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3 Seiten

Der Gehängte

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Die letzten zwei Tage hatten ihr Leben auf den Kopf gestellt, sie hatte keinerlei Vorstellung davon, wie es irgendwie weitergehen könnte.
Aber heute morgen, nach einem kurzen, traumlosen Schlaf, hatte sie zum ersten mal nach den zwei verstörenden Tagen das Gefühl, dass sie wieder Zugang zu ihrer Fähigkeit hatte, auch in schwierigen Situationen klar denken zu können. Sie stand leise auf ohne ihren Mann zu wecken, und ging in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten, eine erste Tasse Kaffee zu trinken..
Es war aus heiterem Himmel geschehen. Oder vielleicht hatte sie die aufziehenden Wolken auch einfach übersehen. Das ist im Nachhinein leichter zu erkennen, als im gleichförmigen Ablauf des normalen Alltags. Dass jemand von seinem etwas zu üppigen Gewicht herunterkommt, wird erst einmal als etwas Positives gewertet, abnehmen war schon lange angesagt, aber immer wieder am konsequenten Handeln gescheitert. Jetzt ging es einfach, denn der Appetit war kleiner, selbst von seinem Lieblingsessen ass Paul nur noch vernünftig kleine Portionen. Bravo, hatte sie gesagt. Paul gefiel ihr mit etwas schlankerer Postur weit besser, erinnerte sie an den jungen Mann, der er einmal gewesen war. Nein, sie hatte nur den blauen Himmel gesehen, die Wolken waren weder ihr noch ihrem Mann aufgefallen.
Letzte Woche dann die jährliche Routineuntersuchung beim Hausarzt. Der Bericht über ein ungünstiges Blutbild, die schnelle Einweisung zu einem genaueren Untersuch im Spital. Dann, ohne Vorwarnung vorgestern die Diagnose: Pankreaskarzinom.
Der Blitz schlug ein.
An die Gespräche am ersten Abend konnte sie sich kaum noch erinnern, nur an diffuse Gefühle von Unverständnis, Wut und Trauer. An ein hilfloses sich Festhalten in einer langen Umarmung. An Tränen. An eine schlaflose Nacht in Einsamkeit, in der sie sich an den Rücken ihres Mannes schmiegte, ohne wirklich Nähe zu finden. Sie waren beide in ihrer je eigenen inneren Welt eingeschlossen.
Das Gespräch am zweiten Tag würde sie wohl immer in Erinnerung behalten.
Paul hatte sich, mindestens äusserlich, wieder gefasst. Er war so, wie sie ihn kannte, besonnen, ruhig, klar. Er war immer ein guter Gesprächspartner gewesen, aber nie ein Mann der vielen Worte. Vor allem, was ihn selber betraf. In schwierigen Situationen hatte er seine Probleme meist im Alleingang zu lösen versucht, hatte seine Entscheide im inneren Dialog getroffen. Das zu akzeptieren war ihr oft schwer gefallen.
So war es auch gestern gewesen. Er hatte ihr ganz sachlich, wie dies vermutlich der Arzt auch ihm gegenüber getan hatte, die Therapiemöglichkeiten und die Prognosen zu seiner Diagnose dargelegt. Darüber liess sich reden, dachte sie. Was zu tun war, sie würden es zusammen durchstehen. Sie dachte an die verschiedenen Möglichkeiten von Operation, Chemotherapie, Bestrahlung.
Paul sagte ruhig und sehr sachlich: Das ist kein Thema für mich. Ich will keine Operation, keine Chemotherapie, keine Bestrahlung.
Sie hatte ihn wohl nur fassungslos angeschaut und dann ziemlich unbeholfen gesagt: Aber du musst doch etwas tun!
Ich bin siebenundsiebzig, sagte er, ich habe ein reiches Leben gelebt. Wir haben beide in unserer Patientenverfügung festgehalten, dass wir keine lebensverlängern-den Massnahmen wollen. Hast du das vergessen? Sag jetzt nicht, dass du dies nicht ernst gemeint hast.
Ja, keine lebensverlängernden Massnahmen, das hatten sie, jeder für sich, gemeinsam so festgelegt. Sie erinnerte sich an die damit verbundenen Gedanken. Sie hatte sich dabei vorgestellt, dass sie bei einem Unfall nicht künstlich am Leben erhalten werden wollte, dass sie nicht über längere Zeit im Komma künstlich ernährt und beatmet werden wollte, und dies auch ihrem Mann nicht gegen seinen Willen zumuten konnte. Aber eine Krebstherapie war doch etwas anderes.
Aber eine Krebstherapie ist doch etwas anderes! Sie sagte es wohl etwas zu laut.
Nein, das ist kein Thema für mich, wiederholte Paul.
Aber es ist ein Thema für mich, es betrifft mich genau so wie dich, ich will darüber reden.
Nicht jetzt, bitte!
Er stand auf.
Ich drehe mit dem Hund eine Runde, das tut uns beiden gut.
Sie kam sich zugleich unverstanden und herzlos vor, enttäuscht, nicht besser mit einer solchen Situation umgehen zu können. Ihrem Mann in dieser schweren Situation keine bessere Stütze zu sein. Sie wartete, bis sie die Türe ins Schloss fallen hörte und war danach froh, einfach nur losheulen zu können, ohne dass sie damit jemanden störte.
Als sie sich wieder etwas gefasst hatte, googelte sie wild im Netz herum, auf der Spur von „Bauchspeicheldrüsenkrebs“, liess sich überschwemmen von Informationen, von tröstlichen bis zu den niederschmetternden. Sie schloss den Computer erst, als sie das Öffnen der Haustüre hörte und ihr kurz darauf die Hündin schmeichelnd um die Beine strich. Wie gut doch Tiere Stimmungen wahrnehmen konnten.
Für den Rest des Tages hatten beide wohl genug mit den eigenen Gedanken zu tun. Es war jetzt nicht die Zeit für Gespräche, das merkten beide. Das gemeinsame Stillesein fühlte sich im Moment besser an als Reden. Sie gingen ihren Beschäftigungen nach und beschränkten sich in ihren Worten auf gut gemeinte Nettigkeiten.
In der Nacht hatte sie wieder kaum geschlafen, hatte an den Atemzügen ihres Mannes abzulesen versucht, ob auch er wachliege oder vielleicht schlafen konnte. Erst gegen Morgen war sie in einen kurzen, tiefen Schlaf gefallen.
Und nun also das Gefühl, wieder Zugang zu klareren Gedanken und Gefühlen zu haben. Sie erinnerte sich an die Tarot-Karte des Gehängten, die sie immer auf eine besondere Weise angesprochen hatte. Dieser am rechten Fuss aufgehängte Mensch, kopfüber am Lebensbaum hängend, gezwungen, die Wirklichkeit aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen. Sie hatte die Karte immer als eindrückliches Bild für eine von aussen aufgezwungene Haltung angesehen, die einen Perspektivenwechsel forderte. Das Bild hatte sie in seiner einfachen Stimmigkeit fasziniert, allerdings als abstraktes Denkmodell. Jetzt sah sie sich ganz praktisch in dieser Situation. Sie musste eine neue Perspektive zulassen. Nicht ihr Leben stand auf dem Kopf, sondern ihr Blick auf das Leben.
Sie musste bereit sein darüber nachzudenken was die Weigerung ihres Mannes für sie beide bedeutete, sie musste bereit sein im Gespräch Lösungen zu suchen, musste auch bereit sein eine palliative Wahl mitzudenken und ihren Anteil dabei. Sie wollte bereit dazu sein, diesem letzten gemeinsamen Lebensabschnitt die bestmögliche Chance zu geben anstatt sich gegen den Tod zu wehren.
Sie setzte Kaffee auf, der Hund strich ihr um die Beine, sie hörte, wie Paul im Bad Wasser laufen liess. Sie würden es zusammen schaffen, auch wenn sie noch keine Ahnung davon hatte, wie dies geschehen sollte.
 
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Mal wieder wunderbar geschrieben!

Daniel Freedom (11.08.2022)

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