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4 Seiten

Die schöne Russin

Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester · Romantisches
Personen:

Erich Kronmeier, der Vater. Mit seinen 84 Jahren sehr rüstig, schlohweisses Haar, das er länger trägt als die meisten Männer seines Jahrgangs.

Alice Kronmeier, die Mutter. 76 Jahre alt, steht ihrem Mann mit ihrer Vitalität in keiner Weise nach, immer in Bewegung schafft sie es, mit ihren Augen und Ohren überall gleichzeitig zu sein.

Die Tochter Ursula. Sie gleicht ihrer Mutter auf’s Haar, sowohl was ihr Aussehen als auch ihr Temperament anbelangt, mit ihrem Mann Markus Sternbühl, früh ergraut mit schütterem Haarwuchs. Kunstliebhaber, und ausgewiesener Kenner der Renaissance.

Der Sohn Christian Kronmeier, mit seiner Ehefrau Cornelia, die ausschliesslich Designer-Kleider trägt, gerne und viel spricht und sich bewusst ist, dass sie für ihren Mann eine gute Partie war und daraus Kapital zu schlagen weiss.

Michael Kronmeier, ist der Jüngste der Familie, ein Nachzügler, 38 Jahre jung und freischaffender Künstler in Berlin, was immer das heissen mag.

Die Russin, von der Familie mit Neugierde erwartet, so wie an jeder Weihnachtsfeier im Hause Kronmeier die gerade aktuelle Geliebte des Jüngsten. Schon Tage vorher wird über ihr Aussehen, ihre Nationalität und ihr Alter gerätselt, sie ist die Person, die dem Fest das gewisse Etwas gibt, den Glanz des Überraschenden in der wohlgeordneten Normalität des jährlich Wiederkehrenden.

Der Ort der Handlung ist damit erwähnt: Der festlich geschmückte Tisch im Esszimmer des stattlichen Einfamilienhaus der Familie Kronmeier senior. Immer gleich dekoriert, mit der immer gleichen Speisefolge, darauf legen alle Kronmeiers wert und für die Angeheirateten ist es ebenfalls etwas, das sie nie anders erlebt haben.
Auch dass Alle bereits am Apéritiv sind und ungeduldig auf Michael und seine unbekannte Geliebte warten, entspricht dem jährlich wiederkehrenden Ritual.
„Er hat auch am weitesten“, nimmt die Mutter ihren Jüngsten in Schutz und denkt, hoffentlich ist ihm nichts passiert. Obwohl sie ja weiss, dass dies jedes Jahr so ist und irgendwann ihr Kleiner dann doch mit einem strahlenden Lächeln zur Tür herein kommt, mit immer einer neuen Ausrede.
So ist es auch dieses Mal:
„Die wollten doch wirklich an der Grenze meinen Ausweis sehen – und darf ich euch Dunja vorstellen?“
Dunja also, dieses Mal Dunja.
Und hier würde man, wenn dies wirklich ein Hörspiel wäre, eine Menge von Gedanken vernehmen, die sich gleichzeitig als vielfach verwobener Geräuschteppich um Dunja herum ausbreitet:
Mein Gott, diese tolle Figur, etwas mollig vielleicht – sie muss älter sein als die Vergangenen – ob man sich in Russland so kleidet, fast wie früher, das Kleid mit dem eng anliegenden Oberteil und dem schwingenden Rock – und wie die Waden über den Stiefelchen so prall sind, nicht dick, einfach prall – die nackten Oberarme sind prall, der Busen unter dem eng anliegenden Oberteil ist prall, alles fest und zugleich weich, das merkt man von blossem Auge – das muss sich in der Hand gut anfühlen – und wie das kleine Pelzchen um den Ausschnitt schmeichelt – der Ausschnitt ist ja nun vielleicht etwas zu tief – der ist genau richtig – und die aufgesteckte blonde Haarpracht, die sich wohl in lange, dichte Strähnen auflösen lässt – die perfekte Nackenlinie – das runde Gesicht mit der wohlgeformten Nase, den vollen Lippen – mein Jüngster hat wohl nicht nur einen guten Geschmack, sondern, mindestens dieses Mal, zudem auch ganz unverschämtes Glück.

Derweil gibt Dunja mit freundlicher Zurückhaltung allen die Hand, nein, sie kann noch kaum Deutsch, ist erst seit kurzer Zeit in Berlin – aber wie sprecht ihr dann miteinander? – mit Händen und Füssen und etwas Französisch und ich versuche Russisch zu lernen, eine schwierige Sprache.
Gläser klirren, es wird nochmals angestossen und Michael sagt etwas stockend wasche sdärowje und küsst dabei seine Dunjaschka sanft hinter ihr linkes Ohr.

Dann geht es zu Tisch, Stühle werden gerückt, Stimmengewirr – ach dieser schön gedeckte Tisch – das ist ja wohl mein Platz, wie letztes Jahr – bleib sitzen, ich hole die Vorspeise – du willst sicher auch vom Weissen?
Und wieder die Gedanken, vielstimmig, die um das Paradiesvogelpaar kreisen: Mit Händen und Füssen hat er gesagt, kann ich mir gut vorstellen, Körpersprache ist universell, hält sich nur an die Regeln der Betroffenen – bestimmt eine sehr sinnliche Frau, grosse russische Seele - eine kluge Frau, schade, dass man sich nicht mit ihr unterhalten kann.
Aber wenigstens beim nochmaligen Anstossen das wasche sdärowje. Ihr Lächeln dankt es auf alle Seiten.

Nach der Vorspeise kommt der Moment, der über den weiteren Verlauf des Abends entscheiden wird. Wie jedes Jahr nimmt Michael seine Geliebte um die Schulter, drückt sie an sich und zugleich in Richtung der Türe die zum Garten führt, der Himmel ist klar, die Sterne funkeln, der grosse Wagen steht direkt über dem Haus.

Die drei Frauen nun in der Küche: es gilt den obligaten Truthahn aufzuschneiden, diesen immer gleich gefüllten Truthahn, der etwas grösser war als die vier Enkel mit am Weihnachtstisch sassen, nun wieder kleiner geworden ist, seit sich die Jungen von den Feierlichkeiten bei den Grosseltern abgesetzt haben.
„Sie arbeitet auf der russischen Botschaft, hat irgendetwas mit Kunst zu tun, ich habe Mic nicht so richtig verstanden was es genau ist. Und französisch kann sie, weil sie es als Kind bei ihrer Grossmutter gelernt hat.“
“ Aha, gebildete Familie, aber bestimmt älter als Michael, ich schätze sie über vierzig, habt ihr die kleinen Fältchen um die Augen gesehen?“
„Mir gefällt sie, sie hat so etwas handfestes, hat genau die Bodenhaftung die Michael braucht. Da waren all diese Verflossenen ja die reinsten Puppen dagegen. Also mir würde sie als Schwiegertochter gefallen.“
„Maa, das sagst du jedes Jahr.“
„Vielleicht kann sie ja sogar meinen lieben Herrn Schwager finanziell unterstützen oder ihm mindestens Türen öffnen mit ihren Beziehungen, das ist immer gut für einen Künstler.“
Cornelia kann es nicht lassen, denkt die Mutter, sie denkt immer gleich ans Geld. Ja, wieder dieses Gedankengewirr: Auf jeden Fall habe ich die bessere Figur, geschmackvoller angezogen bin ich auch, sie wird mir meinen Platz in der Familie kaum streitig machen, also dieses Jahr keinerlei Grund zu Eifersucht – Mic hat dieses mal einen guten Geschmack bewiesen, keine dieser albernen Grossstadtgänse – und ob sie es hören wollen oder nicht, sie würde mir als Schwiegertochter gefallen.

Auch in der verwaisten Herrenrunde werden die Gedanken teils diskret verschwiegen – ein tolle Frau, diese Russin – ach, man sollte nochmals so frei sein können wie Michael, einfach zugreifen dürfen – diese sinnlichen Lippen – wie attraktiv doch dieses Mollige ist – und die Haare – und der Mund ...
Aber man kann ja nicht einfach zur Gartentüre starren und schweigen. Dieses wird vom Senior gebrochen:
„Ein richtiges Prachtsweib hat uns da mein Sohn dieses Mal mitgebracht, in meinem Alter darf man das sagen, da versteht es keiner mehr falsch. “
„ Sie hat auch etwas intelligentes, ich könnte mir vorstellen, dass sie nicht nur schön, sondern auch rundum eine tüchtige Frau ist.“
„Sie erinnert mich an eine der Frauenfiguren von Giogo Vasari“, meint Markus träumerisch.
„Mich erinnert sie an die Lara aus Doktor Schiwago, ja, genau, an Julie Christie. Auf jeden Fall eine Bereicherung, diese Frau am Tisch zu haben.“

Somit ist die Sache eigentlich geklärt, die Positionen bezogen, ohne dass daraus eine Missstimmung entstanden wäre. Im Gegenteil, es ist schön ein frisch verliebtes Paar in der Runde zu haben, in die glänzenden Augen zu sehen, zu beobachten, wie sehr sie das sich Zueinander- hingezogen- fühlen in einigermassen schicklichen Grenzen zu halten versuchen, sich von dem erotisierenden Gefühl anstecken zu lassen. Und dies, indem man um ein ganz natürliches Gespräch besorgt ist, das die gedanklichen Abschweifungen in Grenzen hält.

Irgendwann beim Nachtisch bückt sich Christian unter den Tisch um seine hinunter gefallene Serviette hochzuheben, sieht Dunjas hochgerutschten Rock und die kompliziert ineinander geschlungenen Beine des Paares. Er würde am liebsten mitschlingen, aber dies ist nicht nur aus anatomischen Gründen undenkbar. Er drückt dafür sein linkes Bein halb zufällig an das seiner neben ihm sitzenden Frau und spürt überrascht ihren Gegendruck, dazu ein ihm zugewandtes, liebevolles Lächeln. Und Ursula, die ihrem Bruder gegenüber sitzt fragt sich erstaunt, warum ihre Schwägerin ihren Mann so geheimnisvoll anlächelt. Was meine Schwägerin kann das kann ich auch, denkt Ursula und macht ihrem Mann ein überraschendes Kompliment das bei ihm, der nicht weiss wie ihm geschieht, ebenfalls ein strahlendes Lächeln auslöst. Was haben wir doch für ein Glück mit unserer Familie, denkt die Mutter oben am Tisch, der wie immer nichts entgangen ist. Und als sie dem Blick ihres Mannes begegnet weiss sie, dass er genau das Gleiche denkt wie sie.
Die Tischgemeinschaft löst sich früher auf als in anderen Jahren, es mag daran liegen, dass die Paare das Bedürfnis haben in ihre Zweisamkeit zurückzukehren.
Man schlüpft in die Mäntel, umarmt sich, verabschiedet sich.

„Fröhliche Weihnacht“, sagt die schöne Russin.
 
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Kommentare  

Hallo Rosalina,

deine kleine Geschichte hat mir sehr gefallen. Schön finde ich, wie du Dunja beschreibst; oder die Passage, wo sich die FesttagsteilnehmerInnen Gedanken zu Dunja machen. Dadurch wird das Bild von ihr erweitert. Am meisten gefallen hat mir aber dein Schachzug, dass Dunja der Auslöser wird für Lob und Freude. So wird es eine passende Geschichte zur Weihnachtszeit, der Zeit der Nächstenliebe.

Alles Gute, Frank.


Frank Bao Carter (04.02.2019)

Danke Harald, für deine Rückmeldung. Ich
freue mich, dass dir die kleine Geschichte
gefallen hat.
Rosalina


Rosalina Brand (28.12.2017)

Eine gelungene kleine Weihnachtsgeschichte. Hautnah, weil wie aus dem Leben gegriffen. Sie lässt einen schmunzelnd zurück.

Harald Schmiede (26.12.2017)

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