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5 Seiten

Kinder der Nacht

Fantastisches · Kurzgeschichten
Nebelschwaden zogen langsam über die Felder hinweg. Vereinzelt konnte das Licht des Vollmondes dem Nebel in der Ferne einige Bäume entlocken. Sie ragten starr und trostlos in die Höhe. Hin und wieder unterbrach der Ruf einer Eule die Stille. In der Luft lag der feuchte Geruch von moderndem Herbstlaub. Und da war noch etwas anderes: Ein würziger Geruch, den ein sanfter kühler Windhauch mit sich trug, um den ersten Schnee anzukündigen.
Ich trat erst aus dem Nebel in den Wald hinein, als vermehrt lautes Knacken aus dem Unterholz erklang. Es war an der Zeit, sich den anderen anzuschließen. Das Rudel würde heute seit längerem wieder zusammen jagen.
Auf halber Strecke zu unserem Versammlungsplatz traf ich David, der den höchsten Rang in unserer Gruppe besaß. Er würde uns auch heute Nacht wieder anführen. Sein sonst blondes Haar glänzte weiß im fahlen Mondlicht. Hier im Wald wirkte er kaum wie ein gewöhnlicher Student. Unsere Blicke trafen sich flüchtig und wir nickten uns anerkennend zu. Dann zogen wir uns beide zurück.
Die Verwandlung verlief wie immer schmerzlos. Ein fast genießerisches Lachen entrann meiner Kehle bei dem Gedanken an die zahlreichen Filme aus dem fernen Hollywood. Es war eher so, als würde man für einen kurzen Moment in einen Zustand der Trance oder einen Rausch verfallen. Die Sinne waren mit einem Schlag viel klarer. In der Luft lagen plötzlich Tausende von unterschiedlichen Gerüchen und Geräuschen. Solange man sich noch nahe der Zivilisation befand, konnten sie manchmal unerträglich werden. Deswegen trafen wir uns auch in den fernen Wäldern. Dort, wo die Natur noch nahezu unberührt war und uns niemand störte. So wie es auch ursprünglich gedacht war.
Ein Zittern ging durch meinen Körper und ich schüttelte mich zufrieden, bevor ich eilig in Richtung des Platzes trabte.
Unser Rudel bestand aus zwölf grauen Wölfen ganz unterschiedlicher Statur. David fiel von allen am deutlichsten auf. Er war größer, seine Bewegungen geschmeidiger. Er strahlte Macht und Stärke aus, aber auch Ruhe und Güte. Dominique war das Alphaweibchen. Ihr Fell war beinahe weiß. Noch auffälliger war allerdings die Farbe ihrer Augen. Die anderen hatten bernsteinfarbene Augen, ihre jedoch waren fast stechend Blau.
David lag in der Mitte der Lichtung, sein Kopf ruhte auf seinen Pfoten, während er fast gemächlich darauf wartete, dass die Mitglieder des Rudels eintrafen. Dominique saß neben ihm und warf jedem einen tadelnden Blick zu, der zu spät kam. Ich legte mich neben Tristan, er hatte die Omegaposition im Rudel inne. Damit hatte er es von allen am schwersten. Er lief immer als letztes, fraß als letztes und seine Stimme wurde bei wichtigen Entscheidungen am wenigsten berücksichtigt. Aber auch seine Zeit der Anerkennung würde kommen. Denn so wollte es der ewige Kreislauf des Erwachsenwerdens.
Ich hatte Tristan wirklich gerne und suchte bei jedem Treffen seine Gesellschaft. Er hatte einen freundlichen Charakter und war neben David der Loyalste im Rudel. Ohnehin hatte ich oft den Eindruck, dass für viele die ganze Angelegenheit eher mit einem Spiel gleichzusetzen war, anstatt den wahren Wert dieses Geschenks zu verstehen und zu ehren. Denn ohne das Verantwortungsbewusstsein von David und Dominique würde dieses Rudel wahrscheinlich nicht funktionieren.
Nachdem auch der letzte Wolf eingetroffen war, erhob sich David und gab uns damit das Zeichen, ihm zu folgen. Sobald er die Lichtung verlassen hatte, rannte er los. Dies war die Aufforderung zum Spiel. Es war eher mit ?Hasch mich? zu vergleichen oder einer Art Aufwärmphase, bevor die eigentliche Jagd begann.
Ich liebte dieses Rennen in der Gemeinschaft, den sanften Klang der Pfoten auf dem Waldboden, die Laute von sanftem Knurren und fröhlichem Aufheulen, das Gefühl über einen Baumstamm zu springen, dessen andere Seite im Nebel verborgen lag, so dass man für einen Moment das Gefühl hatte, schwerelos zu sein. Die Energie des Wolfskörpers schien in unendlichen Mengen vorhanden zu sein und niemals weniger zu werden. Hier waren wir frei und wir selbst.
Ich knuffte Tristan liebevoll in die Flanke und ehe ich es richtig mitbekam, glichen wir einem rangelnden Fellknäuel, das im Nebel untertauchte. Dann stimmte David den Heulgesang an, in den augenblicklich alle einfielen. Es war ein Lied für den Mond, in dem wir ihn baten, unsere Jagd mit Glück zu segnen und uns zu beschützen.
Auf diese Art und Weise begann der schwierige Teil unserer Zusammenkunft. Das Rudel musste jetzt beweisen, wie gut seine Zusammenarbeit funktionierte. Jeder Wolf hatte seine eigene Position, die äußerst wichtig war, damit das Rudel zu einem Ganzen werden konnte.
Es dauerte nicht besonders lange, bis wir die Fährte eines noch sehr jungen Hirsches aufgenommen hatten und ihm durch den Wald folgten. Wir verteilten uns langsam im Dickicht, als wir merkten, dass wir unserer Beute immer näher kamen. Ich konnte ihn jetzt deutlich riechen und schielte zu David hinüber, der sich dicht auf den Boden gedrückt hatte und langsam vorwärts kroch. Also musste der Hirsch schon in Sicht sein. Und in der Tat konnte ich ihn entdecken. Er stand in hundert Metern Entfernung und trank aus einem Bach. Er hatte uns noch nicht bemerkt, was ein gutes Zeichen für eine erfolgreiche Jagd war. Jetzt nur keinen Fehler machen. Vorsichtig pirschte ich heran, darum bedacht, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen und auf einen Befehl von David wartend. Die Anspannung in meinem Körper steigerte sich fast bis zur Unerträglichkeit.
Eine Schneeflocke landete plötzlich auf meiner Nase und hinterließ ein kühles prickelndes Gefühl. Für einen Moment wurde ich aus meiner Konzentration gerissen und hätte fast das Signal für den Angriff verpasst. Mit einem Satz rannte ich los und ließ meinen Trieben freien Lauf. Jetzt regierte das Gesetz von Leben und Überleben meinen Körper. Ich nahm wahr, wie der Hirsch entsetzt die Augen aufriss und sich erschrocken auf den Hinterläufen drehte, um zu flüchten. Während wir ihn gekonnt einkreisten, nahm das Schneetreiben immer mehr zu. Er hatte nicht die geringste Chance zu entkommen. Er war zu unerfahren, um sich angemessen wehren zu können, sein Geweih zu schmächtig, um einem Wolf wie David Schaden zuzufügen. Geschickt tauchte David unter den Huftritten des Hirsches hinweg und verbiss sich in seiner Kehle. Dominique kam ihm zur Hilfe, um den Hirsch letztendlich zu Boden zu reißen.
Ich konnte mein eigenes Blut vor Aufregung in meinen Ohren rauschen hören, während das Blut des Hirsches sich auf den Waldboden auszubreiten begann und die frische, dünne Schneedecke rot färbte.
Eigentlich gehörten die Rangfolge und das Fressen zu den natürlichsten Dingen in einem Wolfsrudel, aber hier waren wir noch wachsamer, um einen Blutrausch zu vermeiden. Die Verantwortung, die wir trugen, war groß und die Gefahr, das Geschenk zu missbrauchen, das uns die Natur gegeben hatte, lag drohend über uns bei jedem Treffen und bei jedem Lebewesen, das wir töteten. Aber das Rudel hatte viel dazugelernt und auch die Hitzköpfigsten unter uns hatten ihre Bedürfnisse weitaus besser unter Kontrolle, als am Anfang. Denn jeder, der das Rudel entlarven konnte, indem er sinnlos tötete, musste selbst mit der Todesstrafe rechnen.
Heute jedoch musste kein Wolf die Reihen verlassen. Wir waren einfach nur satt und müde. Gemeinsam lagen wir Körper an Körper zusammengedrängt, um uns Wärme zu spenden, und verbrachten so einige Stunden zusammen die Nacht im Schutz des Rudels, bevor wir zur Lichtung zurückkehrten, wo wir uns voneinander verabschiedeten. Bald war es wieder an der Zeit, in die andere Welt zurückzugehen, in einen Körper mit dem wir uns nicht wirklich verbunden fühlten, denn unsere Seele war die eines Wolfes. So trat ich zurück aus dem Wald auf das mit dicken Nebelschwaden bedeckte Feld hinaus, in der Gestalt eines Menschen.

Und das war auch gleichzeitig der Moment, in dem ich meine Augen öffnete und aus der tiefen Phase der Meditation in die Realität zurückkehrte. Langsam nahm meine Umgebung Konturen an. Ich saß in meiner üblichen meditativen Haltung in der Mitte meines Zimmers. Alles um mich herum war dunkel. Das Feld und der Wald waren fern in einer Welt jenseits der Vorstellungskraft der meisten Menschen. Kaum einer von ihnen erahnte den Schatz, der in einem jeden von uns ruht.
Ich stand auf und trat ans Fenster, um die Vorhänge zu öffnen und das Licht des bereits abnehmenden Mondes erhellte mein Zimmer. Im Südwesten stand der Orion noch immer hoch am Firmament, während aus der Ferne das Rauschen der Autobahn an mein Ohr drang. Meine Gedanken gingen fast wehmütig zurück zu meiner letzten Meditation. Es war seit Langem eine der intensivsten Sitzungen gewesen, die ich gehabt hatte. Wenn ich zwischen diesen Welten wählen könnte, so würde ich mich für mein Rudel entscheiden. Aber ich wusste, dass ich meinem menschlichen Körper nicht entkommen konnte. Also versuchte ich das, was ich im Rudel lernte, auch auf mein jetziges Leben anzuwenden. Ich versuchte Ohren und Augen für die Dinge zu öffnen, von denen sich viele abwendeten. Ich beobachtete aufmerksam das Verhalten der Gesellschaft, von der ich ungewollt ein Teil war. Aber ich lebte in Furcht. Furcht davor, von ihrer Homogenität verschluckt zu werden, von ihren unnatürlichen Gesetzen verschlungen und regiert zu werden, ohne zu wissen, was es wirklich bedeutete, frei zu sein und nur der Natur zu gehören und denen, die einem lieb waren, die man respektierte, weil auch sie einen respektierten.
Allerdings hat die Arbeitswelt alle Menschen fest im Griff, denn sie beeinflusst uns schon seit unserer Kindheit, durch unsere Familie und unsere Erziehung. Unser Denken wurde durch diese Regeln eingeschränkt, weswegen wir kaum noch in der Lage sind, noch einmal selbst ganz von vorne zu beginnen, auch dann nicht, wenn wir es wirklich wollten. Deswegen werde ich mit jedem grauen Morgen - der es wagt, zu beginnen - eine weitere Maske aufsetzen müssen, wenn ich das Haus verlasse. Denn ich habe Angst, erkannt zu werden.

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Kommentare  

Hallo Mes Calinum!
Spitzenmäßige Geschichte. Derart lebensecht geschrieben, dass man denken könnte ...äh ...ich hoffe du bist nicht in Wahrheit eines dieser...hm... Kinder der Nacht?


doska (07.02.2009)

Klasse.
Man merkt dir deine Begeisterung für die Wölfe an.
Deine Ansicht über das tragen der Maske, die jeder von uns trägt um in unserer Gesellschaft zurecht zu kommen, kann ich nur voll zustimmen.
Tiere sind in dieser Beziehung auf jeden Fall ehrlicher als es je ein Mensch sein könnte.
Für mich hast du mit dieser Geschichte auch einen kleinen Beweis erbracht das nicht der Wolf die "Bestie" ist sondern der Mensch.
Schlißlich hat nicht der Wolf UNS an den Rand der Ausrottung gebracht.


Drachenlord (30.01.2003)

Meine Hochachtung.
Du hast es geschafft, eine Spezies, die von den Menschen gemeinhin als "Bestien" eingeordnet werden, sehr sympathisch darzustellen: Die Wölfe (WERwölfe gar). Der Schlüsselsatz der ganzen Geschichte lautete für mich jedoch: "...einer Welt jenseits der Vorstellungskraft der meisten Menschen. Kaum einer von ihnen erahnte den Schatz, der in einem jeden von uns ruht." Hier spricht jemand, der sich sehr für spirituelle Belange interessiert und mit veränderten Bewusstseinszuständen bereits entsprechende Erfahrung gemacht hat.
Schöne Story - und zugleich Aufforderung, die inneren "Schätze" mal etwas näher in Augenschein zu nehmen.
Volle Punktzahl


Gwenhwyfar (04.07.2002)

Geil! Das war das Erste, dass mir dazu einfiel. Zum Schluss war man ein bisschen sauer auf den Schreiberling, der es nicht zuließ, dass die Fantasie Wirklichkeit wurde...
die Beschreibung der Jagd und die Auffwärmphase davor war präzise und kam prima rüber. Das hat Spass gemacht. Und hungrig...auf MEHR!


Stefan Steinmetz (24.06.2002)

Eine aussergewöhnliche Umsetzung der Werwolf Legenden und gleichzeitig der Hinweis das wir alle mit der Maske des Funktionierens rumlaufen.
Damit es kein Chaos gibt.So habe ich die Storie verstanden und für gut befunden. 4 Punkte


Wolzenburg (14.06.2002)

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