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15 Seiten

Acht Jahre

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Experimentelles
Ein kleine Kurzgeschichte zum schwierigen Thema „Situative Homosexualität“, die immer noch erforscht wird. Glücklicherweise gibt es ein paar Artikel, auf die ich mich stützen kann, aber der Rest ist Auslegungssache.
Leider habe ich hier nicht die Möglichkeit, via Layout die Zeitsprünge herzuheben. Aber ich hoffe, der Wechsel gelingt dennoch.


Acht Jahre

--->Er ist nicht schwul. Ist es nie gewesen. Er ist kein warmer Bruder, kein Schwanzlutscher oder ein Bubi, der seinem Macker devot den Arsch hinhält.
Er ist ein Mann, der Frauen begehrt. Rassige Frauen mit umwerfenden Kurven und weichem Gewebe, in das man lüstern die Finger graben kann. Er hat Frauen getroffen, deren Hüftschwung tödlicher als eine Maschinenpistole ist Einige von ihnen hat er besessen. Nie genug – genug gibt es nicht -, aber ausreichend, um sich für einen erfahrenen Mann zu halten.
Dem eigentümlich erregenden Duft in der Beugung unter der Brust einer Frau ist nichts entgegenzusetzen. Oder dem Anblick sich lösender Haare auf nach Bodylotion duftender Haut. Oder dem Gefühl der Macht, wenn man sie am Nacken fasst und aufs Bett schubst; sie auf allen Vieren vor sich knien sieht und sich fühlt wie der Steinzeitmensch in seiner Höhle.
Beute! So verdammt scharf, seinen Ständer in die nasse Öffnung zu rammen und sich von allen Seiten verwöhnen zu lassen. Er liebt es schnell und hart; fast rücksichtslos. Vielleicht hat er nicht jedes Mal Rücksicht auf die Mädchen genommen. Vielleicht hat es die ein oder andere gegeben, die nicht zufrieden mit ihm gewesen ist. Zugegeben, Mühe hat er sich nicht immer gegeben. Besonders dann nicht, wenn er mit jeder Zelle seines Körpers auf den eigenen Genuss fixiert war.
Wie gesagt, er ist nicht schwul. Der Gedanke an Frauen erregt ihn. Er vermisst sie, er braucht sie, er träumt von ihnen.
Und trotzdem liegt er jetzt im Arm eines nackten Kerls und findet die Vorstellung, ihn zu verlieren, widerlich verstörend.<----

Eine Ironie des Schicksals sorgte dafür, dass der Morgen, an dem er der Welt Lebewohl sagen musste, einen dieser berauschenden Frühlingstage einläutete. Tage, an denen der innere Dachs gähnend aus seinem Bau kriecht und die Schnauze in den Wind hält, weil er die warme Jahreszeit in den Gliedern jucken spürt. Es war ein Tag, der dazu prädestiniert schien, das Bike aus der Garage zu schieben und sich aufopferungsvoll darum zu kümmern. Verchromte Teile polieren, den Sattel reinigen, die Reifen wechseln, den Motor auf Herz und Nieren prüfen. Und dann mit 125 PS über die kurvigste Landstraße brettern, die man sich wünschen konnte.
Kyle wusste, dass sein Bike verdammt lang auf ihn warten musste. Vielleicht würde sein Bruder es verticken, während er fort war. Vielleicht würde er damit einen Unfall bauen oder es verhökern, weil seine Spielsucht durchbrach. Wer konnte das schon sagen? Kyle konnte nur das Beste hoffen, denn die Dinge lagen nicht mehr in seiner Hand – und das hatte er sich selbst zuzuschreiben.

Das Gebäude erinnerte ihn an Mad Max. Verstaubt ruhte es in seinem Bett aus roter, trockener Erde. Es hätte Kyle nicht gewundert, wenn er auf den nahen Felsformationen Aasgeier entdeckt hätte.
Die Halbwüste Arizonas war kein Ort, an dem man sich ein Häuschen bauen wollte. Zu trocken, zu trostlos, zu staubig. Das mochte der Grund sein, warum man in dieser von Gott und Satan verlassenen Ödnis ein Gefängnis aus dem Boden gestampft hatte.
Weil kein anderer hier leben wollte.

Er fürchtete sich nicht vor dem Knast. Er hatte gesunden Respekt vor ihm. Das Bedauern, das Kyle angesichts der mit Stacheldraht geschützten Mauern empfand, fußte nicht in Reue. Viel mehr ärgerte er sich, dass er erwischt worden war und dass es den Jungs gelungen war, ihm alles anzuhängen, was sie über die Jahre gemeinsam verzapft hatten.
Begonnen hatten sie als Straßengang, die Handtaschen kassierte und Zigarettenautomaten aufbrach. Über die Jahre hatten sie an Finesse gewonnen, waren zu einer Größe in ihrem Bezirk geworden und hatten gutes Geld verdient. Was blieb einem anderes übrig, wenn die Stadt um einen herum verfiel, weil die wichtigsten Industriezweige ersatzlos in sich zusammenbrachen? Sie hatten alle keine Arbeit gehabt. Kyle hatte nicht einmal die Schule beendet.
Sie. Gene, Dave, Malcom, Kat, Jazz und er. Sie, nicht er!
Doch er war der Einzige, der in den Bau ging. Nur Kat war bei ihm gewesen, als die Bullen ihren Treffpunkt hinter der alten Fabrikhalle hochnahmen. Und ihr war es gelungen, sich meisterhaft aus der Affäre zu ziehen. Vermutlich hatte sie dem diensthabenden Officer einen geblasen. Sähe ihr ähnlich.

Als sich die Stahltüren hinter Kyle schlossen und ein Wärter gröber als nötig an seinen Armen riss, um die Handschellen zu öffnen, wurde ihm unerwartet die Brust eng.
Ein fremdartiger Geruch waberte ihm durch den zu engen, zu stark ausgeleuchten Gang entgegen – eine Mischung aus verkochtem Kohl, schlampig gereinigter Sanitäranlagen und Holzspänen. Kyle fühlte sich an den Ausflug erinnert, den er als Kind mit der Schule gemacht hatte. Das Schulheim, in dem seine Klasse abstieg, hatte ähnlich gerochen.
Acht Jahre lang der Gestank von Kohl und Kerlen, die neben die Schüssel pissten?
Fuck!
Kyle erwischte sich dabei, dass er sich umschaute und die Tür Richtung Freiheit in seinem Rücken Kraft seines Geistes zu durchbohren suchte. Er scheiterte, und das blöde Grinsen der Wachmänner gab ihm einen Vorgeschmack darauf, was er in den nächsten Jahren von ihnen zu erwarten hatte: nicht viel.

--->Es ist keine Schwäche, sagt er sich.
Es ist lediglich der Versuch, das Beste aus der Situation zu machen. Sie sind alle nur Männer und die eigene Hand kann keinen anderen Körper ersetzen. So stoisch man auch wird, wenn man sich an den Alltag im Knast gewöhnt hat, so widerwärtig sind die Nächte. Es grunzt und schnarcht und rülpst von allen Seiten. Und es stöhnt. Flüstert.
Er hat es akzeptiert. Sie helfen sich aus. Daran ist nichts zu finden. Wer sechs Monate mit dicken Eiern herumgelaufen ist, weiß die helfende Hand eines Kumpels irgendwann zu schätzen.
Nicht alle lassen sich darauf ein. Er hat es getan. Warum nicht? Weil Gott nichts vom Gefummel der Männer untereinander hält? Von einem Gott, der ihn im Elendsviertel einer sterbenden Stadt auf die Welt schicken musste, lässt er sich nichts sagen. Mitspracherecht verwirkt. Herzlichen Dank und zieh Leine.
Die Hand in seinem Rücken ist warm. Sie liegt auf der Wölbung zu seinem Hintern. Manchmal stiehlt sich ein Finger in den Spalt und streichelt ihn träge. Ziellos, geistesabwesend. Als wolle die Hand sich davon überzeugen, dass er da ist.
Fleischbeschau. Es kümmert ihn nicht, denn er hält es nicht anders. Auch er greift zu, wenn ihm danach ist. In den letzten Monaten kommt es häufiger vor.
Die Zeit verrinnt. Er denkt ungern daran, aber das bedeutet nicht, dass er schwach ist.<---

Schon am ersten Abend lernte Kyle die Hausregeln kennen.
Nicht die Regeln der Offiziellen, die für alle Sträflinge galten und die zu ihrer vermeintlichen Besserung beitragen sollten. Nein, es ging um den Kodex der Männer untereinander. Um das ungeschriebene Gesetz der Prärie, die sich Staatsgefängnis schimpfte.

Als sie ihn in der Dusche unter das eiskalte Wasser drängten, erinnerte Kyle sich an die Geschichten, die sein älterer Bruder Josh ihm vom Gefängnis erzählt hatte. Viele gute Ratschläge hatte er ihm geben wollen. Von Rangordnungen hatte er gesprochen, von Fehlern, die er zu vermeiden hatte, wenn er verhindern wollte, dass sein Alltag zur Hölle auf Erden wurde.
Aber als sie ihn von Mann zu Mann schubsten, konnte Kyle sich nicht an Joshs Geplapper erinnern. Er hatte ihm eh kaum zugehört. Solange er zurückdenken konnte, war sein Bruder nur eine Handbreit vom Schwachsinn entfernt gewesen. Ihr Dad hatte mal behauptet, es wäre die Schuld ihrer Mutter, weil sie während der Schwangerschaft mit Josh Crack geraucht hatte.
Er sah ihr Gesicht vor sich, als sie ihm die erste Lektion erteilten. Wo sie wohl heute war?

Ein paar Mal krachte Kyle schmerzhaft mit den Schultern gegen die gekachelten Wände. Hier und da zielte ein Knie auf seinen Unterleib, eine Faust auf seinen Kiefer.
Mehr taten sie ihm fürs Erste nicht an. In ihrem Gefängnis waren keine ausgewiesenen Gewaltverbrecher untergebracht. Es waren Leute wie er. Josh. Dave.
Hehler, Diebe, Einbrecher, Drogendealer, Betrüger, Kleinganoven und Handlanger von größeren Fischen. Keiner hier war von Haus aus ein Killer oder Vergewaltiger.
Doch während sie Kyle systematisch zerlegten, fragte er sich, ob der Knast bei einigen nicht auf dem besten Wege war, ihre letzten Hemmschwellen zu torpedieren und für immer zu zerstören.

Drei Dutzend Blutergüsse später wusste er, dass die Jungs ihre eigene Hackordnung hatten, in die ihnen das Personal nicht reinquatschte, und er ganz unten stand. Er war ein Niemand. Er musste sich erst einen Namen verdienen – vorzugsweise ohne sich allzu viele Feinde zu machen -, bevor er mit den Wölfen heulen durfte.
In Ordnung, sagte Kyle sich. So weit kein Problem. Er würde sich schon durchsetzen, wenn sie ihm eine Chance ließen.

Eine gute Woche später wusste er, dass viele gar nicht wollten, dass er zu ihnen gehörte. Die Gründe waren simpel: Im Mikrokosmus des Gefängnisses gab es Männer, und es gab Mädchen. Da kaum ein Mann ein Mädchen sein wollte, herrschte großer Mangel an willigen Stuten.
Die Hierarchie war ebenso einfach wie effektiv: Wer fickte, hatte etwas zu sagen. Wer sich rannehmen ließ, nicht.
Deshalb wehrte sich Kyle, wenn einer der bulligen Carlson-Brüder in der Wäscherei hinter ihm auftauchte und ihm an den Hintern fasste.
„Ich werd's dir besorgen, Kleiner“, wurde ihm versprochen. „Du magst ein schlauer Fuchs sein, aber du bist zu schwach für diesen Laden hier. Früher oder später nehme ich mir, was ich haben will.“
Ein halbes Dutzend Männer waren es, die Kyle eifrig verkündeten, dass sie ihn durchnehmen würden. Gegen seinen Willen wenn nötig. Und er hasste den Gedanken, dass er sich nicht dagegen zur Wehr setzen konnte.
Kyle war kein Mann, der sich gegen zwei Kleiderschränke von Kerlen behaupten konnte. Auf der Straße hatte er sich mit seinem Messer Respekt verschafft, aber daran war hier nicht zu denken. Selbst der Verbleib des Essbestecks wurde streng überprüft. Der Vollzug war zu locker, um sich Schutz von den Gittern seiner Zelle zu erhoffen. In gewissen Stunden standen alle Türen auf ihrem Flur offen und sie konnten sich zusammen in den Flur setzen, um Karten zu spielen. Oder eben eine Pritsche belagern und vögeln.
Das Wachpersonal kümmerte sich nicht darum.

In diesen ersten Wochen schlief Kyle wenig. Die anderen Männer machten sich einen Spaß daraus, sich laut darüber zu unterhalten, wie sie ihn mürbe kochen wollten. Er war ihr Prügelknabe und erwischte sich dabei, dass er auf baldige Neuzugänge hoffte, damit sie das Interesse an ihm verloren. Damit sie ihm nicht mehr zwischen die Beine griffen, wenn sie beim Essen saßen.
Er lernte die Angst kennen. Dass er keine Lust auf eine Vergewaltigung hatte, verstand sich von allein. Aber vor allen Dingen fürchtete er sich davor, in acht Jahren entlassen zu werden und HIV-positiv zu sein. Er wagte zu bezweifeln, dass der Staat Arizona Kondome an seine Häftlinge ausgab.
Kyle erwischte sich beim Rechnen. Er war 27 Jahre alt. Wenn er Glück hatte, war er mit 33 draußen. Falls er sich dumm anstellte, erst mit 35. Ein alter Mann. Ein alter Mann, der seinen Mitsträflingen den Arsch hingehalten hatte.
Die Vorstellung widerte ihn an. Er erwischte sich dabei, dass er einer unbekannten Macht dankte, dass er seine Zelle zurzeit allein bewohnte und nachts vor Übergriffen sicher war.

--->Die Gitterstäbe, der Stacheldraht, der fremdbestimmte Tagesablauf, die Konflikte unter den Männern haben ihn nicht verändert. Er glaubt nicht daran. Vielleicht ist er reifer geworden. Vermutlich ist es die Zeit, die ihre Magie entfaltet und ihn sich fragen lässt, was werden wird. Er weiß mittlerweile, dass es einen Neuanfang braucht. Wenn er erst wieder ein freier Mann ist, will er nie wieder in die verdammte Enge des Knasts zurückkehren. Er hat genug.
Man könnte sagen, dass er seine Lektion gelernt hat. Er ist müde geworden – und er baut auf Alternativen. Gleichzeitig ist er sich recht sicher, dass er versagen wird.
Komisch, früher hatte er nie das Gefühl zu versagen, nur weil er Drogen verkaufte. Heute fragt er sich, wie viele Kids er auf dem Gewissen hat. Kein Wunder. Heute bekommt er sein Essen regelmäßig auf den Tisch, ohne krumme Dinger drehen zu müssen. Ein leerer Bauch schreit lauter als die Stimme des Gewissens.
Er hat Dreiviertel der Haft hinter sich – und manchmal gibt es Tage, an denen er sich mit seinem Leben hinter Gittern arrangiert hat. Er gesteht sich nicht gerne ein, dass es die gemeinsamen Stunden auf der Pritsche sind, die seinen Quell der Kraft bilden.
Aber es fühlt sich gut an. Sein rechtes Ohr ist heiß, weil es seit einer Ewigkeit auf nackter Haut klebt. Sie nähern sich den Morgenstunden und in den umliegenden Zellen herrscht Ruhe. Endlich. Er genießt und er schämt sich nicht dafür.
Nein, er hat sich nicht verändert.<---

Dan änderte alles.
Kyle hatte ihn stets als ruhigen Typ im Hintergrund wahrgenommen. Entsprechend verwundert war er, als er sich im dritten oder vierten Monat seiner Haft zwischen Toilette und Wand eingequetscht wiederfand. An den Putz genagelt von Dans muskulösem Oberkörper.
Kyle hatte Angst. Bisher war ihm eine regelrechte Vergewaltigung erspart geblieben, aber die Situationen, in denen man ihn zusammengetreten und anschließend über ihm onaniert hatte, hatten ihm gereicht. Von der einen Gelegenheit, bei der einer der Insassen ihn gezwungen hatte, ihn zu blasen, ganz zu schweigen.
Das eigentliche Procedere war weit weniger schlimm gewesen als die Erniedrigung, die damit einherging. Es war kein Spaß, gegen seinen Willen den Schwanz eines Kerls im Hals zu haben; besonders, wenn der rau zustieß und sich nicht um Kleinigkeiten wie Kyles Würgereflex scherte. Aber man konnte damit leben. Zähneputzen, duschen, die Kleidung wechseln. Damit war es gut.
Mit der Demütigung hinter den Übergriffen kam Kyle weit weniger zurecht. Sie laugte ihn aus. Sie traf ihn. Sie sorgte dafür, dass er sich verloren fühlte und nicht wusste, ob er den Knast überstehen würde. Früher hatte Kyle sich für einen von den Starken gehalten. Das Gefängnis lehrte ihn, dass er höchstens in der Mittelklasse spielte.

Dans Finger umklammerten sein Kinn und zwangen Kyle, ihn anzusehen. Aus schmalen Augen wurde er gemustert und hasste sich dafür, dass er vor Anspannung bebte.
„Es gibt eine Möglichkeit, sie loszuwerden“, raunte Dan plötzlich. Kyle fiel auf, dass er ihn vorher kaum einmal hatte sprechen hören. Eine angenehme Stimme, zu freundlich für die Umgebung und zu herzlich, um nicht aufgesetzt zu sein. Kyle traute ihr nicht.
Dennoch lauschte er, als Dan ihm die erweiterten Spielregeln erklärte; nicht zuletzt, weil er sich nicht rühren konnte.
Das ungeschriebene Gesetz des Baus sah vor, dass kein Mann das Eigentum eines anderen beschmutzen durfte. Die Stuten wurden in Freiwild und Besitz unterteilt. Freiwild stand jedem zur Verfügung, dem es gelang, es zu bändigen und auf den Boden zu werfen. Besitz hingegen stand unter dem Schutz des Eigentümers.
Und Dan wollte wissen, ob Kyle bereit war, sich in seine Hände zu begeben. Ihm zu Verfügung zu stehen und dafür die Sicherheit zu erlangen, dass er nie vergewaltigt werden würde.

Für diese Anmaßung rammte Kyle das Knie nach vorn und rannte, während Dan sich krümmend zu Boden sackte.

--->Menschliche Bedürfnisse sind ein zweischneidiges Schwert. Wer keine hat, ist praktisch tot. Wer zu viele hat, quält sich.
Er würde nicht sagen, dass er die Nähe braucht. Er nimmt sie entgegen und gibt sie zurück. Er mag es, nachts nicht allein zu schlafen. Er wird es vermissen, dass eine Hand nach ihm greift und dazu ansetzt, die Trostlosigkeit umzuwandeln.
Er liegt auf der Seite. Sein Kopf ruht auf seinem eigenen Arm, der inzwischen eingeschlafen ist. Bewegen mag er sich dennoch nicht. Es ist zu eng. Gleichzeitig weiß er nicht, ob er abrücken würde, wenn die Pritsche breiter wäre. Vermutlich nicht.
Sie sind sich vertraut. Er kennt den Mann hinter sich besser als jede Freundin, die er in seinem alten Leben hatte. Es tut gut, bei ihm zu sein, und zu spüren, dass die Einsamkeit keine Macht über ihn erlangen kann. Dass er nicht allein leidet, dass er einen Ansprechpartner hat. Und klar, es tut gut, dass sie sich in den Armen liegen und die Köpfe zusammenstecken können, wenn es hart auf hart kommt.
So wie neulich, als Frank sich mit seinem Bettzeug aufgehängt hat. Den Anblick des nach Urin stinkenden Toten mit den hervorgequollenen Augen wird er nicht so schnell vergessen.
Danach war es wichtig, nicht für sich allein zu sein.
Aber es kann keine Rede davon sein, dass er die Nähe braucht. Nein, nicht wirklich.<---

„Wie sieht der Deal aus?“, fragte Kyle ein paar Wochen später herausfordernd.
Er stand in der Tür zu Dans Zelle und hatte sich stolz aufgerichtet. Er war kein Lamm, das zur Schlachtbank ging. Er war ein Mann, der eine Entscheidung gefällt hatte. Seine Arme lagen oberhalb des Kopfes am Gitter, das linksseitig mit einem Tuch abgespannt war. Er hatte sich nie gefragt, warum es Dan erlaubt war, einen Teil seiner Zelle abzuschirmen. Privilegien kamen und gingen. Die Wachleute waren bestechlich.
Dass Kyle vor innerer Anspannung zitterte, sah man ihm nicht an. Dabei hatte er gerade erst eine Begegnung hinter sich, die ihm deutlich gemacht hatte, dass Dans Angebot nicht schlecht gewesen war. Der Gringo, wie er sich nennen ließ, hatte ihn beim Hofgang erwischt. Seine Kumpels hatten das unfreiwillige Paar abgeschirmt, als Kyle sich ohne Hoffnung auf Rettung mit Tritten und Hieben verteidigte. Er biss in Gringos Unterarm, aber das hatte nur eine Reihe Faustschläge zur Folge. Sein Overall hing bereits in seinen Kniekehlen, als ein Ausruf die Häftlinge stoppte.
Der junge Aufseher mit dem tätowierten Hals, der sich seinen Idealismus bewahrt hatte, hatte eingegriffen und Kyle gerettet. Für dieses Mal.

Dan richtete sich von seiner Pritsche auf. Es sprach für ihn, dass er kein Wort über den Tritt verlor, den Kyle ihm verpasst hatte. Sie musterten sich eine Weile. Dan war ein sportlicher Typ und pflegte sich. Wer seine kühle Fassade durchdrang, stieß auf freundliche Augen und einen Mund, der sich zu einem feinen Lächeln hob, wenn Dan amüsiert war. Es gab schlimmere Kandidaten als ihn.
Dan fixierte ihn schweigend, sprach kein Wort. Kyle wurde nervös. Hatte er das Interesse an ihm verloren? Fuck, das wäre nicht gut. Gar nicht gut.
Schließlich machte Dan sich wieder lang, streckte sich aus und erklärte der Decke stoisch: „Du stellst mir deinen Hintern zu Verfügung. Wann immer ich Lust darauf habe. Dafür wird kein anderer dich anfassen und ich sorge dafür, dass du es nicht bereust.“
„Nicht bereuen?“, fragte Kyle laut und wiederholte in seinem Kopf unermüdlich das Mantra, dass er auf keiner Viehauktion war.
Dan neigte den Kopf und grinste ihn an: „Schon mal einen Blowjob von einem Mann bekommen?“
„Nein.“
„Dann lass dich überraschen. Oder machst du einen Rückzieher?“

Es war verführerisch, aber nein, tat er nicht. Schweigend trat Kyle einen Schritt in die Zelle. Dans Augen leuchteten auf. Es war nicht zu übersehen, dass ihm die Situation gefiel.
„Bist du geduscht?“, wollte er wissen, als er sich träge auf die Bettkante setzte.
Kyle mochte die Frage. Sie zeugte davon, dass Dan kein Ferkel war. Er nickte.
„Dann komm her.“

Es erwies sich als weniger schlimm, als er befürchtet hatte. Kyle war dankbar für den Vorhang, der den direkten Blick auf die Pritsche verwehrte. Dennoch zweifelte er nicht daran, dass die anderen Insassen auf dem Flur mitbekamen, was vor sich ging.
Es war das vielleicht merkwürdigste Erlebnis seines Lebens. Man musste Dan zugutehalten, dass er sich Mühe gab. Er tat sein Möglichstes, um Schmerzen zu vermeiden, und ließ sich Zeit mit ihm. Erregend war die Situation für Kyle nicht. Erst, als Dan sich wie versprochen seiner annahm, stellte er fest, dass es mit geschlossenen Augen ziemlich egal war, ob sein Schwanz im Mund einer Frau oder eines Mannes steckte. Zumal er zugeben musste, dass Dan wusste, was er tat.

Als Kyle hinterher aufstand – der Akt war steril und ohne Worte von sich gegangen -, nickte Dan ihm zu und verkündete: „Ich lasse meine Beziehungen spielen. Das zweite Bett in deiner Zelle ist frei, oder?“
Verdattert nickte Kyle. Damit hatte er nicht gerechnet. Er begriff, was Dan gemeint hatte, als er davon sprach, dass er ihm jederzeit zur Verfügung zu stehen hatte. Innerlich stöhnte er auf. Andererseits brannte sein Orgasmus in ihm nach und verkündete, dass es Schlimmeres gab. Im Knast entschied man sich nicht für Leben oder Sterben. Man entschied lediglich, ob man eine Magen-Darm-Grippe oder Cholera haben wollte.
„Fein. Ich bekomme das untere Bett. Ich liege nicht gerne oben.“
„Das kam mir gerade noch anders vor“, konterte Kyle trocken.
Es war das erste Mal, dass sie zusammen lachten.

<---Küssen hat nichts mit Liebe zu tun. Nein, Pretty Woman hat nicht recht. Küssen gehört dazu. Es macht den Sex besser und inniger. Und das ist gut so.
Der Morgen klopft an die Tür, als der andere Körper sich auf ihn wälzt und er geküsst wird. Ein wenig grob, eindringlich; so, wie er es in den letzten Jahren zu schätzen gelernt hat. Er umfasst den schweren Leib, tastet mal hier, mal dort, sucht, findet und hält die Augen dabei fest geschlossen.
Er prägt sich Geschmack, Geruch, Textur der Haut, Wölbungen und Senken ein. Vertraut und doch bereits weit entfernt. Der Duft am Hals macht ihn fast wahnsinnig. Nicht vor Lust. Die Zeit der Lust ist vorbei. Keiner von ihnen hat unendliche Kräfte.
Aber küssen, das geht noch. Behutsam, und weil es Spaß macht. Wie gesagt, das hat nichts mit Liebe zu tun. Es ist Vergnügen, wie eine gute Massage ein Vergnügen ist. Nicht mehr und nicht weniger.
Er öffnet den Mund und spielt mit der fremden Zunge. Sanft. Melancholisch.<---

Anfangs trennte Kyle strikt zwischen ihrem Arrangement und richtigem Sex mit einer Frau. Er sagte klipp und klar, was er bereit war zu tun und was nicht. Dass Dan diese Grenzen akzeptierte, schien ihm selbstverständlich. Erst viel später sollte er begreifen, dass es das nicht war.
Ihr Zusammensein wurde knurrend zur Kenntnis genommen. Wenn Kyle auf dem Bauch lag und versuchte, nicht zu realisieren, dass er sich von einem Mann besteigen ließ, bekam er Zweifel. Aber wenn er unbehelligt duschte, und abgesehen von gierigen Blicken nichts zu erdulden hatte, wusste er, dass er das Richtige tat.

Der Wandel kam mit dem Brief, der ihn erreichte. Der Brief, in dem stand, dass Josh sich mit seinem Bike um ein Straßenschild gewickelt hatte. Beide waren nicht zu retten gewesen. Kyle hatte immer gewusst, dass sein Bruder nicht alt werden würde, aber es hatte ihn getroffen.
Und Dan hatte ihn wortlos zu sich auf das untere Bett geholt. Kyle hatte geheult wie ein verlorener Wolf. Sein Rotz hatte Dans Overall getränkt, aber er war nicht von Kyles Seite gewichen. In dieser Nacht hatte es keinen Sex gegeben, aber irgendwann hatten sie sich geküsst. Es schien richtig und in Ordnung.
Es war die erste Nacht, in der Kyle bei Dan schlief, statt nach oben in sein eigenes Bett zu kriechen. Abgesehen vom Schwarzen Loch des Verlusts in seiner Brust war es eine gute Nacht gewesen. Als er am Morgen vom Geschrei des Wachpersonals geweckt wurde, dachte er für den Bruchteil einer Sekunde, dass er sich noch nie so wohl in seiner Haut gefühlt hatte. Zumindest nicht, solange er im Bau saß.
Dann kam die Erinnerung und löschte jede angenehme Empfindung aus. Fast jede. Denn Dans Arm um seinen Bauch fühlte sich immer noch gut an.

--->Es ist ein ehernes Gesetz, dass man sich in keinen Mann verlieben kann. Das weiß er. Oder falsch, man kann sich sicherlich in einen Mann verlieben, wenn man eine Frau oder schwul ist. Aber darum geht es nicht. Denn wie gesagt, er ist nicht schwul. Nur Dan bedeutet ihm viel.
Dass sie sich in ein paar Minuten für immer trennen müssen, ist schmerzhaft. Aber was will man erwarten? Sechs Jahre sind vergangen, seitdem er hierher gekommen ist. Sechs Jahre, die er zum größten Teil mit Dan an seiner Seite überstanden hat.
Sie sind ein großartiges Team. Sie haben zueinandergestanden, sich haben sich gegenseitig aufgerichtet, wenn der Durst nach Freiheit übermächtig wurde. Sie haben miteinander geschlafen, bis die Kondome aus waren und sie darauf warten mussten, dass über Gefälligkeiten und Schmiergeld neue in ihre Hände fielen.
Seit wann er am rauen Sex mit Dan aufrichtig Gefallen findet, weiß er nicht. Es hat sich eingeschlichen und das ist ein Segen, denn Dan treibt es gern, wenn er Langeweile hat. Und die ist hinter Gittern nicht selten.
Von nun an keine Spiele unter der Bettdecke mehr. Niemand, zu dem man sich flüchten kann. Mittlerweile ist er hoch genug in der Rangordnung der Insassen, dass er nichts zu befürchten hat. Trotzdem, er fühlt sich beschissen. Der Idiot in ihm möchte Dan sagen, dass er bleiben soll. Aber wer bliebe schon freiwillig im Knast, selbst wenn es möglich wäre?
Er will sich nicht verabschieden müssen. Er fühlt sich erbärmlich dabei. Sie wissen beide, dass das, was sie miteinander hatten, hier und heute endet; ihre eigenartige Freundschaft mit Privilegien.
Er möchte schreien, als Dan geht. Sie geben sich zum Abschied die Hand und das scheint falsch. Einen Wimpernschlag lang glaubt er, dass Dan ähnlich empfindet, denn er zögert unmerklich. Als er den Flur entlang geht und aus seinem Blickfeld verschwindet, sackt Kyle aufs Bett und vergräbt die Fingernägel in den Wangenknochen. Er weiß nicht, wie er die restliche Zeit überstehen soll.
Und das hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, dass er in Dan verliebt sein könnte.<---

In den ersten Wochen erwischte Kyle sich dabei, dass er auf Post lauerte. Mit leuchtenden Augen erwartete er das Mittagessen, nach dem die Briefe und gefilzten Päckchen verteilt wurden. Die tägliche Enttäuschung nagte an ihm. Mehr, als ihm recht war.
Doch schlimmer als die leeren Hände nach der Briefausgabe waren die Nächte. Kyle hasste es, allein zu schlafen. Es machte ihn aggressiv und wortkarg. Seinem neuen Zellenkumpan erschwerte er das Leben, da er dessen Schnarchen nicht ertragen konnte. Das sägende Geräusch war ein Eindringling in einem Raum, der Dan und ihm gehörte.

Am Seltsamsten für Kyle war, dass er begann, zu der Erinnerung an Nächte mit Dan zu wichsen. Das hatte er früher nie getan. Früher hatte er sich Frauen vorgestellt. Kleine, große, dicke, dünne, blonde und schwarzhaarige Mädchen, die ihn mit schelmischem Lächeln lockten.
Jetzt stellte er sich vor, wie es sich angefühlt hatte, wenn Dan sich auf den Rücken legte und ihn machen ließ, was immer er wollte. Als Kyle zum ersten Mal der aktive Teil seines Miteinanders sein durfte, hatte er vor Gier laut Zeugenberichten den halben Flur zusammengeschrien.
Er wusste nicht, was mit ihm los war. Wahrscheinlich hatte der Knast ihn seines Verstands beraubt. Er vermisste ihr Miteinander. Es nahm ihm den Atem und ließ ihn sich fragen, was aus ihm geworden. Denn langsam, ganz langsam ließen sich gewissen Fakten nicht mehr von der Hand weisen – und das machte ihn rasend.

--->Der Tag, an dem Kyle gehen darf, ist von solch brutaler Hitze, dass es ihn fast von den Füßen haut, als er das Tor hinter sich lässt. Die Hitze schwirrt über den Bergen, hinter denen die Wüste beginnt. Selbst die widerstandsfähigen Kakteen und Sträucher im Umkreis lassen die Köpfe hängen. Es hat lange keinen Regen gegeben. Der Sommer gart den Süden Arizonas, als wäre Gottes Strafgericht über diesen Landstrich gekommen.
Verloren steht Kyle auf der Zufahrt zum Gefängnis und weiß nicht, was er mit sich anfangen soll. Solange er mühsam seine Strafe abgesessen hat, hat er sich in schillernden Farben ausgemalt, was sein wird, sobald er frei ist. Jetzt weiß er kaum, wohin.
Seine Augen reagieren auf die trockene Luft. Einen verrückten Moment lang sagt er sich: „Hey, warum gehe ich nicht wieder nach drinnen, wo es schattig ist?“
Irrsinn.

Kyle dreht sich um und betrachtet den Moloch, der ihn mehr als sieben Jahre seines Lebens gekostet hat. Sieben Jahre, drei Monate und zwölf Tage, um genau zu sein. Angewidert spuckt er ins Geröll am Rande der Zufahrt. Nie wieder. Er wird nie wieder hierher zurückkehren. Das schwört er sich.
Gleichzeitig scheint ihm die Welt, die nun wieder zu seiner Verfügung steht, zu groß für ihn zu sein. Wohin gehen? Was tun? Wie Geld verdienen, um die alten Fehler nicht wiederholen zu müssen?
Er hat keine Ahnung.

Als das Hupen ertönt, fühlt Kyle sich nicht angesprochen. Er ruckt den Beutel mit seinen mageren Habseligkeiten auf dem Rücken zurecht und fragt sich, ob sein Vater Platz für ihn in seiner Wohnung hat. Er möchte nicht lange bleiben. Nur lange genug, um sich zu akklimatisieren und sich daran gewöhnen, dass er nicht länger gefangen ist.

Es hupt von Neuem und er denkt sich, dass es ein Gutes wäre, wenn der Fahrer aufhören würde, seinen Wagen zu malträtieren. Als er den Kopf hebt, glaubt er an eine Fata Morgana. Ein rostiger Dodge steht in der Einfahrt. Der Motor läuft, als hätte der Fahrer es eilig, von hier zu fliehen.
Es ist Dan. Ihn in Jeans und Shirt, statt im Gefängnisoverall zu sehen, kommt Kyle surreal vor. Er weiß nicht, was er mit Dans Anwesenheit anfangen soll. Ein Teil von ihm wird sauer. Über ein Jahr hat der Bastard nichts von sich hören lassen, und jetzt hupt er hinter ihm her? Könnte wenigstens aussteigen, die faule Sau.

Aber eigentlich ist Kyle erleichtert. Herzklopfen hat er außerdem. Und Zweifel.
Sie verlangsamen seine Schritte, als er auf den Wagen zugeht. Die Beifahrertür steht einladend offen. Er steigt ein, weil die einzige Alternative ist, auf den Bus zu warten, der nur alle Schaltjahre am Gefängnis hält.

„Hey.“
„Willkommen in der Freiheit.“
„Danke.“

Kaum, dass Kyle seinen Beutel nach hinten auf die Rückbank geschubst hat, fährt Dan an. Schonungslos tritt er das Gaspedal durch. Die durchdrehenden Reifen wirbeln Schmutz auf, als er auf die Landstraße schleudert.
„Hast du es eilig?“, fragt Kyle, weil er beim besten Willen nicht weiß, was er sagen soll. Außerdem muss er reden, um sich in der Wirklichkeit zu verankern. Seine Worte sind wie Steigeisen, die er in den Fels der Realität rammt.
Dan schnaubt, blickt scheinbar konzentriert auf die Straße: „Du nicht?“
„Doch, wahrscheinlich schon.“

Es dauert rund fünfzehn Meilen, fünfzehn schweigsame Meilen, bis Dan den Dodge von der Straße lenkt. Im Schatten einer verlassenen Tankstelle kommen sie zum Stehen. Ohne ein Wort zu sagen, steigen sie aus. Wenn man fast sechs Jahre auf engstem Raum gelebt hat, kennt man sich.
Kyle weiß, dass Dan reden will. Fragt sich nur, worüber.
„Schieß los“, sagt er, als er sich mit Blick Richtung Ebene gegen die Motorhaube lehnt. Eine Gänsehaut kriecht über seine blassen Arme, als ihm zu dämmern beginnt, dass er frei ist. Es ist ein Gefühl, das dem Ersticken ähnelt – nur anders herum.
„Du fragst dich, warum ich mich nie gemeldet habe und jetzt auftauche“, stellt Dan fest.
„Richtig.“
„Weil ich dachte, dass es endet, wenn ich wieder draußen bin“, gibt Kyles ehemaliger Knastkumpan ungerührt zu. „Ich dachte, es bringt keinem von uns etwas, wenn ich dich mit Briefen von draußen bombardiere. Erschien mir ekelhaft. Und ich wusste, dass du mich nicht mehr bei dir haben willst, sobald du selbst frei bist.“
„Wir haben immer gewusst, dass es so kommen wird“, knurrt Kyle zurück und wundert sich, dass es wehtut. „Als ob du anders denken würdest.“
Dan sieht ihn von der Seite an: „Oh doch, ich sehe es anders. Aber ich habe schließlich schon immer Männer geliebt.“
„Ich bin nicht schwul“, sagt Kyle automatisch, bevor ihm bewusst wird, was Dan ihm gerade eröffnet hat. Komisch, sie haben nie darüber gesprochen. Dass sein Zellengenosse wirklich und wahrhaftig schwul sein könnte, ist ihm nie in den Sinn gekommen. Weil es im Gefängnis eh egal gewesen ist.
„Ich weiß. Und ich weiß, dass du kein Interesse mehr an mir hast. Sicher freust du dich auf deine erste Frau.“

Verwirrt kneift Kyle die Augen zusammen. Die Situation beginnt an ihm zu zehren. Er weiß nicht recht, was er von Dans Benehmen halten soll. Denn wenn er sich sicher war, dass Kyle kein Interesse an ihm haben wird, warum ist er dann hier?
Erst, als er eine Antwort erhält, begreift Kyle, dass er laut gedacht hat.
„Ich weiß es nicht“, lächelt Dan tapfer. „Vermutlich, weil ich den Korb brauche, damit ich weitermachen kann. Ich hab' dich vermisst. Und ich wollte, dass du gut nach Hause kommst.“
Stirnrunzelnd weicht Kyle der Frage aus, die sein Herzrasen verstärkt und ihn sich fragen lässt, ob er nicht besser direkt vom Gefängnis in die Psychiatrie wechseln sollte: „Woher wusstest du eigentlich, dass ich heute entlassen werde?“
Dan lacht leise und zieht vielsagend eine Augenbraue hoch.
„Okay, vergiss es“, grinst Kyle unsicher zurück. Kontakte waren alles. Und manche reichten über die Zeit der Strafe hinaus. Es war ein Leichtes, einen Wachmann um einen Anruf zu bitten, sobald eine bestimmte Information durchsickerte. Immer vorausgesetzt, dass man die Bitte in ein paar grüne Scheine bettete.

„Ich habe etwas für dich organisiert“, sagt Dan nach einer Weile. „Eine Freundin ist bei mir zu Besuch und sie ...Nun ja, sie ist eine Nutte, aber ich dachte, du freust dich.“
Überrascht fliegt Kyles Kopf herum. Hat er sich verhört? Dan hat ihm ein Mädchen besorgt? Hat er nicht gerade noch behauptet, dass er Kyle vermisst?
„Nun schau nicht so dumm aus der Wäsche. Ich musste schließlich alle Eventualitäten abdecken, oder?“
Es klingt vernünftig und doch furchtbar in Kyles Ohren. Ihm schaudert, als ihm der Gedanke kommt, dass er geprüft wird. Spielchen sind zwar nicht Dans Art, aber wenn er Kyle wirklich vermisst, will er vielleicht wissen, ob er Chancen hat.
Und er hat welche. Das lässt sich nicht leugnen. Kyle kann sich nur mühsam beherrschen, ihn nicht anzuspringen. Gott, er hat ihn auch vermisst, aber was heißt das schon?

Nachdenklich löst er sich vom Wagen und geht ein paar Schritte auf die mit einer feinen Schicht Sand bedeckten Zapfsäulen zu. Sie haben etwas Trauriges an sich; ein Mahnmal verlorener Zivilisation.
„Ich weiß nicht, ob ich auf Dauer auf Frauen verzichten kann“, sagt er schließlich laut genug, dass es Dan ihn hören kann. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich weiß nur, dass es gut ist, dass du hier bist. Und dass ich scharf auf dich bin. Aber auf das Mädchen, das du mir besorgt hast, auch.“
Er hört, dass Dan sich hinter ihm räuspert: „Ist mir klar. Mit nichts anderem war zu rechnen, oder? Die Frage ist nur: Wenn du die freie Auswahl hast und entscheiden kannst, ob du nachher mit Susan oder mit mir zusammen sein willst, wen wählst du?“

Darüber muss Kyle nicht nachdenken. Dan. Diese Susan kennt er gar nicht. Aber Dan, der hat ihm so sehr gefehlt, dass es ihm vorkam, als juckte es ihn an einer Stelle, an der er nicht kratzen konnte.
Sechs Jahre. Wenn man es streng sieht, sind sie am Ende sechs Jahre lang ein Paar gewesen. Eigentlich nicht verwunderlich, dass er sich nach Dan sehnt, oder?

Kyle lässt die Schultern sinken und gibt nach. Er mag keine Zeit verschwenden und er will sich keine Fragen stellen. Dan ist jetzt hier und er will ihn festhalten. Was morgen kommt, weiß niemand. Ob sie eine Chance haben, steht in den Sternen. Aber Kyle ist bereit, sich auf das Wagnis einzulassen.
Als er sich umdreht und Dan anlächelt, sieht er die Erleichterung, Dankbarkeit, Rührung auf dessen Gesicht. Sie gehen sich entgegen und umarmen sich. Fest und unerbittlich. Es tut weh, aber Kyle würde um nichts in der Welt loslassen. Er ist es, der Dan als Erster küsst. Der nicht warten kann und hofft, dass der Dodge umlegbare Sitze hat. Oder zumindest eine Decke im Kofferraum, da er daran zweifelt, dass sie schnell von hier fortkommen werden.

Als Dan das Gesicht an seinen Hals drückt, schließt Kyle die Augen und denkt sich, dass er nicht schwul ist. Er ist wahrscheinlich bisexuell. Ob er es schon immer war oder der Knast ihn dazu gemacht hat, weiß er nicht.
Und im Grunde ist es auch egal.<---
 
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Kommentare  

Hallo, Dieter,

danke erst mal für deinen Kommentar.
Ja, genau das, was du ansprichst, ist das Problem. Das Phänomen wird zur Zeit noch untersucht. In Gefängnissen und auch auf Bohrinseln zB. entsteht eine eigene Subkultur, die Einfluss auf die sexuelle Orientierung zu nehmen scheint. Oder, wenn man es von der anderen Seite sieht, die latent vorhandene Bisexualität wachkitzelt.
Fest steht, dass bis dahin heterosexuell lebende Männer das Gefängnis verlassen und hinterher bisexuell weiterleben. Das gilt nicht für alle natürlich, aber es kommt vor.
Es ist ein noch recht unerforschtes Feld. Daher auch das offene Ende - keiner weiß, was kommt. Und ich will mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, ein Bonbon-Happy End zu schreiben. ;)

Liebe Grüße, Raik


Raik Thorstad (14.08.2011)

Wirklich gut geschrieben, aber mir geht es wie Doska. Der Junge tut einem verdammt leid und es ist nicht klar, ob er nur Geborgenheit und Schutz gebraucht hat oder tatsächlich sexuelle Gefühle für Männer entwickelt hat.

Dieter Halle (14.08.2011)

Hallo, Doska,
lieben Dank für deine Rückmeldung. Schön, wenn es gefällt. Das Thema ist nicht ganz so einfach und ich bin froh, wenn es gelungen erscheint.
Und mit dem "noch ein Weilchen drüber nachdenken" bist du nicht allein. Da forschen sich dran die verschiedensten Wissenschaftler die Köpfe heiß. :D
Liebe Grüße, Raik


Raik Thorstad (13.08.2011)

Eine homoerotische Story, die ziemlich authentisch geschrieben ist. Toller Schreibstil. Super gemachte Rückblicke. Ein sinnlicher aber auch trauriger Text. Ich glaube, darüber werde ich noch ein Weilchen nachdenken.

doska (12.08.2011)

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