armes Menschlein. Einst so hochmütig und jetzt so ahnungslos und hilflos und ohne jede Macht über ihn oder sonst einen Nyoka´tuk.
„Tik tiiik!“
Mit einem milden Lächeln hing Vypos seinen Gedanken nach und achtete gar nicht auf die alarmierenden Rufe. Erst als einer seiner Sammler die Tür zum Labor aufstieß und sofort wieder hinter sich zuschlug, schrillten seine Alarmglocken.
„Sie sind hier. Eindringlinge aus der Stadt. Hier bei uns. Ruft sofort die Wachen, oberster Pestbringer!“, keuchte der Sammler.
Vypos Blick hastete hektisch über die Laborausrüstung. Für eine schnelle Evakuierung lagerte hier zu viel Material.
Das Wichtigste waren, neben seinen Aufzeichnungen, ohnehin die Kal´tik und der Kessel mit der aktuellen Probe.
Irgendetwas krachte plötzlich gegen die Labortür und bog die alten, verrosteten Scharniere. Vypos zuckte zusammen. Es war erschreckend, den Feind so nahe zu wissen. Die Tür, welche ihn momentan noch schützte, würde nicht lange standhalten.
„Sichert meinen Rückzug!“, rief er den langen Gang hinab den dort stationierten Wachen zu. Zum Glück hatte der Erleuchtete ihm diese, bis eben noch als unnötig erachtete Leibgarde zur Verfügung gestellt.
Schnell raffte er die vielen Zettel zusammen und verfluchte seine eigene Unordnung.
Ein weiterer kräftiger Schlag hämmerte gegen die Tür zu seinem Versteck und ließ ihn erneut unwillkürlich zusammenzucken.

Ahrok rieb sich den summenden Arm. Beim dritten Ansturm gegen die Tür, hinter welcher sich die Echse verkrochen hatte, war er etwas unglücklich mit seinem Ellenbogen gegen den Türknauf geprallt.
Der vibrierende Schmerz zog sich vom kleinen Finger bis hinauf zur Schulter.
Diesen dämlichen Knauf hatte er glatt übersehen. Es war aber auch verdammt düster hier unten. Blöde Zwerge! Warum bauten sie überhaupt diese dämliche Kanalisation unter der schönen Stadt?
Wütend verpasste er der Tür einen Tritt, schüttelte den Arm, bis dieser sich wieder etwas beruhigt hatte und stürmte erneut an.

Sergeant Hieronimus Schmidt versammelte die Truppe vor dem Drei-Königs-Tor. Hier hatte es angefangen. An diesem Ort hatte das Unglück heute begonnen und er würde es beenden. In dieser Nacht hatte er das Kommando über siebenundsechzig Männer, was bedeutend mehr als die übliche Besetzung der Nachtschicht war.
Der Anschlag auf die Stadtwächter ließ niemanden seiner Kameraden kalt. Viele hatten sich aus ihrem verdienten Feierabend sofort bei ihm für diesen Einsatz gemeldet.
Natürlich waren die anderen Stadtviertel heute Nacht aufgrund Ihres Einsatzes gefährlich unterbesetzt, doch das war weder sein Problem noch das der anderen Stadtwächter.
Ihr Hauptmann hatte sich bereit erklärt, die volle Verantwortung für etwaige Vorfälle in den vernachlässigten Gegenden zu übernehmen. Der gute Mann wollte diese beiden Mörder mindestens ebenso sehr fassen wie ein jeder andere Stadtwächter, doch sein Schreibtischposten erlaubte es ihm nur noch selten, als Gesetzeshüter durch die Straßen zu streifen.
Hieronimus beneidete den Hauptmann keinesfalls.
Die langen Jahre des Dienstes hatten ihn krank gemacht. Das endlose Anrennen gegen die zwergische Bürokratie hatte ihn gebrochen und der Tod seiner Familie hatte ihn näher an den Rand des Wahnsinns gebracht, als es gut für einen Mann war.
Doch sein Vorgesetzter liebte seine Stadt voller Inbrunst und er liebte auch jeden Stadtwächter so wie sein eigenes Kind. Hieronimus hätte ihm jederzeit sein Leben anvertraut und deshalb war es umso wichtiger, diese Mörder heute Nacht zu fassen.
„Männer!“, wandte er sich an die wartende Menge. „Wir passieren jetzt das Tor zum Westbezirk. Wie ihr wisst, ist dieser Bereich ein Seuchenherd und steht unter Quarantäne. Die beiden Gesuchten haben sich hierhin verkrochen, weil sie dachten, dass der starke Arm des Gesetzes ihnen hierher nicht folgen würde. Aber da hatten sie sich geirrt!“
„Hu!!!“, grunzten siebenundsechzig Kehlen im Chor. Die Männer, selbst die friedfertigsten unter ihnen, waren aufgebracht und auf Blut aus.
„Bedeckt eure Nasen und Münder mit den Tüchern, die wir vorhin ausgeteilt haben. Selbstschutz geht heute Abend vor allem anderen. Der Waffeneinsatz wurde von unserem Hauptmann selbst legitimiert. Lasst also keinen Infizierten näher als eine Schwertlänge an euch heran. Und wenn wir auf die Gesuchten treffen...“, Hieronimus ließ den Satz unvollendet und blickte nur grimmig auf seine Männer.
„Hu!!!“, war ihre einstimmige Antwort.

Ahrok senkte den Kopf und atmete erneut ein paar Mal durch, bevor er wieder auf die Tür zurannte. Dieses Mal gab das Schloss nach. Die Tür flog auf und traf dabei eine der dahinter wartenden Echsen ins Gesicht.
Ahrok stolperte durch den eigenen Schwung getrieben in einen Raum voller Weißer.
Der Vorderste hielt sich benommen die blutende Schläfe, hinter diesem standen noch fünf weitere, ähnlich gut bewaffnete und auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes schleppten gerade zwei weitere Exemplare dieser Schuppenmonster einen Kessel hinfort.
Ahrok wusste sogleich, dass er in dem großen Raum gegen diese Übermacht nicht die geringste Überlebenschance hatte. Hier würden sie ihn durch ihre schiere Anzahl und Bewaffnung überwältigen und niedermachen, bevor er auch nur „Scheiße, warum hab ich nur mein Schwert weggeworfen?!“ rufen konnte. Das Wichtigste war, ihnen zuerst den Platz zu nehmen, so dass ihre Zahl bedeutungslos wurde.
Seine nächsten Handlungen liefen völlig automatisch ab.
Ohne weiter zu überlegen, riss Ahrok der vordersten Echse ihr Schwert aus dem Gürtel und wich sofort zurück. Er verließ den Raum ebenso schnell wie er hineingestolpert war und zog die Tür wieder zu.
Mit pochendem Herzen drückte er sich an die Wand neben der Tür. Sein Atem ging schneller, seine Sinne waren schärfer und seine Nerven zum Zerreißen gespannt. Die Echsen wussten es noch nicht, aber er war hier nicht der Gejagte. Er war das Raubtier.
Den Blick starr auf die Tür gerichtet wog er das seltsame Schwert in seiner Hand. Die Klinge war ungewöhnlich breit und die ganze Waffe schlecht ausbalanciert. Doch es war allemal besser, als gar nichts in den Händen zu halten.
Nur einen Augenblick später wurde die Tür wieder aufgerissen und die verärgerten Echsen stürmten hinaus zu ihm auf den Gang.
Das erhobene Schwert sauste hinab und schnitt dem ersten tief in den Nacken hinein. Mit einer halben Drehung brachte er die Waffe wieder hinauf und zog sie dem zweiten über sein Gesicht.
Kaum, dass die ersten beiden Gegner gurgelnd zu Boden gingen, sprang Ahrok auch schon über sie hinweg auf den Dritten zu, der noch im Türrahmen stand. Er täuschte einen Hieb zum Kopf der Echse an. Sein Gegenüber riss auch sofort sein Schwert hoch, um Ahroks Angriff zu parieren, doch dieser drehte seine Waffe zum Stoß und versenkte die Klinge in der Brust des Weißen.
Sofort stieß die Echse mit dem Fuß von der blutigen Waffe und orientierte er sich neu.
Der Gang hinter ihm war stockdunkel und mit dem Blut der Toten und Sterbenden bedeckt. Vor ihm lag der beleuchtete Raum, in welchem die Echse ihre Suppe gekocht hatte. Dort hielten die übrigen drei Echsenmenschen ihren sterbenden Kameraden in den Armen.
Es war taktisch klüger, die Schlacht nun in das Innere des Raumes zu verlegen.

„Dökksormr!“, dröhnte es vor Vypos. „Wohin des Weges?“
Er verstand die Worte zwar nicht, aber den Gang vor ihm blockierte ein breiter Zwerg, dessen Augen von feurigem Hass nur so leuchteten.
Vypos schluckte. Dem Geschrei nach zu urteilen, war ihm der Rückweg versperrt und nun auch noch der einzige Fluchtweg.
Zuerst kam die Panik. Die Angst um sein Leben und um seine neue Kreation beraubte ihn der Fähigkeit, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Doch dann meldete sich sein Beschützerinstinkt.
Er ließ die Käfige, welche er zu retten versucht hatte, fallen und drückte dem Sammler den heiligen Kessel in die Krallen.
Der Zwerg schritt langsam auf sie beide zu. Seine schweren Stiefel hallten gespenstisch durch diese Tunnel. Vypos hörte den Kampflärm hinter ihm gar nicht mehr. Allein die todesverheißenden Schritte des Zwerges drangen an seine Ohren.
„Überbringe den Kessel dem Erleuchteten. Er muss ihn dringend erhalten. Es ist wichtig für uns alle“, befahl er seinem Begleiter, ohne diesen auch nur anzusehen.
Der Zwerg war kaum mehr zwanzig Schritte von ihm entfernt.
Vypos sah ihn genau und er wusste, dass er seinem Tod entgegen blickte.
Eine weitere Träne rann ihm über die schuppigen Wangen. So nah am Ziel und doch... Er riss sich den Mundschutz vom Gesicht und warf ihn zu Boden.
„Du rennst und hältst nicht für einen Augenblick an. Ich werde dir den Weg frei machen.“
Der oberste Pestbringer tauchte beide Krallenhände in den Kessel. Er konnte fühlen, wie das Fieber durch seine Poren in ihn eindrang. Natürlich war es nur Einbildung, aber von diesem Moment an war er ohnehin dem sicheren Tode geweiht.
Vypos war Gelehrter und kein Kämpfer. Doch dieser Zwerg würde weder sein Kindchen zerstören, noch die Begegnung mit ihm überleben, auch wenn er ihn nun gleich mit diesem schrecklichen Hammer erschlagen würde.
Der Pestbringer drehte sich um und stierte den Zwerg mit tränennassen Augen an. Das klebrige Wasser mit seinem herrlichen, neuen Fieber lief ihm die Hände hinab und tropfte auf die Steine zu seinen Füßen.
„Lauf!“, kommandierte er und stürzte sich auf den Zwerg.


--------------------------------------

Worterklärungen

Dökksormr – „Schlangen aus der Dunkelheit“ Bezeichnung der Zwerge für die Weißen

Nya ko. Nuku im tsi hruuk? - „Da seid ihr ja endlich. Habt ihr alles bekommen?“
Tik tik – das Laufgeräusch eines Schattenspinners dient als Alarmsignal bei den Weißen
Kal´tik – „Fliegende Hunde“
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Ich kann mich den anderen nur anschließen. Spannend.

MfG


Alexander Bone1979 (20.10.2010)

Ich stimme den Kommentaren voll zu. Das ist ein wirklich gutes Kapitel geworden. Nicht nur spannend, auch ziemlich gruselig. Sehr interessant ist auch dieser Spion, der die Geschichte schon seit einem ganzen Weilchen begleitet.

Petra (29.09.2010)

Danke Jochen - das ist schließlich auch dein Verdienst, denn immerhin hast du mich ermutigt das Ganze individueller zu gestalten und mir somit den Anstoß zur völligen Überarbeitung gegeben.
Es freut mich sehr, dass es mir gelungen ist die Geschichte noch besser zu gestalten und ja ich selbst find es auch weitaus besser in dieser Version.


Jingizu (29.09.2010)

Also ich muss sagen, noch spannender und überzeugender als in der ersten Version. Wirklich gut gelungen.

Jochen (28.09.2010)

Das ist ja ein wirklich herrliches Kompliment von dir Ingrid. Vielen Dank!

Jingizu (28.09.2010)

„Dieser sture kleine Kerl pflegte seinen Groll mit einer Hingabe wie andere Leute ihre Liebschaften.“
solche sätze finde ich einfach genial von dir!
und den beruf pestbringer auch, ein hübscher kreativer beruf anscheinend – und die pestsuppe ist bestimmt sehr unbekömmlich. bin gespannt, ob der zwerg was davon abbekommt...


Ingrid Alias I (27.09.2010)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Ahrok 2. Band - 41. Kapitel  
Berserkor der übelst Schreckliche - 1. Kapitel  
Nikolas - Inhaltsangabe  
Chris - Inhaltsangabe  
Berserkor der übelst Schreckliche - Inhaltsangabe  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De