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11 Seiten

Ahrok - 25. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Fünfundzwanzigstes Kapitel: In der Kanalisation

Ahrok saß mit dem Rücken an die Kanalwand gelehnt und massierte seine geschwollenen Füße. Die Stiefel hatte er, gleich nachdem ihr Führer sie hier neben der Suppe alleingelassen hatte, zu einer Nackenstütze umfunktioniert.
Er hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen, sein Körper litt immer noch unter den Auswirkungen von Sigurds Training und obendrein hatte er in den letzten vierundzwanzig Stunden noch nicht einmal etwas gegessen.
Jetzt, da das Adrenalin verschwunden war und die Müdigkeit sich mit immer größeren Schritten näherte, fühlte er sich nur noch schlapp und ausgelaugt. Alles tat ihm weh, besonders seine Füße, denn die Tatsache, dass sie beide den ganzen Tag von hier nach da gelaufen waren, hatte seine durchnässten Fußballen und Hacken mit großen Blasen beschenkt.
Das verstauchte Handgelenk schmerzte, als er sich die Zehen rieb und er war bis hoch in die Schultern völlig verspannt. Das war alles die Schuld dieser ekelhaften, nassen Kälte, die ihm durch alle Gelenke kroch.
Jeden Schritt, den es heute noch zu tun galt, würde er sich doppelt und dreifach überlegen.
Er lehnte sich zurück und gähnte ausgiebig.
Die Geschichten um die großen Helden waren offensichtlich frei erfunden oder zumindest übertrieben ausgeschmückt. Nie hätte er sich träumen lassen, dass das Dasein als Held so erbärmlich war, wenn er früher den Geschichten seines Vaters gelauscht hatte. Da hatte es ja jeder Bauer besser.
Was tat er hier eigentlich?
Er hatte gar nichts von seinen ganzen tödlichen Ausflügen - keine Frauen, kein Geld, kein nichts, kein gar nichts! Das was ihm blieb war ein Zwerg und ein Schwert... ach nein, das hatte er ja schon wieder verloren... und ständig war er irgendwo unterwegs, um den besagten Helden zu spielen. Wo waren denn die ganzen Jungfrauen, mit denen so ein Held in den Geschichten belohnt wurde, he? Wo waren die Berge von Gold, der endlose Ruhm und das gute Essen?
Scheiße war’s!
Das Einzige was er bekam war eine Erkältung, entstellende Narben und nun musste er sich auch noch das Gejammer des Zwerges anhören.
´Buhuuuu, meine Wunden jucken ja so... buhuuuu!´
Der sollte sich verdammt noch mal nicht so anstellen, schließlich war er nicht der Einzige, der hier leiden musste! Ahrok schüttelte den Gedanken an den Zwerg ab. Er hatte keine Lust sich schon wieder aufzuregen.
Hoffentlich war wenigstens Mia stolz auf das, was aus ihm geworden war. Eine abgebrannte und heruntergekommene Kampfmaschine, die Frau und Arbeit vernachlässigte, um mit einem trunk- und todessüchtigen Zwerg irgendwelche Leute und Dinge zu erschlagen.
Wenn er so über sein Leben nachdachte, klang es nicht gerade toll. Angeben konnte er damit gar nicht. Irgendwo war schon wieder etwas gänzlich schief gelaufen.
Ahrok blickte zum Ausgang.
Wo blieb dieser Kerl nur? Es war schon vor Minuten durch das Gitter verschwunden. Hatte er nicht gesagt, er wohne hier gleich in der Nähe?
Ahroks Kopf rutschte nach vorn und die Augen schlossen sich wie von selbst. Alle Anspannung fiel von ihm ab und er nickte sofort ein. Er hörte nicht einmal mehr die scheppernden Schritte, die soeben die Treppe zur Kanalisation hinunter kamen.

Ragnar saß im Schneidersitz neben Ahrok.
Den Hammer hatte er in Griffweite neben sich und er betrachtete missmutig die Kratzer, welche ihm die Echse zugefügt hatte. Eine gelblich schleimige Flüssigkeit hing in den Wunden. Sie juckten und brannten, aber er hatte kein Wasser zur Hand, um sie auszuwaschen. Das würde warten müssen, bis sie wieder die „Pinkelnde Sau“ erreicht hatten.
Ragnar konnte es kaum noch erwarten, dass dieser beschissene Tag ein Ende hatte. Es war keiner dieser Tage, die eines Valr würdig waren. Wahrscheinlich konnte man sich nicht einmal unter Menschen mit den Geschehnissen der letzten zwanzig Stunden brüsten.
Von einem würdigen Tod war er noch immer meilenweit entfernt und die mangelnde Qualität seiner Gegner ließ doch sehr zu wünschen übrig.
Der Valr schnaufte missmutig. Seine Ahnen würden ihm dies sicher auch noch anlasten, schließlich konnte sich ein jeder seine Feinde aussuchen.
Endlich hörte Ragnar Schritte vor dem Gitter.
Seine Grübeleien fanden damit schlagartig ein Ende. Es wurde aber auch Zeit, dass der Typ endlich zurückkam.
Der Zwerg rappelte sich auf.
Sicher würde der schmächtige Kerl es ihm überlassen, die Metallstäbe aufzubrechen.
Anstatt einer einzigen traten jedoch mehrere Personen in sein Sichtfeld. Die Augen des Valrs weiteten sich, als das Erste, was er sah, die grellgrüne Uniform der Stadtwache war.
Dem Stadtwächter, welcher ihn anblickte, sprang ein breites Grinsen auf das Gesicht.
„Sie sind hier! Sie sind wirklich hier!“, rief der Mann nach hinten.
Weitere eisenbeschlagene Stiefel polterten die Treppe im Laufschritt hinab.
Ragnars stand den Stadtwächtern einige Augenblicke ungläubig gegenüber. Es wurden immer mehr da draußen vor dem Gitter.
Er schluckte schwer und sein Herzschlag beschleunigte sich, bis er zu einem ohrenbetäubenden Trommeln wurde.
Wie hatte er auch glauben können, hier so einfach wieder entkommen zu können. Scheiße, warum hatte Ahrok ihn nur dazu überreden können, diesem zwielichtigen Mistkerl zu folgen. Sofort stieß er den jungen Menschen an, der neben ihm döste.
„Was...? Was ist?“
Der Junge war noch gar nicht richtig da, als die Stadtwächter vor dem Gitter ihre Waffen bereit machten. Im letzten Moment gelang es Ragnar, den schlaftrunkenen Jungen aus der Reichweite der Hellebarden zu reißen, welche die Wächter durch die Stäbe stießen.
Etwas ratlos standen sich die beiden Krieger mit den Stadtwächtern gegenüber. Das Gitter bildete für beide Seiten eine unüberwindbare Barriere.
„Ist einer von euch ein Kanalwächter? Hat einer von euch einen Schlüssel für das Gitter hier?“, brüllte Fridolin die Stadtwächter an. Diese schüttelten nur den Kopf. „Scheiße!“
Ragnar zählte mehr als zehn Mann, die sich auf der anderen Seite versammelten. Hier würden sie nicht durchkommen.
„Ragnar, was ist hier los?“
„Brecht dieses verdammte Gitter auf! Reißt die Stäbe raus! Und ihr da sorgt dafür, dass alle Ausgänge besetzt werden, ich will diese Kerle!“, der Kopf des Stadtwächters lief hochrot an vor Zorn und Anstrengung, als er an den Gittern riss.
Mehrere Männer ergriffen sofort dieselbe Stange und zogen mit vereinten Kräften daran. Der Mörtel gab nur wenige Augenblicke später nach und die Stange riss aus der oberen Verankerung.
„Lauf!“, rief ihm Ragnar plötzlich zu.
Ahrok wollte noch seine Stiefel und den Lichtquarz greifen, doch der Zwerg riss ihn schon mit sich.
„Zieht weiter Männer! Zieht!“, befahl die Stimme hinter ihnen.

Ahrok rutschte mit den bloßen Füßen über die nasskalten Steine der Kanalisation. Die Dunkelheit hier unten machte ihm jetzt noch zusätzlich zu schaffen. Ohne seinen Lichtquarz stolperte er völlig blind den schweren Schritten des Zwerges hinterher.
Dieser keuchte eine Armlänge von ihm entfernt schwerfällig bei jedem Schritt.
Das Schnaufen war in den ersten Minuten seine einzige Orientierungsmöglichkeit.
Es dauerte eine Weile, aber dann gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er konnte zumindest die Umrisse des Zwerges vor sich erkennen.
„Ragnar, was machen wir jetzt?“, seine Stimme wurde schrill und überschlug sich. Er war körperlich am Ende, unbewaffnet und in dieser Dunkelheit völlig hilflos. Diese verdammten Wächter würden ihn hier unten fertig machen.
„Wir sind jetzt erst mal leise.“ Ragnar hielt nicht an sondern lief immer weiter. Der Zwerg überlegte nicht einmal welchen Weg sie nahmen.
„Du weißt, wo wir lang laufen, oder?“
Ragnar antwortete nicht und bog schon wieder in eine Abzweigung ein.
„Scheiße, du hast keine Ahnung, oder?“
„Ich sagte doch, du sollst ruhig sein!“, der Zwerg drückte ihn an die Tunnelwand und lauschte.
Der Hall der Schritte der Wächter verfolgten sie von allen Seiten, aber es war unmöglich zu erkennen, aus welcher Richtung sie kamen.
Es wurde langsam alles zu viel für ihn. Dem Druck, den er im Moment spürte, konnte er nicht mehr lange standhalten. Die ekelhafte Luft hier unten und der Schlafentzug verschlimmerten das Ganze nur noch mehr.
Zum ersten Mal verlor er wieder diese unerschütterliche Sicherheit, dass alles gut werden würde. Zum ersten Mal seit Langem hatte er nicht mehr die Kontrolle und fühlte sich wirklich wie der Gejagte und nicht mehr wie der Jäger.
Es war ihm, als hätte ihn das alte Leben wieder eingeholt, vor dem er fortgelaufen war.
Die Konsequenzen seiner Taten in den letzten Monaten lauerten in Form der Stadtwächter dort in den dunklen Tunneln und er hatte plötzlich schreckliche Angst, sich ihnen zu stellen.
„Komm weiter.“
Ahrok folgte den Umrissen des Zwerges nur noch zögerlich. Mit einem Mal standen ihm die Tränen in den Augen.
„Bring mich hier raus, Ragnar. Bring mich einfach hier raus.“
Der Valr wirbelte herum und riss ihn zu sich hinab.
„Reiß dich zusammen, Kleiner! Ich bring uns hier raus, so sicher wie der Fels hart und das Wasser nass ist.“
Ahrok schniefte kurz und nickte nur.
„Du glaubst mir doch, oder? Du glaubst mir doch?“
Ahrok nickte wieder.
„Gut. Dann halt den Mund und folg mir. Wir müssen in Bewegung bleiben.“

Fridolin drückte sich den Mundschutz fester vor die Nase. Der widerliche Gestank hier unten war einfach nicht sein Ding. Nicht umsonst hatte der Namenlose die Kanalwächter erfunden.
Männer wie er hatten hier unten nichts verloren.
Er hatte zwei seiner Kameraden losgeschickt, die restlichen Wächter zu alarmieren damit diese alle Ausgänge blockierten, während er selbst mit dem Rest die Verfolgung aufgenommen hatte.
An jeder verdammten Kreuzung musste er die Truppe aufteilen, da es unmöglich war, herauszufinden, welchen Weg die beiden Hurensöhne genommen hatten.
Er hatte keine Karte, keine Orientierung und keine Ahnung, wohin diese verdammten Wege führten. Wo waren nur diese dreckigen Kanalwächter, wenn man sie einmal brauchte?
Sein Verstand sagte ihm, dass er die zwei nie in diesem endlosen Labyrinth finden würde, aber sein Ego wollte sich diesem Wissen nicht beugen. Diese Kerle würden ihn nicht besiegen und wenn er die ganze Nacht und den ganzen Tag hier unten herumlaufen müsste.

Ahrok stöhnte mittlerweile bei jedem Schritt auf. Gesteinsbrocken und die Kanten von kaputten Pflastersteinen hatten ihm die Fußsohlen zerschnitten. Jeder einzelne Schritt wurde ihm damit zur Qual und womöglich war dieser Schmerz auch das Einzige, was ihn davon abhielt, hier auf der Stelle niederzusinken und einfach einzuschlafen.
Die Luft hier unten war so grausam schlecht, dass ihm schwindelig wurde und die wenigen Umrisse, die er hier in der Dunkelheit erkannte, verschwommen zu einem undefinierbaren Nichts.
Der Zwerg trottete immer weiter. Natürlich. Der fühlte sich wahrscheinlich auch richtig heimisch hier unten, wo es dunkel war und abartig stank. Außerdem konnte der ja auch in seinen schönen Stiefeln herumlaufen.
„Hier rein!“, kommandierte dieser ihn jetzt auch noch herum.
Der Valr stieß eine marode Tür auf und zog Ahrok zu sich in den Raum dahinter. Sofort verschloss Ragnar die Tür wieder.
Ahrok stand auf dem körnigen Fußboden und wagte es nicht, sich zu bewegen.
Es war stockfinster hier unten. Nicht einmal der kleinste Lichtstrahl drang in diesen Raum. Er streckte die Arme von sich, konnte aber nichts ertasten.
„Wo sind wir hier, Ragnar?“
„Sch, sein ruhig“, ermahnte ihn der Zwerg sofort.
Ahrok zuckte zusammen und lauschte.
Von vor der Tür drang das leise Plätschern der Suppe an sein Ohr und hier in diesem Raum quiekte und raschelte etwas, aber er konnte weder die klackenden Schritte eines Schattenspinners noch das Scheppern marschierender Stiefel vernehmen.
„Und was nun?“
„Mein Vorschlag ist, dass wir erst mal hier bleiben.“
Ahrok fuhr schon wieder zusammen, als die Stimme des Zwerges plötzlich hinter ihm ertönte. Der Valr schlich hier in diesem dunklen Raum herum und richtete sich wahrscheinlich häuslich ein, während er noch immer langsam tastend irgendeine Orientierung suchte.
Endlich stießen Ahroks Finger an eine Wand.
Der Stein war kalt, moosbewachsen und mit Spinnweben überzogen, aber diese Wand wirkte grad so einladend wie das kuscheligste Bett im „Roten Drachen“.
Ahrok wollte sich gerade hinsetzen, als ihn der Zwerg am Arm ergriff und ihn wieder hoch zog.
„Scheiße, Ragnar, was ist denn jetzt schon wieder?“, fuhr er den Zwerg gereizt an. Dieser Schlafmangel brachte ihn an seine Grenzen. Er gähnte lange und ausgiebig. In dieser endlosen Dunkelheit schlossen sich seine Augen ganz von allein.
„Nichts, mein Junge. Du legst dich aber besser hier drüben hin. Die kleine Familie Nagezahn hätte es dir sicher übel genommen, wenn du dich auf ihr Nest gesetzt hättest.“
Ahrok hörte die Worte zwar, aber ihre Bedeutung drang schon nicht mehr bis zu ihm durch.
Er legte sich an die Wand, vor die ihn Ragnar gestellt hatte und als er noch überlegte ob es sicher war hier zu schlafen, während die Stadtwache da draußen nach ihnen suchte, nickte er auch schon ein.

Kaum hatte er den Jungen an der Wand abgesetzt, zeugte auch schon sein langsamer, monotoner Atem davon, dass Ahrok in einen festen Schlaf gesunken war.
Bei den Schnittwunden an seinen Füßen konnte es hier unten im Dreck recht gefährlich für den jungen Menschen werden. Er brauchte diese Ruhe dringend.
Ragnar schürzte die Lippen. Wem machte er denn hier etwas vor? Er hatte nicht wegen des Jungen hier angehalten. Seine eigenen Kraftreserven waren es, die seit Stunden völlig ausgeschöpft waren.
Was auch immer diese Echse mit ihm gemacht hatte. Es zeigte rasch seine Wirkung.
Sein Herz schlug schneller als gewöhnlich, sein Atem ging flacher und schneller und außerdem schwitzte er wie ein Svîn trotz der ganzen Kälte hier unten.
Schon wieder kratzte er unbewusst an den nässenden Wunden.
Für den Augenblick waren sie in diesem kleinen Unterschlupf sicher. Solange man sie nicht mit Hunden verfolgte oder eine ganze Armee hier hinunter schickte, würde man sie höchstens durch Zufall entdecken.
Er schüttelte den Kopf. Noch vor ein paar Monaten hatte er die Stadtwächter angefleht eine Armee hier her zu schicken und jetzt endlich war es wohl soweit. Nur jagte man jetzt sie, statt einen Invasionstrupp hasserfüllter Echsen.
Verdammtes Pech.
Sich gegen die Stadtobrigkeit aufzulehnen, auch wenn es nur Menschen waren, verstieß gegen jegliche Erziehung, die sein Vater ihm einzubläuen versucht hatte.
Selbst ein Valr stand nicht über dem Gesetz, auch wenn der Stand eines Toten ihm gewisse Freiräume ließ. Die meisten Verfehlungen sah jeder Zwerg einem Gefallenen nach. Ganz einfach weil ihre Lebensart keinen Spielraum für Etikette, Bildung oder auch nur Freundlichkeit zuließ.
Sie alle hatten ihren Eid geschworen, hatten sich vor den Augen der ganzen Welt geächtet, um in den Augen der Ahnen Vergebung zu finden.
Die meisten Gefallenen schafften es ohnehin kaum über das erste Jahr hinaus. Nur die besonders guten Streiter oder die ungewöhnlich feigen lebten fünf oder zehn Jahre über ihren Eintritt in die Legion hinaus.
Bei ihm waren es mittlerweile über zwanzig.
Er war erstaunt, dass er trotz der Unmengen Gift, die er tagtäglich beinahe literweise in sich hineinschüttete, sich noch daran erinnern konnte.
Zwanzig Jahre…
Was sagte das über ihn aus? Hatte er es wieder versaut? Hatte er sich nicht genug bemüht, seinen guten Tod zu finden?
Er hatte trainiert - unter den Besten, um der Beste zu werden und um Erwartungen zu erfüllen, die Personen an ihn stellten, die schon lange nicht mehr lebten. Aber… so gut war er nicht. So gut war niemand. Selbst die heroischsten Valr, altgediente Veteranen und erfahrene Kämpfer jenseits seiner Begabung, schafften es selten bis zu ihrem zehnten, großen Kampf, also blieb nur die eine Möglichkeit.
Er war immer noch derselbe, er war immer noch Ragnar der Feigling.
Er klammerte sich immer noch an dieses dreckige Leben, das er schon vor langer, langer Zeit hätte verlassen müssen.
Ragnar lehnte sich an die Wand und massierte seine Stirn so hart, dass es wehtat.
Sein Fortgang aus der Heimat war nur ein weiteres Zeichen dafür gewesen. Natürlich hatte er die Blicke gesehen und das spöttische Grinsen bemerkt.
Die ersten Jahre hatte man ihn einfach nur für außergewöhnlich gut und kampfgestählt gehalten, aber dann… kein Valr lebte so lange, zumindest keiner, der es ernst mit seinem Eid meinte.
Deshalb war er gegangen. Nicht, um besonders mächtige Monster an der Oberfläche zu finden. Nicht, um Dämonen zu jagen, die in der tiefen Welt nahezu ausgerottet waren. Er war gegangen, um sich nicht mehr den fragenden und anklagenden Blicken stellen zu müssen.
Hier oben war er nämlich nur einer von den wenigen Zwergen, die ihr Glück außerhalb der tiefen Heimat suchten.
Die Meisten sahen in ihm nur einen seltsamen Zwerg und diejenigen, die ihn tatsächlich als Gefallenen erkannten, die assoziierten sofort die schrecklichsten und großartigsten Eigenschaften dieser Legende mit ihm.
Valr – die größten aller zwergischen Kämpfer, Grundstein etlicher Legenden, todesmutig und immer an vorderster Front, ein Wirbelwind des Todes, durch nichts aufzuhalten. Schlug man ihnen Arme und Beine ab, dann bissen sie ihre Gegner eben zu Tode. Sie waren Bestien, die man für ihren unvernünftigen Mut bewunderte und für ihre restlichen Charakterzüge verabscheute oder fürchtete.
Das Lebenslicht eines Valr war keine Kerze oder Fackel sondern es war die Explosion eines Pulverfasses. Laut und hell und gleißend. Für jedermann sichtbar, aber doch so schnell erloschen.
Er kratzte schon wieder an seinen Wunden.
Wohin waren seine Gedanken nur gewandert?
Er brauchte Ruhe… er brauchte Schlaf… er war am Ende.

Es war sein knurrender Magen der Ahrok weckte.
Ihm war kalt und seine Schultern waren hart und verspannt. Etwas Kleines huschte plötzlich von ihm fort, als er sich erhob. Es war so widerlich dunkel hier unten, dass er nicht einmal versuchte das Ding zu erkennen. Er ertastete die Umgebung um sich herum.
Die kleinen, runden Dinger waren Mäuseköttel, das nasse, flauschige Zeug war Moos und der Geruch, der ihn die ganze Zeit beschäftigte, erinnerte ihn seltsam vertraut an vermodertes Getreide.
Jetzt, da er ausgeruht war, war auch seine Furcht verschwunden.
Er hatte weder Schuhe noch Licht noch eine Waffe, aber… Ragnar würde sie hier schon herausbringen.
Der Zwerg schien nicht zu schlafen, denn er hörte kein Schnarchen.
„Ragnar?“
Außer dem leichten Echo in diesem Raum kam keine Antwort.
Ahrok lehnte sich an die kalte Wand. Was taten sie hier? Er hatte keine Ahnung wie spät oder auch nur welcher Tag heute war.
Hier in der Dunkelheit lauerten abscheuliche Bestien und Stadtwächter. Das Schlimme daran war, dass ihm sowohl die Einen als auch die Anderen ans Leder wollten.
Erneut knurrte sein Magen, aber er würde keinen Schritt ohne den Zwerg unternehmen. Er konnte sich nicht im Geringsten an den Weg erinnern, der sie hierher geführt hatte, noch hatte er eine Ahnung wo sich hier ein Ausgang befand.
„Ragnar?“
Ahrok legte den Kopf schräg und lauschte angestrengt.
Nur eine Armlänge von ihm entfernt vernahm er dann plötzlich leise Atemgeräusche.
Konnten das die Mäuse sein?
Ahrok tastete sich in die Richtung vor, aus der die Geräusche kamen.
Erst waren nur Steine und Mäusekot unter seinen Fingern, dann kamen verfilzte Haare und Sabber. Er hielt kurz inne bis sich die schreckliche Vorstellung von einer Maus gelegt hatte, die in etwa die Größe seines Armes hatte.
Ahroks Finger glitten weiter die Haare entlang, bis sie auf eine schon sehr oft gebrochene Knubbelnase stießen. Das konnte nur der Zwerg sein. Er ließ den angehaltenen Atem entspannt entweichen.
Ragnar war also doch nicht verschwunden. Er schlief nur seltsamerweise extrem leise hier unten. Vielleicht lag es daran, dass er als Zwerg in solchen Tunneln zu Hause war. Vielleicht bekam ihm nur die Luft der Oberfläche nicht.
Zufrieden kroch Ahrok wieder zurück an seinen Schlafplatz. Die Steine dort waren zumindest schon etwas angewärmt. Hunger und Durst meldeten sich erneut, aber er ließ dem Valr seinen Schlaf. Dieser musste schließlich voll auf der Höhe sein, wenn er sie hier hinausführen wollte.
Er lehnte sich wieder an die Wand und schloss die Augen.
Wären da nicht seine schmerzenden Füße, der Hunger oder dieser schreckliche Durst, dann hätte er wahrscheinlich wieder ein paar Stunden schlafen können. So wanderten seine Gedanken nur wild und ungezielt umher.
Natürlich begann alles bei Sandra.
Sie spukte noch immer in seinem Kopf herum. Sorgte dafür, dass er sich aufregte und sich mies fühlte. Der würde er es schon noch zeigen. Wenn er erst einmal den Ruhm und das Gold bekam, welches ihm schon lange zustand, dann würde sie schon ihren Fehler erkennen.
Er war das Beste, was diesem einfältigen Schankmädchen hätte passieren können, aber nein. Die dumme Frau war ja so gefangen in ihrer kleinen, engstirnigen Welt von Häuslichkeit und Sicherheit, dass sie gar nicht erkannte, was für ein toller Hecht ihr da entging.
Noch dazu sah er gut aus. Ja verdammt, einen solch herrlich trainierten Körper konnten nun wirklich nicht viele Männer vorweisen.
Dafür musste man richtig hart arbeiten. Hart, pff, hart war gar kein Ausdruck für das, was ihm Sigurd und seine Zwergenbande antaten. Es war unmenschlich. Hm… unmenschlich… was für ein seltsames Wort. Natürlich war es unmenschlich, schließlich waren das ja Zwerge. War es aber auch unzwergisch? Oder unzwerglich? Er würde Ragnar fragen, wenn der wieder wach war. Der musste so was ja wissen. Ragnar wusste schließlich eine ganze Menge. Ja, der Zwerg wusste sogar ungewöhnlich viel von den Geschehnissen auf der Welt. Der hatte sicher so seine Geheimnisse.
Dieser Valr-Kram zum Beispiel.
Ragnar sprach nie darüber und brach jedes Gespräch ab, das auch nur in die Nähe von Hammerfels und seinen Schandtaten zu kommen drohte. Wahrscheinlich hätte Ahrok selber aber auch keine Lust ständig über die eigenen, schlimmsten Erinnerungen zu reden.
Seine Kindheit zum Beispiel. Da war… hm… so auf die Schnelle fiel ihm gar nichts ein. Er hatte immer so oft über seinen Vater und seine eigene, erbärmliche Rolle in dieser Familie geschimpft, aber jetzt fiel ihm kein schrecklicher Moment ein.
Er dachte angestrengt nach.
Es musste doch hunderte dieser schlimmen Erinnerungen geben.
Sein Vater war ein schlechter Vater gewesen, jawohl! Er hatte ihn unterdrückt. Er hatte ihn immer nur von Arbeit zu Arbeit gescheucht. Nie hatte er mit den tollen Waffen spielen dürfen. Nie! Er hatte lernen müssen, wie man ein Feld bestellt und Getreide mäht und drischt. Er hatte die Tiere versorgen und darauf achten müssen, dass der Haushalt sauber und vollständig war. Nun ja, der Haushalt… der Haushalt war nie sonderlich sein Ding gewesen.
Die Schweine hingegen waren lustige Gesellen.
Besonders Mäxchen hatte sich immer gefreut, wenn Ahrok auf ihm geritten war. Ja… die Schweine… was war wohl aus denen geworden? Ach, Schweine waren schlaue Biester, die kamen schon über die Runden auch ohne ihn oder seinen Vater.
Sein Vater… Sebastian hatte bei ihrem letzten Treffen erwähnt, dass ihr Vater schwer verletzt worden war. Wahrscheinlich sogar tödlich verwundet.
Nun war er wohl tot… tot…
Zum ersten Mal seit Langem bereitete ihm dieser Gedanke Unbehagen. Er hatte bei Mia trainiert, um dem Alten und seinem Bruder zu beweisen, was für ein toller Kämpfer auch in ihm stecken würde, aber das war nun vorbei. Da war keiner mehr, der seine Fortschritte bestaunen konnte.
Sein Bruder wusste von ihm nur, dass er in einem Gefängnis auf seine Hinrichtung wartete und sein Vater war nicht mehr. Alles umsonst.
Ganz toll. Das hatte er ja wieder wunderbar hingekriegt.
Warum war er nur immer so ein verdammter Verlierer?
Nichts, was er anpackte, wollte ihm gelingen. Selbst sein Heldentum war nur ein schlechter Witz.
War doch eh alles Scheiße.
Etwas raschelte neben ihm und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder in sein kleines, dunkles Gefängnis.
„Ahrok?“
Der Zwerg war also endlich wach. Dann konnte es ja weiter gehen.

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Svîn - Schwein
 
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Kommentare  

Danke Ingrid, Heart, Jochen und Petra für die Kommentare. Mir gefällt dieses Kapitel nämlich noch nicht wirklich, aber ich kann nicht den Finger drauflegen wo ich genau die Schwachstelle sehe... daher find ich es beruhigend, dass es euch zumindest gefallen hat.

Immer wieder danke.


Jingizu (16.10.2010)

Oh, so kennt man Ragnar und Ahrok noch gar nicht, aber das ist sehr echt. Du konntest dich gut in deine beiden Helden einfühlen. So müsste es ihnen in solch einer Situation wirklich gehen. Schön, dass sie noch nicht gefunden sind, aber das mit den Rattenkegeln war ziemlich eklig - Bäh! Ein Zeichen dafür wie verflixt gut du schreiben kannst.

Petra (15.10.2010)

Wieder ein mir völlig unbekanntes Kapitel und mal etwas ganz anderes. Ahrok und Ragnar kamen mir durch ihre Gedanken sehr nahe.

Jochen (15.10.2010)

Ja ich finde Zwerge doch total niedlich :O) Finde ich auch spannen

Heartless Heart (15.10.2010)

die sind ja mächtig frustriert, die beiden. der trunk- und todessüchtige zwerg und ahrok, der das heldenleben wohl nicht mehr so doll findet, zumindest im moment... sehr guter teil, psychologisch und spannend zugleich. ;)

Ingrid Alias I (15.10.2010)

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