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Der Spuk im Minh Lo Tempel (Teil 2)

Fantastisches · Kurzgeschichten
„Auf der Insel gibt es keine Hütte. Nur den verlassenen Minh-Lo-Tempel.“ Mit schulmeisterlich erhobenem Finger wedelte Ning in der Luft.
„Umso besser. Dann haben wir ein Haus aus Sand und Stein. Darin ist es bestimmt trocken. Auch eure Kleider sind vom Nebel schon klitschnass geworden.“

Unternehmungslustig wollte Li ausschreiten. Da griff Long sie abrupt am Arm: „In dem Tempel soll es spuken. Wir sollten lieber einen großen Bogen um ihn machen.“
„Seit wann habt ihr Angst vor Geistern?“ Li konnte sich nur mit allerletzter Mühe ein Lachen verkneifen.
„Nun denn . . . aber wir haben dich gewarnt.“
„Ich werde nicht nachtragend sein.“
„Das sagen alle. Bis das Dilemma passiert ist. Danach haben sie ihre Versprechen sofort vergessen.“
„Ihr Angsthasen könnt ja hier bleiben. Ich gehe auch alleine. Wenn ich den Geist besiegt habe, antworte ich der Eule. Euch soll das das Zeichen sein, dass ihr die warme Stube betreten dürft.“
„Schon gut, Li. Wir kommen mit.“ Nings Ehre war ein wenig angekratzt. Das durfte er nicht auf sich sitzen lassen.

Die drei kamen an den Rand des Teiches.
Vom Ufer aus konnten sie erkennen, dass dieses Licht durch die Fenster- und Türöffnungen eines kleinen Tempels kam. Zu betreten war die Insel nur über eine alte und teilweise schon verfallene Holzbrücke, die sich in einem Bogen über das Wasser schwang. Eigenartiger Weise waren an beiden Enden noch die Torbögen erhalten. Irgendjemand musste sie all die Jahre gepflegt haben, analysierte Li.
Sie war sich sicher, dort drüben hauste ein Geheimnis. Ihr Entdeckungsfieber erwachte. Kurz überprüfte sie, ob sich ihr Schwert noch immer mit Leichtigkeit ziehen lassen würde. Ihre beiden Gefährten taten es ihr gleich.

Mit Bedacht – immer im ehrfurchtsvollen Abstand zueinander – betraten die drei äußerst vorsichtig den Holzsteg. Die Bohlen knarrten unter jedem Schritt. Li sah, wie sie sich unter dem Gewicht Nings durchbogen. Ning war der Schwerste. Deshalb musste er voran gehen. Wenn die Bretter ihn trügen, würden sie den Nacheilenden keine Gefahr sein. Was aber, wenn sie unter seiner Last brächen? Das schwarze Moorloch unter ihm hätte ihn verschlungen, noch bevor eine rettende Hand ihn ergreifen könnte.
Li fröstelte.
Nicht vor Kälte, sondern vor Angst.
Gerade hatten sie den Scheitelpunkt der geschwungenen Brücke erreicht, da passierte es. Ein ohrenbetäubendes Krachen. Wie ein Blitz sank Ning hinab. Im letzten Moment konnte er seine Arme nach vorne schmeißen. Nun krallten sich seine Hände in das Holz des Steges während seine Füße über dem gierigen Schlund in der Luft baumelten.
Mit einem Quatsch verschlang das Moor die hinab gestürzten Bohlen. Es ging so schnell, dass der Schock die beiden Gefährten lähmte. Mit weit aufgerissenen Augen registrierte Li den immens großen Hunger des Moores.

So war sie die Erste, die sich gefasst hatte. Ein kurzer Anlauf. Dann sprang sie über die Lücke auf die andere Seite und ging dort sofort in eine Flugrolle über. Wichtig war als erstes, an der Bruchstelle kein unnötiges Gewicht zu erzeugen.
Auf dem Bauch liegend robbte sie sich zu Ning zurück. Schnell und eisern packte sie zu. Es war das erste Mal, dass der Chinese ihre unsagbare Kraft am eigenen Leibe zu spüren bekam. Bisher hatte er den Gerüchten wenig Glauben geschenkt, die über Li im Umlauf waren. Jetzt kamen große Zweifel auf. Hatten sie sich übernommen? Was würde passieren, wenn sie erfahren müssten, dass Li wirklich die Stärkste von ihnen allen war? Egal. Vorerst war er froh, von ihr in das Leben zurück gezogen zu werden.

Als beide ein gutes Stück weiter gegangen waren, sprang Long zu ihnen herüber.
Alles ging gut.
„Den Göttern sei Dank!“, sagte Ning, als sie das Ende des Steges erreicht und wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Hernach näherten sie sich vorsichtig dem alten Tempel, dessen Türen- und Fensterläden schon stark zerfallen waren. Aus diesem Grund konnte das rote, flackernde Licht so stark nach draußen dringen.
An der Hauswand angekommen, spähten die drei nächtlichen Abenteurer erst einmal minutenlang durch die Schlitze im Holz, um zu ergründen, wer oder was sich an diesem verwunschenen Ort aufhalten mochte und um einschätzen zu können, ob hier eine Gefahr lauerte. Instinktiv griffen alle drei auf ihre Schwertknäufe, als sie den Tempel betraten.

Zu sehen war kein Mensch.
Auch hörte man niemanden atmen oder rascheln. Das Haus schien leer zu sein. Totenstill. Warum aber sollten dann all diese roten Lampions brennen?
„Es ist, als werden wir erwartet“, flüsterte Li und umfasste ihren Schwertknauf fester. Dass ihre Begleiter ebenfalls in äußerster Anspannung waren, war nicht gerade beruhigend für sie. Demnach waren sie sich ebenfalls nicht sicher, ob sie hier in eine Falle gelockt worden waren.

In der Mitte des Hauptraumes stand ein bauchhoher, alter, hölzerner Badezuber, aus dem es leicht dampfte. Vorsichtig näherten sie sich ihm und spähten hinein. Es war nichts weiter zu erkennen. Bis fast zum Rand mit Wasser gefüllt warf er lediglich ihre Spiegelbilder zurück. Die Lampions waren so geschickt platziert worden, dass ihr Licht nicht den Grund des Zubers erleuchten konnte. Nur ihre Gesichter spiegelten sich in ihm.

Li steckte vorsichtig ihren Zeigefinger in das Wasser. Es war angenehm warm.
In diesem Moment schoss mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit ein Wesen aus diesem Zuber empor. Alle drei sprangen mit einem großen Satz und einem Aufschrei des Entsetzens nach hinten und Long wäre fast rücklings auf den Boden gefallen, hätte eine alte Kommode ihn nicht daran gehindert.
In der Mitte des Badezubers stand eine Frau und lachte herzlich über den Schrecken, den sie den Besuchern eingejagt hatte. Li erkannte sofort ihre ehemalige Freundin und Klosterschülerin Lian.

Diese verfluchten Dreckskerle, schmunzelte die große Chinesin ohne dabei wirklich einen Groll gegen Ning und Long zu hegen. Die Freude über ein Wiedersehen ihrer Mitschülerin wirkte größer als die Empörung, von den beiden so an der Nase herumgeführt worden zu sein.
Dennoch war Li Shuang in diesem Augenblick nicht bereit, die Besänftigte zu mimen.
„Was fällt dir ein, uns so zu verjagen!“, rief die mit gespielter Erbostheit. „Hundert Jahre lang scherst du dich einen Dreck um uns, warst auf keinem Fest mehr gesehen, hattest zu Allen den Kontakt abgebrochen, und dann trittst du mit so einer Inszenierung wieder ans Tageslicht.“
„Aber meine liebe Li, jetzt bin ich ja wieder da. Freust du dich nicht ein ganz klein wenig?“ Lians Worte erklangen in einer Symbiose aus Rügen und Provokation. Verächtlich warf sie den Kopf in den Nacken, wobei ihre langen, nassen Haare auf ihren Brüsten kleben blieben.
Anstelle einer Antwort sprang Li auf das Schreckgespenst zu und nahm es in ihre Arme.

„Drück mich nicht so fest, sonst wird dein Kleid noch ganz nass!“ Doch Lians Warnung war zu spät gekommen.
Dann stieg Lian aus dem Zuber, zog sich ihr nasses Kleid aus, hängte es auf einen Bügel und schlüpfte in ein trockenes hinein. Schadenfroh grinste sie Li darauhin an und zwinkerte den beiden Männern zu: „Siehst du, ich habe vorgesorgt.“
Wie auf ein geheimes Zeichen packten die drei Li und noch in der gleichen Sekunde war sie voll bekleidet in dem Zuber eingetaucht.
Erst nach einem wilden Plantschen und nachdem die Hälfte des Wassers auf dem Boden gelandet war, ließen sie Li wieder auftauchen, sprangen ein paar Meter zurück und kugelten sich vor Lachen auf dem Boden. Dort, wo die Wasserzungen noch nicht hingekommen waren.

Etwas pikiert nörgelte die große Chinesin: „Zumindest ist es schön, zu sehen, dass ihr mächtig Spaß habt.“
„Nun sei man nicht so garstig“, kam Lian auf ihre Freundin zugegangen. Dabei trug sie ein hübsches Kleid, das über ihre wie ein Tablett tragende Unterarme geschlagen war.
Dieses Geste und die innere Freude, ihre langvermisste Freundin wiedergefunden zu haben, versöhnte Li. Mit einem entspannten Seufzer sank sie ein zweites Mal tief in das warme Wasser ein. Jetzt freiwillig.
Ihre nackten Füße quatschten in den Wasserpfützen, als Li mit einem amüsierten Gesichtsausdruck aus dem Zuber stieg. Wie sie in den Gürtel ihres nassen Kleides griff, schritten Ning und Long ans Fenster, die Geister der Nacht zu beobachten, wie sie sagten. Dabei wurden ihre Körper von der nächsten Lachsalve geschüttelt.

Li legte das nasse Kleid über einen Baldachin, schlüpfte in das festliche Kleid, das Lian ihr offeriert hatte, ließ sich von ihrer Freundin die Bänder auf dem Rücken schließen und tippte mit ihrem großen Zeh in den Rand der Wasserblase, die sie irgendwie verfolgte, wie ein Werwolf den Vollmond.
„Wo warst du all die Jahre untergetaucht, Lian? Du wirst doch nicht die hundert Jahre auf dem Grund dieses Fasses gesessen haben?“. Lis Stimme klang schrill wie eine Schulklingel.
Demonstrativ steckten Ning und Long sich die Finger in die Ohren, schauten aber noch immer in die Nacht hinaus. So konnten sie nicht die Zunge sehen, die die Schwertkämpferin zu ihnen herausgestreckt hatte.

Lian gab ihrer Freundin einen Klaps auf den Hintern, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, bevor sie erwiderte: „Nein, ich habe ein ganz bürgerliches Leben geführt. Habe oft fast zwanzig Jahre an einem Ort gelebt und gearbeitet, bis es langsam aufgefallen war, dass ich gar nicht gealtert war. Hierauf war ich weit weg gezogen und das Spiel hatte von neuem begonnen.“
„Und Männer? Warst Du verheiratet? Du bist immer noch eine so unsagbar schöne Frau.“
Männer war das Stichwort für Long und Ning. Sie drehten sich um, legten ihre Hände hinter die Ohren und kamen langsam dahergestakst, wobei sie bei jedem Schritt das Knie weit hochhoben, als wären sie Flamingos, die durch seichtes Wasser wateten.

„Ja, verheiratet war ich zwei Mal. Aber das ist sehr lange her. Danach gab es nur selten kurze Liebschaften mit Männern. Ich war viel mit Arbeitskolleginnen zusammen, aber auch viel alleine, habe angefangen zu malen und schon einige Ausstellungen gehabt. Und zuweilen schreibe ich Krimis mit einem großen Anteil an Horror- und Spukgeschichten.“
„Dann schätze ich, in einem Deiner nächsten Bücher wirst Du beschreiben, wie drei Tölpel einen alten Tempel im Moor besuchen und von einem Monstergeist zu Tode erschreckt werden“, lachte Li.
„Nun, das wäre eine Überlegung wert. Aus der Szene ließe sich sicherlich etwas machen“, spann Lian den Scherz weiter.
„Ich bitte doch um Diskretion und wünsche, keine Namen zu nennen“, griff Long in das allgemeine Scherzen ein.
„Überhaupt sollte das alles, was eben passiert ist, nur unter uns bleiben“, pflichtete Ning belehrend bei.
„Ehrenwort“, lachte Lian. „Ich habe nichts gesehen und kann schweigen wie ein Grab. Doch jetzt lasst uns in den Speisesaal gehen. Ich habe aufgetischt und es gibt noch so viel zu erzählen. Die Nacht wird uns nicht lang werden.“

In dem weiteren Gespräch erfuhr Li die Anlässe, die Lian bewegt hatten, aus ihrer Versenkung aufzutauchen und wieder den Kontakt zu ihrer einstigen Freundin aufzunehmen. Durch Zufall hatte sie Long am Flughafen von Peking getroffen und von ihm von Lis Vermählung und ihrer Lossagung von Xue erfahren. Die letzte Tatsache hatte den Ausschlag gegeben. Als Xue und Li nach dem Überfall auf das Kloster sich der Rache und des Mordens verschrieben hatten, hatte Lian allen Kontakt zu beiden abgebrochen. Trotz aller Grausamkeiten in dieser Nacht des Untergangs war Lian nicht von ihrem Weg der Hilfsbereitschaft und Achtsamkeit abgewichen. Im Gegenteil davon hatten viele der damals ermordeten und als Geister wieder auferstandenen Klosterschüler unerfreulicher Weise den Weg des Krieges eingeschlagen.

Schnell war Lian auf den jährlichen Festiditäten isoliert gewesen. So wurde langweilig, was einst mit Neugier und Leben erfüllt gewesen war. Lians Rückzug ins Private war die Konsequenz.
Die ersten achtzig Jahre noch in zwei langen Ehen. Doch nachdem sie den zweiten Mann zu Grabe getragen und die vielen Verlustschmerzen ein zweites Mal durchlitten hatte, igelte sie sich in einer eigenen Fantasiewelt aus Geschichten und Gemälden ein. Auf den Gedanken, ihren Geliebten unsterblich zu machen, war sie in ihrer Uneigennützigkeit nicht ein einziges Mal gekommen. Mittlerweile wünschte sie sich des Öfteren, sie hätte es damals versucht. Li war immer schon ein Stück unmoralischer gewesen, gestand sich Lian in diesem Augenblick mit einem sehnsuchtsvollem Gesichtsausdruck ein.

Zum Glück traten jetzt die Bilder ihrer eigenen Hochzeiten vor ihr inneres Auge und verscheuchten die garstigen Sentimentalitäten.
In der Zeit, die zwischen dem Blitz und seinem Donner liegt, durchlebte Lian erst ihre zweite, anschließend die erste Ehe; um zwangsläufig bei Li anzukommen, ihrer ersten zärtlichen Freundschaft.
Und wieder waren die Bilder vom Flughafen und Long da, vor allem aber die Gefühle, als Long ihr von Li berichtet hatte. Ein Zittern vor Angst, der ehemaligen Freundin noch einmal unter die Augen zu treten. Die Furcht, abgewiesen zu werden, die Beklommenheit, selber die Freundin abzuweisen und dadurch alle Erinnerungen zu zerstören.
Doch je länger sie mit ihrem chinesischen Freund gesprochen hatte, desto mehr hatte sich ihr Muffensausen verkrochen wie eine Feldmaus sich bei Gefahr in ihr Erdloch zurückzieht.
Und wie diese Maus nach kurzer Zeit ihre lange Nase und die neugierigen Äuglein wieder über die Grasnarbe bringt, war Lian neugierig auf ihre Klosterschülerin geworden. Unbedingt wollte sie wissen, ob Li immer noch so schön und begehrenswert war, wie dazumal.
Mit dem Ausdruck eines verliebten Mädchens musterte sie Li. Lange verweilten ihre Augen in dem feuchten Haar, das der Schönen in Strömen über die Schulter floss. Ja, die Gegenwart übertraf die Erinnerungen um das Tausendfache.

Beim anschließenden Nachtmahl waren die beiden Frauen schnell wieder in einer Vertrautheit wie vor vielen hundert Jahren. Hell loderte in Lian der Wunsch auf, Li nicht nur alle Jubeljahre einmal zu sehen, sondern wieder wie früher mit ihr gemeinsame Abenteuer zu erleben.
 
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