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Der Regenschirm

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
„Sie ist nicht dumm, ihre Tochter, ganz und gar nicht, sie ist nur unkonzentriert.“ Der Lehrer hat die Mutter kommen lassen, nach vier Uhr, nach Schulschluss.
„Wenn sie so weiter macht, wird sie den Anschluss verpassen, das wollen wir doch beide nicht.“
Nein, natürlich will das die Mutter nicht.
„Sie kommt mir manchmal vor, wie wenn sie unsichtbare Augenlider schliessen könnte und dann einfach nicht mehr ansprechbar ist.“
Das ist ja furchtbar, denkt die Mutter, mein Mädchen, mein aufgewecktes Mädchen. Was soll sie nur sagen, was soll sie nur tun?

Die kleine Tochter wartet im langen Gang des Schulhauses, zwischen den vielen Kleiderhaken die alle ganz leer sind. Nur weit vorne hängt ein vergessener Regenschirm mit rosa Tupfen, rosa Tupfen auf blassblauem Grund. Wie schön er ist, denkt das Mädchen, einen solchen Schirm würde sie sicher niemals in der Schule vergessen. Wie rosa Ballone sehen die Punkte aus, rosa Ballone am blauen Himmel.
Sie könnte sich einen dieser Ballone angeln, könnte sich festhalten und sich in den blauen Himmel tragen lassen. Weit weg und immer höher, über den See und die verschneiten Berge, und hinter den Bergen ein fernes Land in dem sie landen würde, im Land hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen mitten auf einer Wiese im dunkelgrünen Wald…

Die Türe zum Schulzimmer geht auf, der Lehrer verabschiedet sich mit mahnendem Blick von der Mutter.
Hoffentlich schimpft sie nicht, denkt das Mädchen, das nicht weiss, was es falsch gemacht hat. Aber die Mutter schimpft nicht, sie hält das Kind fest mit ihrer warmen Hand und verlässt das Schulhaus mit raschen Schritten.
 
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Kommentare  

Sehr schön geschrieben. Trotz der Kürze entstehen ganz viele Gefühle...

Daniel Freedom (18.08.2017)

Himmel, ich kann fühlen, wie einsam sich die Tochter fühlt, fast treibt sie mir Tränen in die Augen. Das hast du sehr gut hinbekommen.

Frank Bao Carter (12.08.2017)

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