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Vergessen wir die Zukunft.

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Es wird einen Wetterumschlag geben, für morgen hat der Wetterbericht Regen und tiefere Temperaturen angesagt. Zu dieser Jahreszeit heisst dies, dass der Sommer ganz plötzlich vorbei sein kann, dass von einem Tag auf den anderen der Herbst da ist. Nicht langsam und beinahe unmerklich wie in anderen Jahren, sondern plötzlich. Herbst mit Regen und Kälte und Nebel, mit frühen Abenden und Dunkelheit. Vielleicht noch ein paar schöne Tage dazwischen, aber Herbst.
Darum heute nochmals der kurze Spaziergang am See. Die Wegstrecke ist flach, es gibt eine Sitzbank zum Ausruhen, genau an der richtigen Stelle, dort wo die Kräfte langsam zu Ende gehen. Die Aussicht über die Weite des Wassers, das ferne Ufer im Dunst.
Sie haben diesen Weg viele Male zurück gelegt in den letzten Wochen, haben im Frühling die Natur am See erwachen sehen, sich an den Hagrosen im Ufergebüsch gefreut, an den balzenden Enten, dem brütenden Schwan.
Wenn nur diese Müdigkeit nicht wäre, hat er immer wieder gesagt, warum nur diese Müdigkeit. Und sie haben sich auf die Bank gesetzt, über den See geschaut.
Der Sommer hat Hitze gebracht, sie sind erst gegen Abend auf ihren Spaziergang am See gegangen. Es ist vermutlich die Hitze, hat er gesagt, die mich so müde macht. Ja, hat sie geantwortet, vermutlich ist es diese Hitze. Und sie hätte dies gerne geglaubt. Dann hat sie auf den Arztbesuch, den er immer wieder hinausgeschoben hat, gedrungen. Denn eigentlich hatten sie es beide gewusst. Aber das sagt man sich vielleicht im Nachhinein immer.
Seit einer Woche liegt das Resultat vor.
Wie geht man mit einer Krebsdiagnose um? Wie geht man als Frau mit dem Leiden des eigenen Mannes um?
Noch ist es warm, die Sonne scheint, die Hagebutten leuchten im Busch, das Abendlicht glitzert über dem See. Sie müsste etwas sagen, denkt sie, jetzt, irgend etwas, etwas das ihm gut tut. Aber es fällt ihr nichts ein, sie findet die Worte nicht. Sie sitzen auf der Bank, er hat seine grosse Hand auf ihren Oberschenkel gelegt, sie ihre Hand auf seine und sie würde gerne etwas sagen, aber alle Worte scheinen ihr unpassend.
Sie kann seine neue Erfahrung nicht mit ihm teilen, daran muss es liegen. So viele Erfahrungen haben sie in ihrem langen gemeinsamen Leben geteilt, zu dieser hat sie keinen Zugang. Sie kann versuchen sich einzufühlen, aber dies ist etwas ganz anderes als die Erfahrung selbst.
Schau wie schön, sagt er, und zeigt auf das letzte Kursschiff, das dem Ufer entlang fährt. Wie schön das alles ist, und er meint damit wohl nicht nur das Schiff, sondern den gegenwärtigen Augenblick, denn er ergänzt, vergessen wir die Zukunft.
Für einen Augenblick die Zukunft vergessen, den schönen Augenblick geniessen. Im Gegensatz zu mir hat er die richtigen Worte gefunden. Was die Zukunft bringt, wissen wir nicht, sie kann so oder so sein.
Morgen wird die Chemotherapie beginnen.
 
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Kommentare  

Danke Irmgard, Daniel und Axel! Ich habe mich über
eure positive Rückmeldung sehr gefreut


Rosalina Brand (03.09.2017)

Auch ich muss den anderen zustimmen. Wirklich rundum gelungen.

axel (01.09.2017)

Mal wieder ganz toll geschrieben... Ich hoffe nur, dass der Sommer noch nicht ganz vorbei ist.

Gruss Daniel


Daniel Freedom (31.08.2017)

Eine verträumte kleine Geschichte. Wunderbare Beschreibungen der Natur und ein Schluss der einen nachdenklich jedoch nicht melancholisch werden lässt. Einfach sehr gut geschrieben.

Irmgard Blech (30.08.2017)

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