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Nichts zu lachen

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Dienstagabend. Nie ist sie so müde wie am Dienstagabend. Und nie ist sie so glücklich wie am Dienstag. Auch wenn es der strengste Tag in ihrer Woche ist. Es ist ihr Grossmuttertag.
Sie muss vor sechs Uhr aufstehen, um früh genug da zu sein. Die Zugfahrt im überfüllten Pendlerzug, die Fahrt im Tram danach, und um acht Uhr allerspätestens muss ihre Tochter das Haus verlassen können um rechtzeitig an der Arbeit zu sein.
Für sie beginnt dann ein erfüllter, pausenloser Tag mit ihrer Enkelin Jonna. In einem Monat wird Jonna drei, stolz streckt sie drei Finger in die Luft. Drei. Wie ein Wirbelwind fegt sie durch den Tag, immer in Bewegung, immer begeistert, immer lachend. Auch sie die Grossmutter lacht, wie an keinem anderen Wochentag, an diesen Dienstagen mit Jonna. Das Lachen tut ihr gut, wenn sie daran denkt, leuchtet automatisch ein Lächeln um ihren Mund.
Jetzt, ist sie in dem Zug nach Hause. Zwar ist die Rush-Hour vorbei, aber der Zug ist immer noch stark besetzt. Sie betrachtet die Leute, einige wohl auch müde von ihrer Arbeit, sie sieht nichts als ernste Gesichter. Die meisten schauen in ihr Handy, einige sehen missmutig vor sich hin, jemand liest die Zeitung, einer sieht zum Fenster hinaus. Kein Anblick der zum lächeln reizt.
Sie schliesst die Augen, denkt an den Tag mit Jonna zurück. Und sie denkt an eine Mitteilung, die sie vor kurzem auf dem Bildschirm im Bus gelesen hat. Dass Kinder durchschnittlich 400 Mal am Tag lachen, Erwachsene im Schnitt 15 Mal. Krass, denkt sie, ob das wohl stimmt. Das mit den 400 mal bringt Jonna locker hin, Tag für Tag, das ist gewiss. Und ich? Am Dienstag überbiete ich ziemlich sicher die 15 Mal, dank Jonna, aber an den übrigen Tagen? Da gibt es vermutlich solche, wo ich nicht einmal dies schafft.
Dabei ist Lachen etwas, das zutiefst menschlich ist, kein anderes Tier kann lachen, Lachen und Menschsein gehören zusammen. Auch das hat sie einmal gelesen. Junge Menschlein können es, es hilft ihnen, die nötige liebevolle Zuwendung der Erwachsenen zu erhalten. Lächeln ist das, was sie neben dem Weinen am schnellsten können, so viel schneller als das reden, das laufen. 400 Mal am Tag.
Aber was passiert dann? Wann und wo wird es uns wieder abgewöhnt? So, dass es für Erwachsene nur noch gerade für ein paar wenige Momente des Lachens am
Tag reicht? Und dies meist auf die Freizeit reduziert. Wird auch bei Jonna ihr herzerfrischendes Lachen schon bald weniger werden?
Und wo hat sie selber ihr Lachen verloren? Ist es unsere Kultur, die dem Lachen nur einen kleinen Stellenwert beimisst neben dem sprichwörtlichen Ernst des Lebens? In anderen Ländern auf jeden Fall wird mehr gelacht. Ist es unser auf Optimierung ausgerichtetes Weltbild, das einen immer schnelleren Tackt vorgibt, der keine Zeit zum Lachen lässt? Oder ist es die Flut von negativen Meldungen, das Wissen um das ganze Elend dieser Welt, dem man hilflos ausgesetzt ist? Da vergeht einem das Lachen ganz schnell, da bleibt einem jedes Lachen im Halse stecken, da gibt es wirklich nichts zu lachen. Heute hat sie die Welt von einer anderen Seite erlebt, eine glückliche Gegenwart im kleinen, begrenzten Raum ihrer Familie, einem Ort, an dem sie wirkungsvoll handeln kann. An dem sie dafür sorgen kann, dass Jonna ihre Freude und ihr Lachen entfalten darf.
Verschiedene Seiten der gleichen Welt, alle genau gleich real.
Sie denkt an ihre kleine Enkelin, ihre kleine Lehrmeisterin Jonna, die ihr so überzeugend vorlebt, wie leben im gegenwärtigen Augenblick geht. Lebe jetzt, hier! Und verlerne das Lachen nicht.
Sie freut sich schon jetzt auf den nächsten Dienstag, ihren Grossmuttertag.
 
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Hat mir sehr gefallen. Und jedes Wort stimmt.

Evi Apfel (11.11.2024)

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