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Die Frau im Fenster

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Es ist das immer gleiche Abschiedsritual, das sich mit den Jahren so ergeben hat.
Sie hat ihn zum Lift auf ihrem Stockwerk begleitet, hat auf den Knopf gedrückt und das Geräusch hat gezeigt, dass sich der Lift in Betrieb gesetzt hat, die Türe hat sich geöffnet, er hat ihr nochmals zugezwinkert, bevor sich die Lifttüre wieder geschlossen hat. Sie hat gewartet bis sie das leise Klicken des Starts vernommen hat und danach wieder das Fahrgeräusch. Sie ist zurück in ihre Wohnung gegangen, hat die Türe sorgfältig hinter sich abgeschlossen und die Schuhe von den Füssen gestreift.
Nun steht sie barfuss am Fenster, zieht den Vorhang etwas zur Seite und wartet, bis sie ihn nochmals sehen kann, bis er bei seinem Wagen auf der gegenüberliegenden Strassenseite ankommt. Er wird sich dann nochmals umdrehen, zu ihr hochblicken, wird den Arm zu einem kurzen Gruss heben und sie wird zurück winken. Er wird die Türe seines Autos öffnen, sich hinter das Steuer setzen und wegfahren. Sie wird ihm lange nachsehen. Wenn er auf die Hauptstrasse einbiegt, wird sie sein Auto ein letztes mal kurz zu sehen bekommen.
Dann ist er weg.
Was folgt, ist die kurze Zeit zwischen seiner Anwesenheit und dem Warten auf seinen nächsten Besuch. Noch ist sie ganz erfüllt von seiner Gegenwart. Diese kostbare Zeit will sie auskosten, will den ganzen Abend nochmals vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen lassen. Obwohl es spät geworden ist, wird sie den Tisch abräumen, die Vase mit den Blumen auf den kleinen Tisch am Fenster stellen und das Geschirr in die Maschine stapeln. Eigentlich, denkt sie, ist dies der allerschönste Teil des ganzen Abends. Selbst an diesem, in allen Teilen gelungenen Zusammenseins, das ausgesprochen anregend und harmonisch verlaufen ist, war sie nie so völlig entspannt, wie sie sich jetzt fühlt. Entspannt und erfüllt. Das ist zwar meistens so nach seinen Besuchen, aber doch nicht immer. Wenn da Misstöne waren die sich nicht auflösen liessen, nein, dann ist dieser Moment nach dem Abschied kein guter, und meist die ganze darauf folgende Wartezeit nicht. An Abenden wie diesem aber, wenn das Zusammensein so schön und vertraut war, dann kann sie auch die Zeit bis zum nächsten Besuch als eine erfüllte erleben.
Sie stellt sich nochmals an das Fenster, sieht auf die Strasse, wo nun der Parkplatz leer steht. Sie wird gut schlafen in dieser Nacht, das Essen, der Wein haben sie schläfrig gemacht. Morgen werden es noch dreissig Tage sein bis zu seinem nächsten Besuch, in etwas mehr als einer Woche nur noch zwanzig. Sie weiss, dass sie jeden einzelnen der Tage zählen wird, und am letzten Tag die Stunden.
Nach dem Besuch ist vor dem Besuch.
 
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