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4 Seiten

Der Anfang.

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Er hatte die Jalousie heruntergezogen, um die Sonne im Wohnraum auszusperren. Tag für Tag durchflutete diese tiefstehende Wintersonne die Räume hier in Spanien, bis an die hintersten Ränder. Die Geräusche aus der Küche gaben ihm die Gewissheit, dass seine Frau mit dem Abwasch beschäftigt war. Ungestörte Zeit für ihn.
Er hatte seinen Laptop vor sich aufgestellt, das Bild zeigte ein Ordonnanzvelo der Marke CESAR , Baujahr 47. Das fehlte in seiner Sammlung. Es war eine absolute Seltenheit an ein solches Stück zu kommen, der Preis war hoch, aber nicht überrissen. Eine Gelegenheit die man sich nicht entgehen lassen sollte, sie würde nie wieder kommen. Aber er hatte seiner Frau versprechen müssen damit aufzuhören, mit dieser Sammlerleidenschaft, die sie eine Sucht nannte und die es vermutlich auch war. Eine Sucht, die ihn zu überschwemmen drohte, die nicht nur ihn, sondern auch seine Frau, seine Ehe sein ganzes Leben unter sich zu begraben im Begriff war, und dem er nichts entgegen zu stellen vermochte.
Wann, fragte er sich, hatte dies alles seinen Anfang genommen? War es damals, als der kleine Junge, der er einmal war, sich so sehr ein Fahrrad wünschte, das er nicht bekam? Weil er noch zu klein sei, die Begründung. Als er älter wurde, war der Kauf an eine geforderte Verhaltensweise geknüpft, der er sich entzog und noch später sollte er selber seinen kleinen finanziellen Beitrag aus dem Taschengeld dazu leisten, um zu zeigen wie ernst es ihm sei, was er ebenfalls nicht schaffte. Er bekam sei erstes eigens Rad erst als dreizehnjähriger, das alte Rad seines Onkels, als dieser für sich ein neues kaufte. Ein altes Rad, das er mit passenden Ersatz-teilen in Schuss hielt, bis er sich von seinem Lehrlingslohn ein Occasionsrennvelo kaufen konnte. Aber es war sicher zu einfach, solche Kindheitserlebnisse für seine Leidenschaft verantwortlich zu machen. Wo also war der Anfang?
Seine Begeisterung für alles was mit Radfahren zu tun hatte, dauerte über seine ganze Jugendzeit an. Irgendwann leistete er sich ein wirklich teueres Rennvelo, was die Anschaffung einer ganze Menge an Zubehör mit sich zog. Seine finanziellen Möglichkeiten erlaubten ihm, sich keine zu grossen Einschränkungen auferlegen zu müssen. Er war ledig, hatte damals auch noch kein Auto, dafür ein weiteres Rad für den Arbeitsweg und irgendwann kamen dann die Klappvelos auf, von denen er sich sofort eines anschaffte. Drei Räder standen nun im engen Flur seiner Mietwohnung, die praktischer Weise im Parterre lag. In die Ehe brachte er bereits vier Velos mit, ein altes englisches Pasheley war noch dazu gekommen. Sie fanden alle im Veloraum des Miethauses ihrer ersten Wohnung Platz, und einige Schachteln von Zubehör verstaute er zuoberst in einem Schrank. Das war noch absolut überschaubar, gab keinen Anlass zu Besorgnis.
Wann also, hatte dann seine wirkliche Sammlerleidenschaft begonnen? Es gab damals noch kein Internet, man informierte sich über einschlägigen Zeitschriften, über die Kataloge von spezialisierten Händlern, über Messen und Tauschbörsen. Ja, das hatte ihn interessiert, war sein Hobby geworden, nicht mehr als ein Hobby, absolut im Rahmen des Normalen.
Anderes hatte ihn in jener Zeit mehr beschäftigt, seine berufliche Karriere, seine Familie mit den drei Kindern und dann der Hausbau. Da hatte er sich allerdings gefreut, für sein Hobby eine kleine Werkstatt einplanen zu können, und eine zweite Garage, in der die verschiedenen Räder der Familie ihren Platz finden würden. Denn zusammen mit den Rädern von Frau und Kindern, mit dem Veloanhänger und den Trottinettes war einiges zusammen gekommen, was bei den übrigen Mietern des Mehrfamilienhauses einen gewissen Unwillen, den Veloraum betreffend, auslöste.
Dieses Problem war aber mit dem Umzug in das Einfamilienhausquartier gelöst und die zweite Garage bot durchaus Platz für einige weitere Anschaffungen, zumal die Kindervelos oft ersetzt werden mussten. Weil ja auch die Werkstatt genügend Stauraum bot, nahm er die unbrauchbar gewordenen Fahrräder auseinander und verstaute die einzelnen Bestandteile in Schachteln und Kisten, die er sorgfältig beschriftete: Felgen, Schläuche, Sättel, Ketten, Naben, stand auf den handgeschriebenen Schildern. Mit seinem mittleren Sohn, der eine gewisse Leidenschaft für Fahrräder mit seinem Vater teilte, baute er aus lauter vorhandenen Bestandteilen ein neues Rad zusammen, in seiner Erinnerung etwas vom Schönsten, was er je erlebt hatte. Er flickte die Räder der Nachbarskinder, und bastelte an den eigenen Neuerwerbungen herum. Natürlich musste, wenn etwas nicht vorhanden war, das Entsprechende zugekauft werden. Die Schachteln und Kisten wurden zahlreicher und wurden im Trocknungsraum aufgestapelt, was mit der Zeit die Anschaffung eines Tumblers erforderte, da immer weniger Platz für die Wäsche blieb. Es war zu diesem Zeitpunkt, wo seine Frau zum ersten Mal intervenierte, auf einer Beschränkung seiner Neuanschaffungen und seines Platzanspruchs beharrte. Er versuchte, sich daran zu halten. Trotzdem hatten all die Fahrräder, die Bestandteile, die Helme , Handschuhe, Brillen und Taschen irgendwann im Kellergeschoss und in den Garagen keinen Platz mehr und sein gerade aktuelles Gebrauchsrad stand wie zu Junggesellenzeiten wieder oben im Flur. „Ohne mich“, sagte die Frau und stellte es hinter das Haus.
Aber dann kam das Internet. Damit hatte seine Sammelwut nun definitiv angefangen! Die Möglichkeit, sich zu informieren und sich mit anderen Sammlern auszutauschen explodierte, und wenig später die Möglichkeit, aus der ganzen Welt Waren zu bestellen und zugeschickt zu bekommen. Nun begann er wirklich zu sammeln, gezielt zu sammeln zuerst. Gute, teuere Stücke, die ihren Platz in den Wohnräumen erzwangen, dekorativ aufgestellt, an den Wänden aufgehängt. Dazu kamen aber immer öfter die Schnäppchen, die man vielleicht wieder eintauschen konnte - was er aber nie tat - Zubehör welches das Thema ergänzte, und Ersatzteile, die man vielleicht einmal brauchen oder mit denen man anderen Sammlern behilflich sein konnte, Spezialwerkzeuge, die für einzelne Marken und Typen notwendig waren. Die Kinder waren nun erwachsen und ausgezogen, die Kinderzimmer boten Raum für weiteres Material, füllten sich langsam, bis kaum noch Platz für ein Gästebett blieb. Seine Frau hatte ihren Widerstand aufgegeben, hielt ihr Arbeitszimmer, die Küche, das Bad und das Schlafzimmer velofrei, weigerte sich aber weiter Gäste einzuladen, weil sie sich für die mit immer mehr Waren vollgestopften Räume schämte.
Seine Pensionierung gab nochmals einen Schub. Nun hatte er viel Zeit für seine Recherchen, und die Pakete trafen in immer dichteren Folgen ein. Als er im Schlafzimmer einen Schrankteil räumte um seine Sammlung von Velohelmen einzuordnen, stellte ihm seine Frau ein Ultimatum:
„Entweder dein Ramsch oder ich.“ Ramsch hatte sie es genannt. „Ich kann in deinem Ramsch nicht mehr leben, mir fehlt die Luft zum Atmen.“ Sie hatte es ungewohnt aggressiv gesagt und sich in der Wortwahl vergriffen, wofür sie sich nachträglich entschuldigte.
Er merkte trotzdem, wie ernst es ihr war. Aber wie sollte er sich von all den Dingen trennen, die sich über die Jahre angesammelt hatten und die ihm so am Herzen lagen? Sie blieb hart, ihm etwas Zeit zu geben, war alles, zu dem sie bereit war. Sie hatten sich darauf einigen können, die Wintermonate in Spanien zu verbringen, im Haus von Bekannten. Ganz ohne Fahrräder, Fahrradbestandteile, Fahrradzubehör, Fahrradwerkzeug. Es blieb ihm nur sein Leptop. Mit der Nachbarin zu Hause hatte er heimlich vereinbart, dass sie ihm die Pakete aufbewahren werde, die vielleicht in seiner Abwesenheit eintreffen könnten. Für alle Fälle.
Er sah nochmals auf den Bildschirm, drückte aber blitzschnell die Löschtaste, als er hörte, wie seine Frau aus der Küchentüre trat.
Nein, er wusste nicht, wo das Ganze wirklich angefangen hatte, wo es aus dem Ruder gelaufen war und am allerwenigsten, wie er es beenden konnte.
Langsam zog er die Jalousien wieder hoch.
 
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