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2 Seiten

Der Traum

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
An sich war er nicht auffallend gewesen, der Traum. Im Gegenteil, er fügte sich in eine ganze Traumreihe ein, die er seit Jahren in vielen Variationen träumte und die er für sich "meine Bahnhof-Träume" nannte. Er war überzeugt davon, dass Träume nicht ohne Bedeutung sind, und die Bahnhof-Träume gaben ihm oft Anlass, über seine Befindlichkeit nachzudenken. Über all die Züge, die er mühsam und oft vergeblich gesucht hatte, die schon abgefahren waren, oder die er gerade noch erwischt hatte.
„Ich habe von Bruno geträumt“, sagte er am Frühstückstisch zu seiner Frau. Er war ein intensiver Träumer, der sich mit allen Details an seine Träume erinnern konnte. Manchmal erzählte er sie mitten in der Nacht und seine Frau hörte ihm dabei im Halbschlaf zu. Dann mussten beide meist Lachen über die absurden Geschichten, die aus seinem Unterbewusstsein auftauchten. Immer wieder war er aufs Neue verwundert über diese Gabe in seinem Inneren, aus den verschiedensten Bruchstücken von Bildern, wie in einem Kaleidoskop, ein phantastisches neues Bild zu gestalten, das er im wachen Zustand niemals so hätte erfinden können.
„Ich habe von Bruno geträumt“, sagte er also an diesem Morgen. „Wir waren zusammen auf dem Bahnhof und sahen auf der Abfahrtstafel, dass sein Zug gleich abfahren würde. Wir hatten nicht einmal mehr Zeit uns richtig zu verabschieden, Bruno verschwand ganz plötzlich auf der Treppe zu den Geleisen.“
Er hatte Bruno an der letzten Klassenzusammenkunft wieder gesehen, sie waren in der Primarschulzeit enge Freunde gewesen. Und nach dem sie sich mehr als ein halbes Leben lang aus den Augen verloren hatten, war da bei dem Zusammen-treffen gleich wieder eine intensive Nähe spürbar gewesen. Bruno hatte von einer gerade überstandenen Krankheit gesprochen, „aber das erzähle ich dir ein ander mal, nicht jetzt, nicht hier.“ Sie hatten einander versprochen sich bald wiederzusehen, jetzt nach der Pensionierung, wo sie ja viel Zeit hatten. Das war vor einem halben Jahr gewesen.
„Ich werde Bruno morgen einmal anrufen um etwas abzumachen“, sagte er zu seiner Frau. „Das sagst du schon lange, tu es doch“, antwortete sie. Am nächsten Tag verschob er den Anruf nochmals - und als er am übernächsten Tag einen Briefumschlag mit dunklem Streifen aus dem Kasten zog, glaubte er, ohne ihn zu öffnen, schon zu wissen, was ihn erwartete. Er sah Bruno in seinem Traum, wie er verschwand, ohne dass sie sich richtig verabschiedet hatten. Ein Kribbeln stieg vom Nacken her unter seiner Schädeldecke hoch, als er den Umschlag öffnete.
Die Todesanzeige gab das Ableben einer früheren Nachbarin bekannt. „Frau Brunner ist gestorben“, mit einem erleichterten Seufzer schob er das sorgfältig gestaltete Blatt über den Tisch zu seiner Frau.
Er stand auf. „Jetzt rufe ich Bruno an, jetzt gleich.“
 
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