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10 Seiten

Everytime I looked into that mirror...

Romane/Serien · Nachdenkliches
In meinem Badezimmer hängt dieser Spiegel, was an sich nichts Ungewöhnliches ist, aber es ist ein ganz besonderer Spiegel.
Wenn ich lange genug vor diesem Spiegel stehen bleibe, dann sehe ich mein Leben. Aber nicht das Leben, das ich im Hier und Jetzt lebe, sondern ein ganz anderes, viel seltsameres Leben. Ein Leben, das mich unheimlich belastet, über das ich gerne mit jemandem sprechen möchte. Doch das Schreckliche daran ist, dass ich nicht weiß, wie ich darüber berichten soll. Wenn man in einen Spiegel blickt, dann sieht man Bilder. Und in meinem Fall sind es Bilder, die lebendig geworden sind. So unheimlich echt, dass ich die Person auf der anderen Seite spüren kann, wenn ich meine Hand ausstrecke.
Aber mittlerweile habe ich so viel Angst vor dieser Welt, dass ich deswegen zu einem Psychologen gehen muss. Ich brauche einen Rat oder wenigstens ein Medikament, das diese Bilder verschwinden lässt, regelrecht abtötetet, auslöscht - für immer. Ich halte diesen Schmerz nicht länger aus.
Alles was ich will, ist jeden Tag normal zur Arbeit gehen, wie jede andere Person auch. Ich will von meinem Chef gelobt werden, mich mit meinen Kollegen unterhalten und abends nach Hause gehen, mit dem Wissen, dass ich etwas für die Gesellschaft geleistet habe. Ich will mich mit diesem Gefühl der Erfüllung vor den Fernseher setzen, ich will erleben, wie es ist, einfach nur die Beine hochzulegen und sich berieseln zu lassen. Es ist der Grad von Erschöpfung, den ich Suche, der einen in einen tiefen, traumlosen Schlaf hinüber gleiten lässt. Alle Probleme sind vergessen bis der Wecker klingelt und alles von neuem beginnt.
Aber ich kann nicht. Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht. Es ist dieser verdammte Spiegel. Jedes Mal, wenn ich hinein sehe, dann gehe ich in diese andere Welt. Und zu Beginn dachte ich, dass ich dorthin aus Freundschaft gehe. Dann dachte ich, es ist Liebe und heute denke ich, es ist krank ein zweites Leben hinter einem Spiegel zu führen. Nicht normal - balla balla in der Birne.

***

Und dabei fing es so harmlos an. Ich stand eines Abends vor meinem Spiegel und war so erschöpft, dass ich kaum noch die Augen offen halten konnte. Und dann geschah es einfach und ohne Vorwarnung. Ich sah mich zwar selbst im Spiegel, aber nicht mein Badezimmer. Anstelle des Bads befand sich eine Straße hinter mir. Ich selbst stand auf dem Bürgersteig und blickte mich an. Passanten gingen hinter mir vorüber, aber sie nahmen mich nicht zur Kenntnis. Als ich die Hand ausstreckte, um den Spiegel zu berühren, da fand ich mich auf der anderen Seite wieder. Ich stand vor einem Schaufenster und meine Hand ruhte auf der Glasscheibe. Es war ein lustiges Spiel mit meiner Wahrnehmung, auf das ich mich zu Beginn voller Abenteuerlust einließ.

Doch das eigentliche Problem an der Sache fing an diesem ganz besonderen Abend an, in dem Restaurant in der fünften Straße hinter dem Spiegel. Ich besuchte die Welt hinter dem Spiegel schon seit einigen Monaten. Nur an diesem Abend bekam ich zum ersten Mal kalte Füße. Denn das Leben hinter dem Spiegel war viel komplizierter - überwältigender. Man hielt es einfach im Kopf nicht aus.
Ich glaube, dieser besondere Abend war im Januar. Ich kam wie immer von der Arbeit. Ich fühlte mich ein wenig leer, obwohl ich einen erfolgreichen Tag hinter mir hatte. Als ich in den Spiegel schaute, spürte ich, wie so oft diesen Nervenkitzel. Ich wusste, dass Shawn mich an diesem Abend unbedingt sehen wollte. Ich hatte ihn einige Wochen zuvor hinter dem Spiegel kennen gelernt. Er kellnerte in diesem kleinen Cafe, das ich dort manchmal besuchte, um einfach nur die Leute zu beobachten, die aus und eingingen. Jedenfalls hat er mich dann an einem Abend ins Kino eingeladen, und weil er mir auf Anhieb sympathisch war und ich es mochte, wenn er mich zum Lachen brachte, gingen wir hin und wieder zusammen essen. Natürlich nicht zu oft, denn ich hatte ihm gegenüber immer ein schlechtes Gewissen. Ich belog ihn nicht direkt, aber die Tatsache, dass ich vor einem Spiegel lebte und er dahinter, das konnte ich ihm nicht erzählen. Aber alles andere schon.

Shawn saß bereits am Tisch, als ich eintraf. Der Kellner nahm mir die Jacke ab und ich lächelte Shawn zur Begrüßung zu. Er hob flüchtig die Hand und rang sich ein steifes Lächeln ab. In diesem Moment beschlich mich ein unbehagliches Gefühl. Vielleicht war etwas Schlimmes passiert, aber ich bildete mir das sicher nur ein.
Er blickte nachdenklich auf die Kerze, die vor ihm stand, während ich mir meinen Weg zu ihm bahnte. Das Restaurant machte wirklich einen überfüllten Eindruck an diesem Samstagabend.
Für viele Frauen war der Mann, der dort am Tisch saß und auch mich wartete, sicherlich der absolute Magnet. Er trug ein dunkelgraues Seidenhemd, das seine breiten Schultern betonte und eine schwarze Hose. Seine dunklen Augen funkelten lebhaft, als ich mich zu ihm setzte. Für mich war er Shawn, der immer eine witzige Bemerkung parat hatte und dem keine Umarmung zu wenig erschien, wenn der Tag grau, kalt und Trist war. Er war ein gemütlicher Teddybär und manchmal neckte ich ihn, in dem ich ihn Teddy nannte.
Seine schwarzbraunen Haare standen ein wenig wirr nach oben und ich musste Schmunzeln.
"Für den Kamm hat es heute nicht mehr gereicht, was?" Ich grinste ihn höhnisch an und er versuchte hektisch die Haare nach unten zu drücken.
"Tut mir leid, ich bin ein wenig zerstreut in letzter Zeit." Seine sonst so tiefe, lebendige Stimme, ging in einem zurückhaltenden Flüstern unter.
"Ist mit dir auch alles in Ordnung?", fragte ich jetzt doch ein wenig besorgt nach.
"Es ist nichts, denke ich." Er wandte sich ab und winkte den Kellner heran.
Ich war jetzt wirklich misstrauisch, aber doch höflich genug erst einmal die Bestellung aufzugeben.
"Shawn?"
"Hm?"
"Du weißt, ich verbringe wahnsinnig gerne Zeit mit dir, aber heute Abend machst du mir wirklich Angst. Was ist los mir dir?"
Er atmete tief durch und umklammerte sein Wasserglas.
"Kannst du dich an den Abend vor zwei Wochen erinnern?"
"Als wir in der Sternwarte waren?"
"Richtig. Aber ich meine danach, als wir noch eine Weile draußen auf dem Parkplatz gestanden haben und du mir die Geschichte über dieses Sternbild, den Bärenhüter, erzählt hast." Er schaute mich abwartend an.
Ich nickte und fragte mich, was mit der Sternwarte geschehen sein konnte, aber das meinte er wohl nicht.
"Es war eiskalt und wir haben sehr nahe nebeneinander gestanden. Für einen Moment habe ich mich gefühlt, als würdest du mir eine neue Welt zeigen, von der ich vorher noch nichts gewusst habe... vor allem nicht wie wunderschön sie ist."
"Dann werde ich dir nächste Woche ein Buch über griechische Mythologie schenken", dachte ich mir und lächelte.
"Und das bereitet dir so viel Kummer? Es ist doch wunderbar neue Interessen zu entdecken."
Für einen kurzen Augenblick verschwand das Leuchten aus seinen Augen, und er sah mich abschätzend an.
"Wir können nächste Woche gerne wieder ...", begann ich und er schnitt mir das Wort ab.
"Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt."
Seine Stimme hallte wie ein Echo in meinem Kopf und irgendwo machte es klick. Ich blickte ihn an, als wäre ich in der ersten Runde k.o. gegangen.
"Hasst du mich jetzt?", fragte er besorgt, als ich nichts erwiderte.
Wenn Hollywood für mich Drehbuch schreiben würde, dann hätte ich etwas sehr Weises geantwortet, etwas wie "ich hasse dich doch nicht" oder "ich liebe dich auch".
"Okay", war alles was ich sagte.
Es war ein wunderbarer Moment, um sich unter den Tisch zu setzen. Ich sah ihn hilflos an und bemerkte wie jetzt langsam Panik in seinen Blick trat.
"Vielleicht sollten wir erstmal gehen", sagte ich trocken.
Er nickte niedergeschlagen und während ich meine Jacke holte, versuchte er dem Kellner zu erklären, dass die Bestellung geplatzt war.

Ich trat hinaus vor das Restaurant und seufzte laut. Eine kleine Kondenswolke stieg nach oben und ich blickte ironischer Weise sofort zu den Sternen.
"Was war dort eben passiert?", fragte ich mich selbst. Warum habe ich ihm nicht gesagt, was ich überhaupt empfinde. Vielleicht, weil ich nicht wusste, wie meine Gefühle ihm gegenüber standen. Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich ihn nicht liebte, aber ich war auch nicht dazu in der Lage ihm um den Hals zu fallen.
Mir war klar, dass er sich meinetwegen schrecklich fühlen musste. Diese Vermutung bestätigte sich, als er aus dem Restaurant kam, die Fäuste in die Jackentaschen geballt und die Schultern hochgezogen. Er wirkte plötzlich so verletzlich. Konnte ich mir ein Leben mit ihm zusammen überhaupt vorstellen?
"Es tut mir so leid", begann er plötzlich. "Ich wollte unsere Freundschaft nicht kaputt machen." Er griff flehend nach meiner Hand. "Ich wusste einfach nicht mehr weiter. Alles was ich in den letzten beiden Wochen im Kopf hatte, warst du. Der Gedanke, dich nicht in den Armen halten zu können... es war schrecklich, als hätte mich jemand gefesselt und in einen Kerker gesteckt. Und ich wollte dich doch nur einmal in die Arme nehmen. Nur ein einziges Mal, dann brauche ich nie wieder loszulassen."
Er hatte definitiv den überzeugenderen Drehbuchautoren verinnerlicht, und ich merkte wie mir Tränen in die Augen stiegen. Warum musste es so unendlich kompliziert sein? Hätten wir nicht einfach Freunde bleiben können?
"Verdammt", sagte ich und schloss ihn in die Arme. Ja, ja ich hatte ihn wahnsinnig gern, aber an eine Beziehung mit ihm hatte ich bisher noch nie gedacht.
Ich konnte getrost behaupten, dass seine Umarmung in diesem Moment sehr gut tat. Ich spürte wie sein Herz hämmerte und das war vielleicht das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe. Er war so erschreckend ...echt.
"Teddy ...", begann ich, nachdem ich mich aus seiner Umarmung gelöst hatte, und erstarrte. Er hatte seinen Fingern auf meine Lippen gelegt und schaute mich einen Moment an, als wäre ich ein seltener Edelstein.
Und es war dieser Moment, den es in der Wirklichkeit zwischen zwei Menschen einfach nicht geben konnte, als ich sanft seinen Hemdkragen ergriff und ihn zu mir zog.

Und wer würde versuchen alles wegzuschmeißen, was vor uns lag? Ich natürlich.

Ich verbrachte einige schlaflose Nächte in meiner Wohnung, wälzte mich hin und her und wusste nicht was ich tun sollte. Mein Herz verlangte danach sich gehen zu lassen, einfach in diese Beziehung hineinzudriften und sich dem Verlangen nach Geborgenheit und Wärme hinzugeben. Mein Verstand kreischte in warnenden Tönen. Und ich wusste, dass mein Verstand Recht hatte. Ich konnte nicht in einer Welt hinter einem Spiegel leben. Ich hatte ein gutes, solides Leben, alles andere war Materie der Traumfabrik. Nie und nimmer möglich, nicht echt.

Und so ging ich jeden Tag zur Arbeit und versuchte Shawn zu vergessen. Anfangs unterlag ich beinahe der Versuchung in der Welt hinter dem Spiegel zu versinken, aber ich hielt mich zurück. Blieb nur ab und an davor stehen, um Shawn aus der Ferne zu beobachten. Ich sah ihn in seinem Apartment auf und abgehen. Manchmal blieb er vor dem Fenster stehen, ein andermal setzte er sich auf den Boden zwischen den Türrahmen und starrte auf die Haustür, an der ich gelegentlich geklopft hatte, um ihn abzuholen.
Oft saß er auch einfach nur im Wohnzimmer, mit dem Telefon auf dem Schoß bis es dunkel wurde. Dann berührte ich manchmal die Oberfläche des Spiegels und flüsterte, dass es mir leid tat.
Am Ende durchwühlte er das Telefonbuch, machte sich Notizen und führte viele Telefonate. Ich glaube, er hat so viele Namen von seiner Liste gestrichen, wie der Strand Sandkörner besitzt.
Schließlich kam der Abend, an dem ich das letzte Mal den Spiegel berührte. Er saß an seinem Schreibtisch und schrieb an einem Brief. Und ich sagte ihm - Auf Wiedersehen.
Aber wirklich vergessen konnte ich ihn nicht

Einige Tage später, kam ich erschöpft von der Arbeit nach Hause und nahm die Post mit nach oben.
'Wie immer nur Rechnungen', dachte ich und griff verwundert nach einem blauen Briefumschlag. Meine Adresse schaute mich in einer sauberen Handschrift an. Erstaunt warf ich den Rest der Post beiseite, riss den Umschlag auf und nahm den Inhalt heraus.
Ich faltete ein Zertifikat auseinander, und ein kleiner Zettel fiel zu Boden. Mein Blick aber blieb erstaunt auf das Zertifikat gerichtet. Es war eine Besitzerurkunde für einen fernen Stern, der sich irgendwo im Herzen des Bärenhüters befand. Ich spürte einen Stich tief in meinem Inneren. Als ich mich nach dem kleinen Zettel bückte, zitterte ich bereits am ganzen Körper.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor ich mich durchringen konnte den Zettel auseinander zu falten.

- Mein Herz ist dein Stern -
Shawn

Ich zerknüllte ihn in meiner Hand. Warum mir gerade jetzt Tränen in die Augen schossen, war mir nicht klar. Hass, Liebe, Verzweiflung - so ziemlich alles alberne, was man in so einem Moment empfinden konnte, breitete sich in mir aus wie ein Bienenschwarm.
Ich war davon überzeugt, dass ich so viel Zeit hinter dem Spiegel verbracht haben musste, dass ich nicht mehr in der Lage war die Wirklichkeit von der Phantasie zu unterscheiden.

***

Der Schritt in das Zimmer mit der berühmten Couch ist vielleicht der schwerste, den ich jemals gemacht habe. Doch ich weiß, wenn ich heute nach Hause gehen werde, dann ist der Spuk vorbei.

Der Psychotherapeut hört sich meine Geschichte aufmerksam an. Er unterbricht mich nicht, bis ich zu der Stelle komme, wo ich über den Inhalt des Briefes berichte.
"Haben Sie den Brief aufgehoben?", will er von mir wissen.
Ich krame den zerknitterten Umschlag aus meiner Tasche und reiche ihn dem Doktor. Mir wird bewusst, dass ich den Brief immer bei mir getragen habe in den letzten Tagen.
"Darf ich ihn öffnen?", bittet er mich.
Ich nicke nur und starre die Decke an.
Nach einer Weile höre ich, wie der Arzt den Brief zusammenfaltet und zurück in den Umschlag steckt.
"Warum wollen Sie, dass ich ihnen ein Medikament verschreibe?", fragt er schließlich.
"Damit ich aufhöre naiven Phantasien nachzuhängen und mich wieder meiner Arbeit widmen kann. Ich kann sonst an nichts anderes mehr denken."
"Sagen Sie, hatten Sie jemals eine ernsthafte Beziehung?"
"Nein, nur einige kurze, flüchtige Bekanntschaften. Ich habe nie den richtigen gefunden und ich glaube auch nicht wirklich, dass es meinen Mr. Perfekt irgendwo dort draußen gibt."
"Können Sie sich vorstellen, warum Sie sich gerade Shawn ausgesucht haben? Denn er scheint schließlich ein Produkt ihrer Phantasie zu sein."
Ich schweige und schüttele letztendlich den Kopf.
"Lieben Sie Shawn?"
Und wieder folgt die Stille. Doch nach einer Weile nicke ich zaghaft.
"Ich sehe ihn immer wieder vor mir, als hätte sich sein Bild in meine Seele eingebrannt", flüstere ich.
"Glauben Sie, er wäre Ihr besonderer ...Mr. Perfekt, wie Sie ihn nennen?"
"Nein, er ist irgendwie ...anders. Es ist, als würden wir uns schon ewig kennen." Ich seufze beinahe. "Kennen Sie das, wenn sie alleine sind und sie etwas beschäftigt und sie das in Gedanken irgendwem erzählen, der gar nicht da ist? So jemand ist Shawn. Sie können ihm so ziemlich alles erzählen, was sie gerade beschäftigt."
"Woher, denken Sie stammt dieser Brief, wenn Sie ihn nicht selbst geschrieben haben?"
Zum ersten Mal sehe ich den Arzt fragend an.
"Sie sollten seine Wohnung suchen."
"Ich will nicht zurück in diese Welt."
"Ich meine nicht Ihre Welt hinter dem Spiegel. Suchen Sie dieselbe Adresse hier, in dieser Welt."
Ich überlege einen Moment, wie es aussehen würde, wenn ich an der Tür klingele, ein altes Ehepaar öffnet und ich ihnen zu erklären versuche, dass ich angenommen hatte bei ihnen meinen imaginären Freund zu finden.
"Verschreiben Sir mir einfach nur ein Medikament, damit der Spuk endlich aufhört. Bitte."
Ich sehe ihn flehend an.
Er hebt die Augenbrauen und wirft mir einen prüfenden Blick zu.
"Ich denke nicht, dass Ihnen geholfen ist, wenn sie jetzt davon laufen. Sie sollten sich Ihrem Problem stellen, eine Lösung finden. So etwas erlebt man schließlich nicht jeden Tag."
Ich spüre, wie sich meinen Magen zu der Größe einer Haselnuss zusammenzukrampfen droht.
"Ich habe nur dieses eine Problem und das ist am besten gelöst, wenn es verschwindet. Und zwar so schnell wie möglich", sage ich verbissen.
Wieder dieser prüfende, eindringliche Blick.
"Es ist Ihre Entscheidung. Sie müssen wissen, was Ihnen wichtiger ist."
Ich runzele für einen Moment die Stirn. Sind Psychologen nicht dazu da einem zu helfen? Stattdessen fordert er mich unterschwellig auf meinen Träumen hinterher zu jagen; damit es mir noch schlechter geht und er natürlich noch mehr Geld an mir verdienen kann.

An diesem Freitagvormittag gehe ich dennoch mit einem ganz neuen Gefühl nach Hause. Siegessicher drehe ich die kleine Plastikdose, die sich in meiner Jackentasche befindet, in meiner Hand hin und her. Ich darf sie nicht loslassen und schon gar nicht verlieren. Sie ist mein Weg zu innerem Frieden.
Ich renne förmlich die Treppen zu meinem Apartment hinauf und stürme in die Küche, um ein Glas mit Wasser zu füllen. Dann lege ich zwei der blauen Pillen neben das Glas. Und ich bleibe lange stehen und schaue die Pillen an.
Ich werde ihn nie wieder sehen. Das ist doch gut, oder etwa nicht? Aber was, wenn er wirklich dort draußen wohnt? Warum zur Hölle war er dann hinter dem Spiegel?
Ich greife letztendlich doch nach einer der Pillen und dem Glas. Mein schlechtes Gewissen divergiert ins Unendliche, während ich die Pille in den Mund stecke.

Eine halbe Stunde später stehe ich vor tausenden von Stofftieren, die die Kunden Mitleid erregend aus den Regalen von Fao und Schwarz anblicken und liebäugele mit einem kleinen Teddybären.
Ich konnte diese blöde Pille einfach nicht schlucken. Und ich werde es auch nicht können, nicht bevor ich mir sicher bin. Also habe ich mir einen Plan ausgedacht. Ich werde einen Teddy kaufen, ihn vor die Türe setzen, klingeln, mich verstecken und abwarten. In jedem Fall werde ich einem Menschen eine kleine Freude bereiten. Also hat die ganze Sache auch noch etwas Gutes.
Und so setze ich mich tatsächlich in die U-Bahn. Allerdings habe ich eher das Gefühl in Trance zu sein. Mein Herz pocht wie ein Vorschlaghammer und die berühmten Gummibeine lassen auch nicht lange auf sich warten.

Doch als ich endlich vor dem Haus stehe, habe ich das Gefühl einen Herzschrittmacher zu benötigen. Ein unheimlich peinliches Gefühl überkommt mich, und ich überlege, ob ich nicht doch einfach zurück nach Hause gehen und die blöden Pillen schlucken sollte. Dann würde alles wie vorher sein.
"Hach sei nicht so feige", denke ich mir, lege den Teddy vor die Türe, drücke auf die Klingel, bevor ich es mir anders überlege und erschrecke mich zu Tode, als ich bereits die ersten Schritte im Haus höre.
Ich suche hilflos nach Deckung und springe hinter den erstbesten Busch im Vorgarten. Obwohl ich mir die Hand vor Mund und Nase drücke, muss mein Atem noch dreißig Meter weiter zu hören sein.
Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Ich sollte jetzt lieber die Augen zukneifen. Doch ich starre trotzdem wie gebannt auf die Tür.
Als sie sich öffnet, halte ich unweigerlich die Luft an.
Der Mann, der nach draußen tritt, trägt ein zerknittertes T-Shirt und eine alte Jogginghose. Seine Augen scheinen von dunklen Ringen umgeben zu sein, das lebhafte Funkeln in ihnen verebbt, dunkle Bartstoppeln verdecken den sonst so sanft braunen Teint seiner Haut. Mein Herz macht einen Sprung, aber ich kann mich nicht rühren.
Shawn blickt sich verwundert um und entdeckt schließlich den Teddy. Er hebt ihn auf und betrachtet ihn nachdenklich.
"Sarah?" In seiner Stimme schwingt ein Funke von Hoffnung.
Ich schnappe wie ein Asthmakranker nach Luft, als ich meinen Namen höre und kralle mich in die Äste des Busches. Natürlich bringe ich jetzt kein Wort hervor und aus dem Schutz des Busches heraustreten... - no way.
Da ich kaum zu überhören bin, ist es nicht verwunderlich, dass Shawn die Augenbrauen hebt und aufmerksam in meine Richtung blickt.
"Versau das jetzt nur nicht", denke ich mir, und kann mich immer noch keinen Schritt bewegen.
"Sarah? Bist du das?" Er streckt sich, um besser sehen zu können und kommt dann tatsächlich direkt auf mich zu. Ich verstärke den Griff um die Äste und sie knacken laut.
Er bleibt stehen, als er mich sieht und ich frage mich, ob es bescheuert aussieht, wie ich den Busch foltere.
"Hey, Teddy." Es ist doch eigentlich so einfach die Kontrolle über sich wieder zu erlangen.
"Und ich hätte dich fast nicht gefunden", antwortet er.
"Alles meine Schuld", erwidere ich und gehe endlich auf ihn zu.
Und als er mich in die Arme nimmt, beginne ich mich wie in einem Traum zu fühlen - einem wunderschönen Traum.

... the only thing I ever saw, was you.

The End

Copyright by Mes Calinum, April 2003

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Mes Calinischer Surrealismus gepaart mit logischer Irrealität und einem guten Schuss Herzweh, das runtergeht wie ein Glas guten, schweren Sherrys.
Wehe du hättest die beiden zum Schluss nicht zusammenkommen lassen! *drohend-guck* *g*
Nun frage ich mich natürlich, was das mit dem Spiegel war. Ein Traum? Eine Halluzination? Ist Sarah eine multiple Persönlichkeit?
Wie immer wird es darauf keine befriedigende Anwort geben. Man kennt deine Schreibe ja inzwischen. Du servierst keine fertigen Menüs. Du verschenkst kleine Pflanzen. So man sie mit dem "Wasser des Lesens" gießt, beginnen sie zu wachsen und wuchern bei jedem Leser woanders hin. Nicht jedermanns Sache, aber sehr interessant, wenn man den Einheitsbrei leid ist.
Und: Ist es denn SO wichtig, auf jede Frage eine exakte Antwort zu kennen? Auch gelegentliches Nicht-Wissen verleiht unserem Leben bisweilen eine ge"wisse" Würze.
Hat mir gefallen, deine Geschichte. Du musst eine unglaubliche und wundervolle Phantasie haben.
VPZ (V olle P unkt Z ahl)


Stefan Steinmetz (02.06.2003)

Danke Gaga!
Also die virtuelle Welt hat nichts mit meinem Namen zu tun. *g* Eigentlich geht es hier viel mehr um Wahrnehmung und Alltag.
Deswegen möchte ich auch jedem Leser einen Raum für eigenen Interpretation lassen.
Und der Freizeitler hat Liebeskummer, deswegen ist er so unrasiert. Ungepflegtheit ist eine Begleiterscheinung bei starken melancholischen Zuständen. *g*
Was den Psychologen angeht, bin ich mittlerweile zu dem Entschluss gekommen, dass ich die Sitzung nochmal überarbeiten werde, wenn ich mir darüber einig bin, wie ich dessen Rolle noch etwas intensiver gestalten kann.

Und Danke für die Kommentare natürlich. :)


Mes Calinum (29.04.2003)

Hallo Mes Calinum,
vielleicht liegt es auch am Namen der Autorin, dass der Spiegel eine andere Welt bietet.
So weit hat sich die Geschichte gut lesen lassen. Aber ? lass mich mal eine Brücke bauen: Eine zwischen der echten und der virtuellen (meskalinischen) Welt.
Diese Person, die sie hinter dem Spiegel trifft, ist das eine Zufallsbekanntschaft aus dem Bus oder aus der Bahn, ein Arbeitskollege, der ihr Avancen macht, und sie versucht mit Hilfe des Spiegels ? mit dem sie Einblick in die Tiefen ihrer Gefühle zu bekommen versucht - alles zu durchleuchten und stellt sich vor wie es mit ihm sein könnte? Und dann bekommt er ihre Adresse raus und sie muss sich endlich entscheiden: Will sie, oder will sie nicht? Bliebe dann nur noch die Rolle des Psychiaters zu klären. Sie ist unentschlossen und schaltet das Über-Ich ein. Den, der den Schalter für ja oder nein betätigen soll, der ihr die Entscheidung abnehmen soll, der bessere Vater, der, der eine gute Mutter sein soll. Der kommt zu kurz. Hier bietet sich an das ?Wenn und Aber? besser zu durchleuchten.
Übrigens: Nicht alle Freizeitler laufen unrasiert und im Trainingsanzug rum. Das ist ein Klischee! Das muss doch mal gesagt werden! Für diese Frechheit ziehe ich dir einen zehntel Punkt ab!
Gruß


Gaga (27.04.2003)

Pardon...wieder die Wertung vergessen

5 Punkte

Lies


Lies (24.04.2003)

Hallo

Mir gefällt die Geschichte sehr.
Ich ging zwar auf die Suche nach einer unterschwelligen Bedeutung, einem pschologisch aufgebauten Blick in die Beziehungsfähigkeit einer jungen Frau, aber so tiefgründig ist es vielleicht gar nicht beabsichtigt.

Zum Schluss habe ich einfach akzeptiert was da steht. Frau erträumt sich ihren Mister Perfekt und glaubt nicht unbedingt daran, dass sie ihn auch in der Realität gefunden hat.

Aber wenn dann Gefühle von Wärme und Geborgenheit auf der einen Seite und Verlustangst auf der anderen Seite ins Spiel kommen, dann helfen Pillen nicht mehr, man muss es wagen...und SIE hats gewagt.
Schön, gern gelesen.

Gruss Lies


Lies (24.04.2003)

Hi Mes,

diese überarbeitete Fassung gefällt mir gut, hast die kleine Schwachstellen gut ausgebügelt.
Aber der Psychodoc lenkt für meinen Geschmack immer noch etwas zu schnell ein, da könntest du noch etwas mehr Konfliktstoff rausholen.
Sie könnte z.B. erst nach der zweiten oder dritten Sitzung ihre Pillen bekommen, aber muss auch nicht sein.
Die Story ist schon gut so wie sie ist und etwas Wirrnis für den Leser ist auch erhalten geblieben*g*
Ich gebe gute 4.5 Punkte, wegen dem zu einsichtigen Seelenklempner, sind also runde 5 Punkte insgesamt.
Gruß


Drachenlord (22.04.2003)

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