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5 Seiten

Nichts Besseres

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Das Ganze fing erst vor ein paar Monaten an, als Ivo eine neue Stelle bekam und darum in eine neue Wohnung, in einer anderen Stadt zog. Saarbrücken. Eine Stadt mit 200.000 Menschen Bevölkerung. Im Vergleich mit Lebach - einer ganz kleinen Stadt, die 35 Kilometer von Saarbrücken entfernt ist, seiner Heimatstadt, wo er all die 29 Jahren seines Lebens verbrachte - gleicht sie einem unendlichen Labyrinth, ohne jegliche Hoffnung, ohne Karte einen Ausgang zu finden.
Die Stadt hatte irgendeine drückende Wirkung auf ihn. Jedesmal, wenn er punkt 5 Uhr seinen Arbeitsplatz verließ und die ganze Strecke bis zu seiner Wohnung lief (er konnte sich doch nicht dazu entscheiden, ein Auto zu kaufen), fühlte er sich so, als ob jetzt gleich irgendetwas auf seinen Kopf herunterstürzt, vielleicht auch ein Stückchen vom Himmel, wer weiß. Und er fühlte, daß die Straßen von einer Sekunde zur anderen enger werden und daß sie ihn früher oder später einfach zertrümmern, wenn er sich nicht beeilt.
Am Anfang der dritten Woche ist er... na ja, zusammengebrochen ist nicht ganz der richtige Ausdruck dafür. Etwas in seinem Innern brach zusammen. An jener Nacht schlief er nur wenige Stunden. Ivo wachte auf und fing an, durch seine Wohnung hin und zurück zu spazieren, als ob er nach irgendetwas suchen würde. Irgendetwas, womit er sich beschäftigen könnte. 'N Puzzle, das er erst vorgestern abend zusammenstellte. Er vermischte all seine Teilchen und fing an, alles erneut zusammenzustellen. In fünf Minuten feuerte er's in die Ecke und setzte seine Suche fort.
Rein zufällig stoßen seine Augen auf eine ungeöffnete Gin-Dose, auf einem Bücherregal, wo er sie offensichtlich vor mehreren Tagen, ohne sie geöffnet zu haben, vergaß. Er hatte selbst keine Ahnung, warum er sich ganze zehn Stück davon kaufte. Eigentlich wollte er seine neuen Kollegen zu sich nach Hause einladen, einfach so, um Beziehungen irgendwie zu entwickeln. Und er hoffte noch, Carin würde auch mal kommen... Doch schon bald erschien ihm diese Idee absurd. Seine Kollegen... Sie würden ja nicht mal mit einem Wimpern zücken, wenn er von irgendeinem Amokläufer abgeknallt oder von wilden Hunden bis zum Tode gebissen wäre... Schon in einer Woche würde sich keiner mehr an seine Existenz erinnern.
Ivo nahm die Dose und öffnete sie, ganz vorsichtig. Unsicher probietrte er die Flüssigkeit, die da drin war. Dann noch einmal. Und noch mal...

...und schon saß er hier. Rio Bar. Es erschien ihm so, als würden mit jedem Tag immer mehr Leute hierher kommen und ihre Kohle für das "Feuerwasser" ausgeben. Doch egal - ob jung oder alt, Mann oder Frau, nüchtern oder schon voll besoffen - keiner von ihnen wollte sich zu ihm setzen und ihm auch nur ein kleines Teilchen seiner Beachtung schenken.
Fast jeder Tag, gleich nachdem der Arbeitstag vorbei war, kam er hierher und setzte sich auf einen und denselben Platz, vorausgesetzt, er was nicht schon besetzt. Er versuchte aber kein einziges mal, jemanden anzusprechen, er hatte einfach nicht den Mut dazu.
"Sie trinken falsch !" - hörte er plötzlich hinter seinem Rücken. Eine ruhige, glatte Männerstimme.
"Bitte ?" Ivo drehte sich um und sah denjenigen an, der ihn ansprach. Ein ganz junger Kerl, etwa 22 Jahre, mit einer runden, kaum erkennbaren Brille an der Nase.
"Sie trinken ganz falsch. Wann haben Sie denn damit angefangen ?" Er setzte sich auf einen Hocker, links von Ivo. "Kann ich mich setzen ?"
"Ja, klar, bitte !"
"Also, wann haben Sie damit angefangen ?", wiederholte er seine Frage.
"Angefangen ? Ich habe nicht angefangen, ich komme einfach manchmal hierher, wenn ich Zeit habe..."
"A-a, und wieso höre ich dann immer, Sie wären seit einigen Wochen ein Stammgast hier ?" Und nach mehreren Sekunden fügte er noch hinzu : "Dauert's schon lange ?"
"Nein... Eigentlich ist es der einzige Ort, wo ich hingehe. Ich habe einfach nix Besseres zu tun."
"Versuchen Sie Ihren Kummer im Glas zu ertränken ? Was haben Sie denn ?"
"Nichts... Wie gesagt, ich habe einfach nichts Besseres zu tun. Ich langweile mich..."
"Na ja, ich will Sie nicht weiter zu Ihrem Privatleben befragen, wir kennen uns ja gar nicht." Er sah in sein halb leeres Glas, das er mitbrachte.
"Nein, nein, nein ! Fragen Sie alles, was Sie wollen... Ich hab' ja sowieso kein Privatleben."
Der junge Mann schien nur auf diese Erlaubnis zu warten und feuerte gleich die nächste Frage ab :
"Haben Sie denn keine Freunde, zu denen Sie gehen könnten ? Oder 'ne Freundin ?"
"Nein... ich bin erst seit kurzem in der Stadt, hab' einen neuen Job gekriegt. Ich bin, übrigens, Ivo" - streckte er seine Hand aus.
"Malec", erwiderte er die Geste. "Dann werde ich ab jetzt Ihr Freund sein, zumindest für den heutigen Abend. Okay ? Oder soll ich mich, vielleicht, lieber verziehen ?"
"Nein, nein ! Jede Gesellschaft ist mir willkommen."
"Gut. Dann... schlage ich vor, ich bring's Ihnen bei, wie man' richtig macht... wenn man schon nix Besseres zu tun hat. Haben Sie heute schon viel davon runtergeschluckt ?"
"Nein, ist nur mein zweites Glas heute."
"Schön. Sagen Sie mal, woran denken Sie an diesem Moment ?"
"Na... an Sie. Ich unterhalte mich gerade mit Ihnen, also denke ich an nichts Anderes."
"Und was denken so Sie über mich ?"
"Na ja, ich... bin froh, daß ich wenigstens für heute jemanden geufnden habe, mit dem ich mich unterhalten kann."
"Gut, Sie sind also froh... Wirklich froh, oder sagen Sie das nur mir zuliebe ?"
"Nein, ich bin wirklich sehr froh."
"Toll, dann trinken Sie ! Jetzt !"
Ohne genau nachzudenken, was er gerade macht, nippte Ivo an seinem Glas.
"Äh, doch nicht so ! Haben Sie keine Angst, beißt Sie doch keiner ! Sehen Sie mich an !" Und er machte zwei riesige Schlücke aus seinem. "So geht das !"
"Ach so... okay." Ivo folgte seinem Beispiel.
"Gut, toll machen Sie das ! Und nochmal !" Noch ein Schluck folgte.
Plötzlich wechselte er das Thema :
"Sagen Sie, gibt es etwas, wovon Sie schon seit langem träumen ? Irgendwohin zu fahren... oder... was weiß ich, irgendetwas zu tun ? Irgendetwas ?"
"Na ja, es gibt vieles... Ohne Träume würde ich wahrscheinlich schon vollkommen verrückt werden."
"Was denn, zum Beispiel ? Ich meine ja nicht, zum Mond zu fliegen oder so etwas, etwas wirklich Reales ?"
"Hm, da muß ich mal nachdenken... Wissen Sie, ich hab einne Kollegin... Carin... Ich denke manchmal daran, wie schön es eigentlich wäre, sie irgendwohin einzuladen... und so..."
"'N Date ?"
"Nun ja... ja, 'n Date."
"Wieso tun Sie's denn nicht ?"
"Was, ich ? Sie machen Witze, was ? Ich glaube, sie weiß gar nicht, daß es mich überhaupt gibt. Sie kann jeden kriegen, denn sie will ! Ich wäre der Letzte, der bei ihr 'ne Chance hätte."
"Haben Sie denn gesehen oder gehört, daß sie jemanden hat ?"
"Nein... aber ich weiß es ohnehin."
"Aber versuchen Sie's mal ! Was riskieren Sie denn ?"
"...Nein, ich glaube... wenn ich das tue, dann werde ich ihr nicht mehr in die Augen sehen können... falls sie "nein" sagt, und sie sagt ganz bestimmt "nein" !"
"Ach Gott ! Sie haben doch selbst gerade gesagt, sie weiß gar nicht über Ihre Existenz Bescheid. Sie ist doch schon wahrscheinlich hundert mal von verschiedenen Kerlen angesprochen worden, inzwischen sollte sie sich daran gewöhnt haben. Was ist schon so verkehrt daran, mit 'nem Mädchen irgendwohin zu gehen ? Hey, so werden Sie niemanden finden, seien Sie ein Mann !"
"...Und was, Sie meinen, es könnte tatsächlich klappen ?"
"Klar könnte es klappen ! Nur so klappt's ! Und verschieben Sie's nicht von einem Tag auf den anderen, versuchen Sie's schon morgen !"
"Okay, ich... mach's ! Wirklich !"
"Na sehen Sie ! Und jetzt trinken Sie ! Schnell !"
Ivo schnappte sich augenblicklich sein Glas und machte hastig ein Schluck nach dem anderen, bis es absolut leer war.
"Na, hat doch gut getan, oder ?"
"Ja... ich bestelle mir gleich noch was."
Eine halbe Stunde. Braucht man wirklich nur eine halbe Stunde, um aus einem Menschen einen vollkommen anderen zu erschaffen ? Oder einfach aus einem schüchternen Kind einen professionellen Säufer ? Zwar konnte er den Hocker unter sich noch fühlen. Aber wo war er selbst ? Wo war die Person, die vor knapp einer Stunde durch die Bartür hereinspazierte ? Tot ? Oder nur lebendig begraben ? Oder sitzt sie einfach in irgendeinem dunklen Keller, ohne Türen und Fenster, mit zugeklebtem Mund und gebundenen Händen ? Aber erstaunlich : er wollte es gar nicht wissen. Je ferner sie sich befand, desto besser.
"Malec, komm ! Wir müssen los !", hörten sie plötzlich eine Frauenstimme hinter sich.
"Oh, wirklich ?", er sah seine Uhr an : "Ja, allerdings, wir müssen. So, war toll mit dir zu plaudern, können wir, vielleicht, mal wiederholen."
"Und du... ja, war toll. Und ich muß mich noch ungefähr tausend mal bei dir bedanken, wirklich. Also danke, ja ?"
"Oh, gern geschehen, hab' doch nix Besonderes getan... Bis irgendwann also ?"
"Ja, alles Gute !"

"Und ?! Na, was meinst du ?"
"Na ja... er war nicht ganz so hoffnungslos..."
"Er ist 'n Versager, was ?"
"Nein... das heißt, es kommt darauf an, wie man es betrachtet... na ja, ja. Er ist einer."
"Was hast du zu ihm gesagt ?"
"Ich hab' versucht, ihm irgendwie Mut zu machen und... ihn irgendwie davon zu überzeugen, 'ne Kollegin von ihm zu fragen, ob sie mit ihm nicht ausgehen möchte... Ich schätze, ich hab's sogar geschafft."
"Und, meinst du, sie wird wirklich mit ihm ausgehen ?"
"Keine Ahnung, ich kenne sie ja nicht mal. Wahrscheinlich nicht. Also ich würde es jedenfalls nicht... Ich meine, falls ich ein Mädchen wäre."
"...was du nicht bist. Also, ich fand ihn gar nicht so schlimm, vielleicht, soll ich nächstes mal mit ihm plaudern ?"
"Ach ja, wieso nicht ? Vielleicht, vergißt er dann seine Carin und geht mit dir aus ?"
"Wer weiß, vielleicht, rette ich ihm damit das Leben ? Also, falls diese Carin "nein" sagt, dann könnte er, vielleicht, was Schlimmes mit sich machen... oder er wird einfach in seinem eigenen Glas ertrinken."
"Na, er wird's wenigstens versuchen... sie einzuladen, meine ich."

Kurz vor Mitternacht. So spät kehrte er noch nie nach Hause zurück. Aber eigentlich... was ist denn so schlimm daran ? War diese Straße eigentlich immer so breit ? Oder liegt es an den neuen... oder zehn Drinks ?.. Egal... Gott ! Mach bitte so, daß dieser Abend nie endet ! Das Leben ist... sinnlos... ? Na gut... Wie auch viele schöne, aber auch sinnlose Sachen... und... er lebt ! Hey, Leut' ! Ihr sucht nach etwas, was manche mit "Sinn" bezeichnen ? Na dann viel Glück !..
...da wäre nur noch diese eine Frage, die ihn so quält... wer ist eigentlich Carin ?
 
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Kommentare  

Dazu fällt mir nur eine Redewendung ein: "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt"... so isses...

SabineB (25.05.2001)

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